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»Was ist hier los?«
»Anna hat mir eben gesagt, dass sie nicht fahren wird. Ich werde dann wohl auch hier bleiben.«
»Doch, du wirst fahren!«, wiederholte Anna ihren Einwand und sah ihre Freundin ärgerlich an. »All das hat nichts mit dir zu tun.«
Annas Vater schien augenblicklich zu begreifen.
»Anna, deine Mutter ist manchmal ziemlich ... Wie soll ich es sagen? Ach, du weißt es ja selbst. Aber eigentlich meint sie es nicht so.«
»Doch, das tut sie. Immer. Und deshalb werde ich Linda nicht allein mit ihr lassen.«
Annas Vater nickte, er schien seine Tochter zu verstehen, auch wenn er wohl nicht solch harte Worte gewählt hätte.
»Und wenn ich dir verspreche, dass ich mich um Linda kümmern werde?
Ich habe mir extra zwei Wochen Urlaub genommen. Linda liebt mich und ich liebe sie. Wir werden zwei herrliche Wochen miteinander verbringen.«
Als wollte Linda seine Worte bestärken, zog sie an seinem Hosenbein und lachte ihn mit der Unbeschwertheit eines kleinen Kindes an.
Augenblicklich bröckelte Annas Widerstand, versandete in den glücklichen Augen ihrer Tochter. Bernsteinfarben. Manuels Augen, die sie immer an ihn erinnern würden.
Sie wusste sogleich, sie würde diese Reise nun doch machen. Als Abschied.
Und als Neubeginn.
»Also gut. Aber wir werden jeden Tag miteinander telefonieren ... zumindest eine, zwei oder drei SMS schreiben.«
»Wie du möchtest.«
Wie du möchtest, wiederholte Anna stumm. Im Kopf. Mehr musste er nicht sagen, mehr war nicht nötig. Ihr Vater war die ausgleichende Kraft in der Familie. Schon immer gewesen. Dafür liebte sie ihn. Eilends ging sie die zwei Schritte auf ihn zu und umarmte ihn.
»Danke, Papa.«
Hedda stand ein wenig abseits. Eine Träne lief ihr leise über die Wange. Eine Träne der Freude.
4
Endlich waren sie im Flugzeug nach Miami. Dieses Mal saß Anna am Fenster. Auf dem Flug von München nach New York hatte sie den Mittelplatz innegehabt. Rechts neben ihr hatte ein Geschäftsmann gesessen. Zurückhaltend. Freundlich. Er hatte erst die ›Süddeutsche‹ ausgelesen und sich dann in irgendwelchen Akten vergraben. Wortlos hatte er ihr die gemeinsame Armlehne überlassen.
Hedda hatte nicht so viel Glück. Neben ihr setzte sich ein Amerikaner. Sehr vollschlank. Sein Alter konnten sie nicht schätzen. Vielleicht war er zwanzig, vielleicht auch vierzig. Ein buntes Hemd und eine braune Bermudashorts sollten Sportlichkeit vermitteln, doch der massige Körper sprach dagegen. Und rücksichtslos okkupierte er die gemeinsame Armlehne.
Anna sah ihre Freundin mitfühlend an. Leise flüsterte sie ihr ins Ohr:
»Sollen wir tauschen?«
»Unsinn. Sieh mal, da ist ja wieder unser ›Seemann‹!«
Beide sahen den Fremden, den ›Seemann‹, der sich setzte, augenblicklich mit lächelnden Augen an. Schon in München war er ihnen aufgefallen. Blauweiß gestreiftes T-Shirt, quer gestreift, mit einem roten Anker auf der linken Brust. Ein gewaltiger Rucksack, den er bei sich hatte, schien fast leer zu sein. Wie er den wohl als Handgepäck durch die Kontrolle bekommen hatte? Vielleicht hatte ihm seine sympathisch unbeholfene Art dabei geholfen. Ein Terrorist? Unsinn! Ein großer Junge, der auf Reisen geht.
Wieder saß er drei Reihen vor ihnen. Wieder war bald nur noch sein blonder Haarschopf zu sehen, der sich unaufgeregt an den Sesselrücken lehnte. Wieder lächelten die beiden Freundinnen, senkten die Köpfe und begannen herzhaft zu lachen. Der Amerikaner, rechts neben Hedda, sah die beiden jungen Frauen verwundert an. Doch nur einen kurzen Moment, dann öffnete er eine Tüte und holte einen ersten Donut heraus, biss herzhaft hinein und begann in einem eBook-Reader zu lesen.
