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Ziellos lief Christina durch die Straßen von Paris. Ihre Gedanken waren bei dem älteren Künstler und bei ›Pierre dem Deutschen‹ und bei ihrem peinlichen Auftritt ... eben auf dem Künstlermarkt.
Manchmal bist du trotz deiner zweiundzwanzig ein unreifer Teenager, rügte sie sich und versuchte, ihre Haltung zurückzugewinnen. Es gelang ihr nicht. Immer wieder musste sie zur Uhr sehen. Und immer wieder stellte sie sich die Frage: Ob er wohl schon da ist?
Und wieder wuchs ihre Ungeduld. Sie wollte es hinter sich bringen. Sie wollte wissen, was für ein Mensch ›Pierre der Deutsche‹ war. Zumindest auf den ersten Blick. Mehr nicht!
Und doch ... jetzt musste sie sogar über sich selbst lachen. Seit gestern schwirrten ihre Gedanken um einen Menschen, den sie nicht kannte, von dem sie lediglich ein kleines, wunderschönes Bild hatte, das ihr ... und das musste sie zugeben, ... das ihr das Herz geöffnet hatte. Sie hielt es nicht mehr aus, sie wollte ihren Seelenfrieden zurück. Auch wenn der Traum zerplatzen würde.
Christina hob den Kopf, orientierte sich so gut es ging und lief, ohne Umwege, zurück zu dem Künstlermarkt an der Seine.
Sie hatte ihren Weg so gewählt, dass sie schon von Weitem sehen konnte, ob Pierre in der Zwischenzeit seinen Platz eingenommen hatte.
Und tatsächlich, da saß er.
Und, wie sieht er aus?, fragte sie sich sofort. Sie konnte es nicht sehen. Er hatte sich mit dem Rücken zu den Touristen gesetzt und malte. Offensichtlich ein Motiv von der anderen Seite der Seine.
Mit unsicheren Schritten ging sie auf ihn zu. Von dem Gewühl, von dem Gedrängel, von all dem Trubel um sich herum, nahm sie nichts wahr.
Kurz bevor sie Pierre erreicht hatte, drehte er sich um. Er suchte etwas. Eine neue Farbe oder einen anderen Pinsel. Und dabei trafen sich ihre Blicke. Das erste Mal. Christinas Knie wurden weich, sie hatte das Gefühl, sich setzen zu müssen. Doch sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden.
Er war es! Der Künstler aus ihrem Traum. Jung und gutaussehend. Er war es!
Aber konnte so etwas überhaupt sein? Gab es das, dass man einen Menschen im Traum kennenlernt? Und dass man ihn später im wirklichen Leben trifft? Gab es das?
Offensichtlich.
Und auch er blickte sie fortwährend an.
»Kann ich etwas für Sie tun, Mademoiselle?«
Christina blieb stumm. Ihre Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen, betörend, weltvergessend und ungeahnt, wurden wahr, nein!, .... sie wurden übertroffen.
Ein Mann von etwa dreißig Jahren stand vor ihr. Mit ebenmäßigem Gesicht, mit dunklen, fast schwarzen Augen, die sie warm ansahen, mit dunkelblondem Haar, das lang war, und vom Wind getragen, durcheinanderflog, mit einem schlanken, durchtrainierten Körper, der jeder Gefahr trotzen würde. Ungezähmt!, ging es ihr augenblicklich durch den Kopf.
Ungezähmt!
Auf seine Kleidung schien er wenig Wert zu legen: Ein großkariertes Baumwollhemd und eine abgewetzte Jeans waren neben Sandalen, das Einzige, was er trug. Keine Strümpfe, keine Jacke, nicht einmal ein T-Shirt unter dem Baumwollhemd.
Ungezähmt passte ausgezeichnet.
4
Nachdem Christina langsam wieder festen Boden unter ihren Füßen spürte, versuchte sie sich abzulenken und sah sich seine ausgestellten Bilder an. Sie wurde nicht enttäuscht. Wärme, Nähe, Geborgenheit, waren die Gefühle, die in ihr ausgelöst wurden.
Durch die Bilder?
Sie wusste es nicht. Es war ihr auch egal.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, wiederholte Pierre seine Frage. Und noch immer mit diesem Lächeln in den Augen.
»Ich habe bei Monsieur Boulin ein wunderschönes Bild von Ihnen -«
»Ah! Sie sind Kundin von Monsieur Boulin?«, unterbrach er sie. »Diesem Halsabschneider?!«
Und augenblicklich veränderte sich die Stimmung. Die Freundlichkeit wich einer unverhohlenen Unnahbarkeit, geradewegs einer feindseligen Ablehnung.