Der Flug verlief ruhig, fast ein wenig langweilig. Hedda beugte sich immer wieder über Anna, um aus dem Fenster zu sehen.
»Kein Schiff in Sicht«, sagte Anna beim letzten Mal und belächelte ihre Freundin. Ein wenig.
»Aber wir müssen doch bald da sein, oder?«
Anna sah zur Uhr.
»Noch etwa vierzig Minuten.«
Von Minute zu Minute wuchs unverkennbar die Aufregung. Wieder setzte sich Hedda aufrecht hin und betrachtete blicklos den Vordersitz.
»Wie wohl das Schiff aussieht? Und was für Kerle da auf uns warten?«
Wieder lächelte Anna.
»Vielleicht solche Typen wie dein Nachbar?«
Entsetzt sah Hedda sie an. Glücklicherweise schien er sie nicht zu verstehen.
»Mach keine Witze, Anna.«
Anna lachte und ihr ihr Blick fiel auf den blonden Haarschopf, der sich, drei Reihen vor ihr, von links nach rechts gedreht hatte.
»Oder so Typen wie unser ›Seemann‹?«
»Oh Gott, Anna. Ich weiß nicht, was schlimmer wäre.«
Nun sah Anna ihre Freundin an. Das Lachen war ein wenig verschwunden.
»Was erwartest du eigentlich?«
»Meinen Traumprinzen.«
Diese knappe Antwort verblüffte Anna. Meinen Traumprinzen. Unterschiedlicher konnten die beiden Freundinnen nicht sein. Anna erwartete nichts. Eigentlich wollte sie die zwei Wochen so geschwind wie möglich hinter sich bringen und wieder nach Hause. Zu ihrer Linda.
»Und was erwartest du?«
»Nichts!«
»Ach komm, Anna. Nicht doch den Dreißigjährigen, der toll aussieht und dir alles bieten kann?«
»Träum weiter, Hedda. Diese Typen warten ganz sicher nicht auf uns.«
»Anna, mach dich nicht kleiner, als du bist. Du siehst gut aus. Und wenn uns erst einmal zwei Tage lang die Sonne geküsst hat, dann sehen wir zum Anbeißen aus. Die Kerle ... wir werden uns vor Angeboten kaum retten können.«
Anna schüttelte den Kopf.
»Ich will das nicht, Hedda.«
Erst skeptisch und schließlich provozierend sah Hedda ihre Freundin an.
»Was willst du dann? Wie sollte dein Traumprinz aussehen?«
Hedda wusste, dass sie damit fast ein wenig zu weit gegangen war. Aber Manuel war seit acht Monaten tot. Das war Fakt. Wurde es da nicht langsam Zeit, nach vorn zu blicken? Aus ihrer Sicht schon, doch sie hatte noch nie einen solchen Verlust erleiden und verschmerzen müssen.
Anna blieb ruhig und spielte mit.
»Meinen Traumprinzen gibt es nicht«, antwortete sie und blickte dabei aus dem Fenster.
»Anna, sei mir nicht böse, wenn ich jetzt einmal direkt und offen werde.
Manuel ist seit acht Monaten tot. Sein Tod ist schrecklich. Und ich wünschte, ganz aufrichtig ... du würdest jetzt mit ihm hier sitzen. Aber ... er ist tot. Und dein Leben geht weiter.
Anna, du bist jetzt vierundzwanzig. Deine Tochter ist zwei Jahre. Du kannst dich nicht vergraben. Fang wieder an zu leben. Ganz langsam. Jetzt. Hier und heute. Schnapp dir auf dem Schiff einen Kerl und amüsiere dich.
Du lebst!«
Stille trat ein.
Anna blickte aus dem Fenster. In eine große blaue Leere. Und schließlich räusperte sie sich.
»Du hast ja recht. Ich muss auch an Linda denken. Einen Trauerkloß als Mutter hat sie wirklich nicht verdient.«
»Genau! So gefällst du mir.«
Und beide lachten.
»Also«, begann Hedda erneut, »wie sieht dein Traumprinz aus?«
Anna überlegte nicht lange, sie hatte die Antwort schon seit Wochen parat, sie hatte ihre Entscheidung längst getroffen. Unumstößlich. Traumprinz? Den gab es nicht.
»Mitte fünfzig. Verheiratet. Eigene Kinder. Und er hat maximal zwei Mal in der Woche Zeit für mich. Und Kinder will er keine mehr.«
Hedda glaubte nicht, was sie da hörte. War das wirklich ihre Freundin Anna, die sie seit zehn Jahren kannte?
»Du ... du verarschst mich, oder?«
»Nein. Ganz sicher nicht.«
Hedda schüttelte den Kopf.
»Du willst ein, zwei Mal in der Woche mit einem verheirateten Mann vögeln und das reicht dir?«
»Alle zwei, drei oder vier Wochen würde es mir auch reichen.«
»Oh, fuck! Fuck! Fuck!«
Als wären die letzten Worte Weckrufe gewesen, blickte der Amerikaner von seinem eBook-Reader auf und schien zu hoffen, ... zu glauben, dass die Unterhaltung hier neben ihm wohl interessanter war als der Inhalt seines Buches. Doch war wohl ›fuck‹ das einzige Wort, das er verstanden hatte.
Hedda drehte ihm den Rücken zu und sagte ... sehr, sehr leise: »Anna, du hast noch nicht einmal die Hälfte deines Lebens hinter dir. Ich glaube dir nicht, was du da eben gesagt hast.«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Und wenn der Richtige vor dir steht? ... Der, der dich liebt? ... Der, den du ... mehr als nur magst? ... Der, der Linda liebt? ... Der, der mit dir eine Familie ...?«
»Hör auf, Hedda. Vielleicht ist das mit dem Fünfundfünfzigjährigen ein wenig übertrieben. Aber eines ist sicher. Weitere Kinder will ich nicht. Ganz sicher nicht. Und deshalb kommt auch kein Mann in meinem Alter für mich infrage. Nie!«
Sprachlos sah Hedda ihre Freundin an und schien augenblicklich zu wissen, dass ihre Worte kein Scherz waren. So wollte Anna wohl tatsächlich ihr weiteres Leben verwirklichen. Irgendwann einmal oder vielleicht schon auf dem Schiff? An der Seite eines verheirateten Mannes?
Wie schrecklich!
Irritiert lehnte sich Hedda wieder in ihren Sitz und blickte gedankenverloren auf den eBook-Reader des vollschlanken Amerikaners. Anzüglich lächelte der sie an, doch das sah sie nicht. Zu seinem Glück. Denn Hedda war nicht auf den Mund gefallen. Auch wenn er sie nicht verstanden hätte, so wäre er ganz sicher durch ihre Worte ... durch ihre Blicke armselig und ängstlich in seinem Sitz verschwunden.
Anna schaute wieder aus dem Fenster. Weiße dünne Wolken lagen bewegungslos unter ihr, in weiter Entfernung flog ein Flugzeug in die Gegenrichtung. Alles war still.
Ja, dachte sie, so wird mein Leben aussehen. So und nicht anders. Vielleicht ein verheirateter Mann, vielleicht auch niemand. Sie war ja nicht allein. Sie hatte Linda, die sie noch Jahre brauchen würde. Und das war gut so.
Und doch ... eine Träne drängte nach vorn, aber sie ließ sie nicht los.
Minuten später begann der Landeanflug. Unruhe erfüllte die Kabine. Kissen, Jacken und Bücher wurden verstaut. Die Sicherheitsgurte mussten geschlossen werden. Man machte sich für Miami bereit.
Ohne Anna anzusehen, nahm Hedda die Hand ihrer Freundin und drückte sie. Ich bin bei dir. Ich bin deine Freundin, schien das zu heißen.
Nun floss doch diese einzelne Träne ... und eine zweite folgte.
5
»Shit, weit und breit kein freier Kofferkuli. Alle Wagen sind belegt.«
Hedda kam zurück und hob resigniert die Hände. Anna hatte am Gepäckband mit den vier schweren Koffern gewartet.
»Und jetzt?«
»Zum Taxi schleppen ... Was sonst. Shit!«
Sie gingen los.
»Darf ich behilflich sein?«
Eine Stimme hinter ihnen. Nett und jung, aufrichtig und warm.
Sie drehten sich um. Der ›Seemann‹.