»Kundin ist vielleicht zu viel gesagt. Ich habe dort lediglich ein Bild von Ihnen erworben«, versuchte Christina sich zu rechtfertigen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab. Monsieur Boulin war nett gewesen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ein ... Nein, das gefiel ihr nicht!
»Warum ist Monsieur Boulin ein Halsabschneider?«
Pierre sah sie ablehnend an.
»Wie viel haben Sie für das Bild bezahlt?«
»Achthundert Euro.«
»Sehen Sie, mir hat er damals, als ich das Geld nötig hatte, ganze zweihundert dafür bezahlt. Das hat kaum die Kosten für Farben und Leinwand gedeckt. Und der soll kein Halsabschneider sein?«
Christina schüttelte den Kopf. Sie wollte dem nicht zustimmen.
»Ich wollte weitere Bilder von Ihnen bei Monsieur Boulin sehen und eventuell auch kaufen. Aber er hatte nur dieses eine von Ihnen. Und ohne zu zögern, sagte er mir, wo ich Sie finden könnte. Ohne dass ich es erwartet hatte. Tut das ein Halsabschneider? Ich denke, wohl kaum.«
Christina hatte sich empört. Ungehemmt.
Warum eigentlich?
Pierre schien das zu imponieren, doch er ging nicht weiter darauf ein. Vielleicht wusste er auch, dass sie recht hatte, und er wollte es einfach nur nicht zugeben.
»Wenn Sie wollen, suchen Sie sich etwas aus. Bei mir zahlen Sie keine achthundert Euro. Hier beim Künstler bekommen Sie die Bilder preiswerter, ... fast geschenkt.«
Seine Worte klangen verächtlich. Und damit war das Gespräch für ihn beendet ... einfach so. Er überprüfte einen Pinsel und beschäftigte sich wieder mit dem angefangenen Bild.
Der Zauber schien vorbei zu sein. Träume sind eben nur Träume. Oder?
Enttäuscht sah sie sich noch einmal die Bilder an, ohne sie wirklich zu sehen. Wut stieg in ihr auf. Das war in ihrem Traum nicht vorgekommen. Diese Arroganz! Alles passte, nur nicht diese Arroganz. Und sie wurde sehr wütend. Und ... sie war verliebt! Augenblicklich und hoffnungslos! Aber davon wollte sie jetzt nichts wissen. Und überhaupt, wie konnten ihr die Gefühle einen solchen Streich spielen? Dieser Mann war durch und durch arrogant. Doch diese Augen ... es war hoffnungslos.
Aber es ging nicht. Sie musste sich ablenken. Vielleicht sollte sie einfach gehen? Sie konnte nicht.
Und so wanderte ihr Blick noch einmal über die Bilder. Schön. Wunderschön. Sie berührten ihre Seele. Ein Ölgemälde, eine Ansicht von Paris, gefiel ihr besonders gut, diese Farben, diese Tiefe. Doch sie hatte jetzt keine Lust, es zu kaufen. Eigentlich wollte nur noch weg, nein, wollte sie nicht. Aber hierbleiben wollte sie auch nicht, konnte sie nicht. Ach, es war zum Verzweifeln. Gleichwohl musste sie noch etwas klarstellen.
»Ich kam her, um ... um ...« Ihr fielen nicht die richtigen Worte ein. Ausgerechnet jetzt! »Ich wollte vielleicht noch ein oder zwei Bilder kaufen und wurde von Ihnen wie die Handlangerin eines Halsabschneiders behandelt«, sagte sie und ärgerte sich augenblicklich über diese törichten Worte.
Er lächelte, ... und er lachte.
»Handlangerin eines Halsabschneiders? ... Es tut mir leid. Falls ich mich im Ton vergriffen haben sollte, verzeihen Sie mir. Bitte!«
Und nun sah er sie noch einmal etwas genauer an. Und sie erinnerte ihn tatsächlich ... an seine Vergangenheit. Der erste Blick hatte nicht gelogen. Doch an diesen Teil seiner Vergangenheit wollte er nicht erinnert werden. Nicht hier. Nicht jetzt. Überhaupt nicht mehr. Er war in Paris, um zu malen. Um zu vergessen.
»Falls Sie nun doch noch die Absicht haben sollten, ein Bild zu kaufen, würde ich mich freuen. Sollten Sie aber kein Interesse mehr an meiner Malerei haben, könnte ich das durchaus verstehen. Es tut mir leid, ich bin untröstlich.«
Nein, so einfach geht das nicht, dachte Christina und hatte seine eben gezeigte Arroganz wieder vor Augen.