Er schob einen Kofferkuli vor sich her. Der nahezu leere Rucksack und ein Seesack lagen ein wenig verloren auf dem geräumigen Wagen.
Die beiden Freundinnen überlegten nicht lange und ließen die Koffer fallen.
»Gern«, sagte Anna. Und beide sahen zu, wie er mit Schwung und Leichtigkeit die vier Koffer auf dem Wagen verstaute.
»Und? Wo soll es hingehen?«
Von Nahem betrachtet, sieht er eigentlich ganz gut aus, dachte Anna. Und er ist nett.
»Wir brauchen ein Taxi«, sagte Hedda und blickte sich suchend um.
»Da!« Sie zeigte auf ein Hinweisschild und ging los.
Der ›Seemann‹ trottete hinter ihr her.
Anna lächelte. Innerlich. Irgendwie war es süß von ihm. Und er war so klaglos.
So durchquerten sie die Ankunftshalle. Anna ging wortlos neben ihm und beide folgten Hedda, die eine Ahnung davon zu haben schien, wo man ein Taxi finden konnte.
Und tatsächlich, ohne erkennbare Umwege gegangen zu sein, erreichten sie den Taxistand.
»Und? Wo müsst ihr hin?«
Augenblicklich sah Hedda ihn misstrauisch an. Was will der von uns?, schien sie zu denken. Doch rasch verzog sich das Misstrauen wieder und sie lächelte. Kein Kerl wird sich in München in ein Flugzeug setzen, um zwei Frauen in Miami ... am Taxistand ... anzubaggern. Das war sinnfrei.
Anna hatte diesen Gedanken von Anfang an absurd gefunden. Der ›Seemann‹ war einfach nur nett. Und gleich wird er sowieso aus unserem Leben verschwinden, dachte sie und sagte: »Zum Hafen.«
»Das passt. Da muss ich auch hin.«
Die beiden Freundinnen sahen ihn verwundert an und wie aus einem Mund kam ihre Frage: »Bist du wirklich Seemann?«
»Wie ... Seemann?!«
Prustend begannen sie, zu lachen. Erst die beiden Freundinnen und schließlich lachte er mit. Obwohl er überhaupt nicht wissen konnte, worüber sie lachten. Aber er schien Humor zu haben, und das machte ihn sympathisch.
»Ich will zur ›Sealove‹«, sagte er und begann die Koffer im Taxi zu verstauen.
Das kann doch nicht sein, dachte Anna und sah ihre Freundin an. Hedda schien genauso erstaunt.
»Was willst du auf der ›Sealove‹, wenn du kein Matrose bist? Das ist ein Luxusschiff.«
»Urlaub machen«, sagte er wie selbstverständlich und blickte an sich herunter. »Oder ... stimmt mit mir irgendwas nicht?«
Hedda konnte ihren Mund nicht halten.
»Du bist schon okay. Aber ich wusste gar nicht, dass man dort auch Hängematten buchen kann.«
»Hängematten nicht, aber kleine enge Innenkabinen. Doch das macht mir nichts, da bin ich sowieso nur zum Schlafen.«
»Das werden aber einsame Nächte.«
»Jetzt reicht es«, sagte Anna und reichte dem ›Seemann‘‹ die Hand. Er war freundlich gewesen und hatte diesen Spott nicht verdient, auch wenn er selbst viel dazu beigetragen hat. Vielleicht unabsichtlich, vielleicht aber auch nicht, dann hatte er es faustdick hinter den Ohren. Aber das interessierte sie nicht, denn ... er interessierte sie nicht.
»Ich bin Anna. Und dieses vorlaute Weib ist meine Freundin Hedda.«
Lächelnd sah er Anna an.
»Michael. Und was habt ihr gebucht?«
»Luxuskabine«, sagte Hedda, während sie ins Taxi stieg.
Anerkennend nickte Michael.
»Luxuskabine. Hört sich toll an.«
Er öffnete die linke hintere Tür und ließ Anna einsteigen. Diese Geste war nur eine Kleinigkeit, doch diese Höflichkeit, die selbstverständlich für ihn zu sein schien, imponierte Anna. Sehr.
Schließlich saßen sie im Taxi.
»Darf ich mir erlauben, die Luxusklasse zu dieser Taxifahrt einzuladen?«
»Brauchst du nicht«, sagte Hedda. »Im Gegenteil, wir laden dich ein.«
Jetzt reichte es Anna.
»Wir haben diese Kreuzfahrt in einem Preisausschreiben ... Aua! Was ist denn los, Hedda?«
Hedda hatte ihr in den Oberschenkel gekniffen.
Jetzt lächelte Michael und Hedda sah ihn böse an. Aber geschwind hob er abwehrend die Hände.
»Von mir erfährt niemand etwas. Wenn ihr es so wollt.«
»Ach, Unsinn«, sagte Anna.
Doch die fröhlich gelöste Stimmung hatte das Taxi verlassen.
6
»Du willst was?«
Die Freude über das Wiedersehen hatte ganze zwölf Minuten angedauert. Obwohl sie mit aberwitzigen Merkwürdigkeiten ihres Sohnes gerechnet hatten - kein Wort über Nora ... generell kein Wort über Frauen, über Beziehungen ... kein Wort über seine berufliche Zukunft ... keine Diskussion über Äußerlichkeiten -, hatte er sie doch wieder überrascht.
»Du willst eine Innenkabine?«
Sein Vater schüttelte den Kopf, doch Michael ließ nicht mit sich reden.
Er wusste nicht, warum er das mit der Innenkabine vor Anna und Hedda behauptet hatte, es war einfach so gesagt. »Innenkabine!«
Vielleicht passte das zu dem Bild, das sie von ihm hatten, und das er bereit war, auf dieser Reise zu leben. »Bist du tatsächlich Seemann?«, hieß dann wohl auch, dass er ihnen schon vorher aufgefallen sein musste. Er hatte sie nicht wahrgenommen, leider. Vielleicht wäre der Flug dann nicht so langweilig gewesen.
Wieder dachte er an Anna. An diese Augen, die so ... so verletzt wirkten. Und leidvoll. Irgendwas oder irgendwer musste ihr etwas Schreckliches angetan haben. Etwas sehr Schreckliches. Doch bei aller Verletztheit wirkte sie auch ... stark. Selbstbewusst.
Beeindruckend!
Seit er die beiden Freundinnen auf dem Flughafen angesprochen hatte, waren die Gedanken an Nora weit nach hinten gerückt. Was für ein herrliches Gefühl. Seine Gedanken kreisten nur noch um Anna. Seine Gedanken, nicht seine Gefühle. Das wunderte ihn, denn die Gedanken an Anna taten ihm gut. Sehr gut. Doch mehr interessierte ihn jetzt nicht.
Ganz sicher würde er Anna immer wieder auf dem Schiff begegnen. Vielleicht auch mit ihr reden. Zumindest hoffte er das. Und deshalb brauchte er unbedingt diese Innenkabine. Keine Luxuskabine, keine Lüge. Diese Innenkabine passte einfach viel besser zu diesem ›Seemann‹. Obwohl das natürlich die wirkliche Lüge war - die er noch bereuen sollte.
Michaels Vater schüttelte den Kopf, lief aufgeregt durch die Suite, hinaus auf den Balkon und blickte über das Heck des Schiffes in den Hafen. Er konnte sich nicht beruhigen.
Seine Mutter lächelte schon wieder.
»Jetzt reg dich wieder ab, Hendrik«, rief sie ihrem Mann zu, der noch immer, festgekrallt an der Balkonbrüstung, über das Hafengelände blickte.
»Der Kapitän wird gleich hier sein. Mal sehen, was sich da machen lässt.«
Augenblicklich gab Michael seiner Mutter das Lächeln zurück, das sie so sehr an ihm liebte, das sie mit Mutterstolz erfüllte. Er ging zu ihr hin und küsste sie auf die Wange.
»Mama, ich wusste, du verstehst mich.«
»Da überschätzt du mich. Ich verstehe es nicht, aber wenn du diese Innenkabine brauchst, dann wirst du deine Gründe haben. Um eines bitte ich dich aber: Am vorletzten Abend wirst du mit uns unseren Hochzeitstag feiern, sonst bin ich -«
»Versprochen, Mama, versprochen«, unterbrach er sie. Es hatte eben geklopft. Michael ging hinüber, öffnete die Tür und ließ den Kapitän eintreten.
Die Begrüßung war herzlich. Michaels Vater beruhigte sich langsam und kam wieder in die Suite.