»Ich denke, heute werde ich Sie nicht weiter belästigen«, sagte sie und wusste, dass auch diese Worte wieder naiv gewählt waren. Am liebsten wäre sie irgendwo in einem Loch verschwunden ... heute werde ich Sie nicht weiter belästigen ... Was für ein dummer Satz. Sie musste sich beruhigen, einfach nur gehen. Und sie ging. Mit ausladenden Schritten verschwand sie hinter zwei älteren Touristen und verließ den Kunstmarkt.
*
Nachdem sich Christina wieder beruhigt hatte - sie war fast am Hotel angekommen -, ging ihr die letzte Bemerkung noch immer durch den Kopf. Wie kindlich sie doch gewesen war. Und noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, stand plötzlich ihr Vater neben ihr.
»Wo treibst du dich denn den ganzen Tag herum?«
Trotz des Vorwurfs in seiner Stimme freute sie sich, ihn zu sehen.
»Ach Papa, warum sind Menschen nur so, ... so -«
»Unterschiedlich?«, fiel er seiner Tochter ins Wort.
»Ich dachte eher an dumm, oder so etwas.«
Und sie umarmte ihn. Sie liebte ihren Vater, sehr, doch würde sie ihm nichts von ihren aufgewühlten Gefühlen erzählen. Die verstand er nicht. Das würde sich auch nie ändern.
Christina sah ihren Vater an, er wirkte ausnehmend gelassen. Die Geschäfte mussten bislang blendend gelaufen sein, denn beim Geldverdienen verstand er keinen Spaß. Und wenn es nicht so lief, wie er sich das vorstellte, konnte er ganz anders sein, aufbrausend und ... kaltherzig. Das wusste sie und das mochte sie nicht an ihm.
Geld war für ihn das Leben.
»Bleiben wir noch lange in Paris?«, fragte Christina, ohne genau zu wissen, warum sie ausgerechnet jetzt diese Frage gestellt hatte.
»Noch fünf oder sechs Tage. Oder möchtest du wieder nach Hause?«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte sie und wollte sich nicht von einem Traum und einem arroganten Kunstmaler diese schöne Stadt verderben lassen.
Sie hakte sich bei ihrem Vater ein und gemeinsam betraten sie wie zwei unbeschwerte Teenager das Hotel. Hubertus Neuenhofen schmeichelte diese Zuneigung seiner Tochter, sie machte ihn um Jahre jünger. Trotz seiner siebenundfünfzig Jahre besaß er noch genug Elan, um neben seiner Tochter nicht wie ein alter Mann zu wirken.
Euphorisch blickte Christina ihn an.
»Und, was machen wir heute noch?«
»Deine Mutter ist kurz auf dem Zimmer. Was hältst du davon, wenn wir uns umziehen, essen gehen und danach die Stadt unsicher machen?«
»Du meinst so richtig ... mit Cocktails und tanzen und so?«
»Genau, mit Champagner und Cocktails und allem, was du möchtest, mein Schatz.«
»Und was ist mit Mama?«, fragte Christina ein wenig bedrückt. Ihre Mutter hatte nur selten Verständnis für diese Vergnügungen. Sie war stets auf ihren korrekten Ruf, auf ihre tadellose Reputation bedacht. Ein Grund, weshalb Christina wirklich wichtige Dinge nicht mit ihr besprechen konnte. Für Gefühle zeigte ihre Mutter nur selten Verständnis. Aber dafür hatte Christina Hanna, die Haushälterin. Ihre Verbündete in Kehlheim.
Nur leider war Hanna jetzt nicht hier, und so konnte sie nicht mit ihr über diesen Pierre sprechen, über diese schreckliche Arroganz, über ihr Gefühl, im Bauch, im Herzen, ... in ihrer Seele. Und sie deshalb anrufen? Das wollte sie nicht. So wichtig war dieser Pierre nun auch nicht.
So blieb ihr nur die Möglichkeit, sich durch Tanzen und Lachen abzulenken.
»Deine Mutter nehmen wir einfach mit. Sie wird dafür sorgen, dass niemand an unsere Getränke geht, während wir schweißgebadet auf der Tanzfläche kämpfen.«
Christina lachte und drückte sich fester an ihren Vater. So gefiel er ihr. Aber leider er konnte auch ganz anders sein.
Und das sollte sie schon bald erfahren.
»Also in einer Stunde hier unten.«
Sie umarmte ihren Vater, küsste ihn auf die Wange und rannte voller Vorfreude auf ihr Zimmer.
Pierre hatte sie vergessen, zumindest tat sie so.
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