Seine Eltern und der Kapitän kannten sich von drei oder vier Kreuzfahrten und von zwei Schiffseinweihungen auf der Reederei. Der Schiffseigner war ein guter Freund seiner Eltern und würde, genauso wie der Kapitän, an dem kleinen Fest, zu Ehren ihres Hochzeitstages, teilnehmen.
»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
Der Kapitän sah sich um. Den Passagieren in den zwei Suiten fehlte es tatsächlich an nichts. Ein Wohnraum, zwei Schlafräume, ein WC und zwei Bäder mit Dusche und Doppelwanne. Eine Pantryküche und ein geräumiges Entree rundeten die exklusive Ausstattung ab. Täglich frische Blumen, frisches Obst und Getränke nach Wahl, waren Teil des Services, über den niemand ausdrücklich ein Wort verlor. Außerdem lagen in einem Weinkühlschrank, der auf Anweisung des Schiffseigners für diese Reise in diese Suite eingebaut worden war, sechs Flaschen Gevrey-Chambertin 1er-cru ›Les Corbeaux‹ 2005 und sechs Flaschen Chablis 1er-cru ›Montée de Torrenne‹ 2010. Seinem Freund Hendrik sollte es an nichts fehlen.
Und doch ... durchwanderte Hendrik augenblicklich wieder unglücklich, resigniert und sprachlos die Suite. Es schien, als würde er seinen Sohn nicht verstehen und es schien auch, als hätte er es aufgegeben, ihn jemals verstehen zu können.
»Hier ist alles bestens«, begann Kamilla Eschbronn schließlich und versuchte, dem Kapitän den exklusiven Wunsch ihres Sohnes nahezubringen. Für ihn war eine Luxuskabine vorgesehen, doch jetzt wünschte er eine bescheidene Innenkabine.
Dem Kapitän eröffnete sich nicht gleich die Problematik mit der Innenkabine, doch als er es begriff, lachte er herzhaft.
»So verrückt sind Männer nur, wenn eine Frau dahintersteckt«, versuchte er Michaels Vater zu beruhigen, der weiterhin sprachlos den Kopf schüttelte. »Aber es tut mir leid. Die Innenkabinen sind ausgebucht.«
Michael war enttäuscht. Er hatte sich das so wunderbar vorgestellt: ›Seemann‹, Innenkabine, fast mittellos.
»Und da lässt sich nichts machen? Immerhin würde ich sie gegen eine Luxuskabine tauschen.«
»Ach, Sie wollen tauschen?! Das hört sich ja ganz anders an. Und Sie sind sich absolut sicher?«
»Ganz sicher.«
»Wer ist diese Frau? Was hat sie an sich?«, fragte der Kapitän und versuchte mit einem Lächeln und mit diesen wenigen Worten, die Spannung aus dem aufgewühlten Universum dieser Suite zu nehmen. Doch niemand reagierte. Und eilends wurde er wieder ernst. »Ein Zurück käm dann aber nicht mehr infrage.«
Michael nickte. Er war entschlossen.
Und flugs war tatsächlich eine Lösung gefunden. Ein frühpensionierter Lehrer, der bereits zwei Kreuzfahrten mitgemacht hatte und dabei stets ein wenig für Probleme mit seinem Kabinenmitbewohner gesorgt hatte, »Vorsichtig ausgedrückt«, wie der Kapitän sagte, würde sicherlich entzückt sein.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Michaels Mutter, augenblicklich entsetzt. »Kabinenmitbewohner?«
Innenkabinen waren auf diesem Schiff immer Zweierkabinen und oft teilten sich zwei fremde Personen eine Kabine, erklärte der Kapitän.
Besorgt sah sie an. Auch wenn ihr Sohn erwachsen war, so blieb er immer ihr Sohn. Und sie immer seine Mutter.
Der Kapitän verstand ohne Worte und nahm ihr die Sorge.
»Aber da hat es eigentlich noch nie Probleme gegeben. Vielleicht mit dem Schnarchen, aber mehr auch nicht.«
Eine Stunde später waren alle Formalitäten erledigt, Michael im Besitz einer Schlüsselkarte für eine Innenkabine und ein frühpensionierter Lehrer im Besitz der absonderlichen Gewissheit, dass es sich eben doch lohnt, immer wieder auf Unzulänglichkeiten aufmerksam zu machen.
Niemand widersprach ihm.
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