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Der blieb entspannt sitzen und sagte ruhig, mit nicht zu überhörender Schärfe: »Ich komme gleich, Achim. Wartest du bitte draußen?« Wedel machte auf dem Hacken kehrt und schloss die Tür hinter sich etwas zu laut. Adelhofer überging das.
»Frau Langenfels, das tut mir ausgesprochen leid, entschuldigen Sie bitte Herrn Wedels ungebührliches Verhalten. Es ist offenbar wichtig. Dürfte ich Sie kommende Woche anrufen, damit wir unser Gespräch fortsetzen? Bitte seien Sie mir nicht böse.« Er hatte den »Der liebe Bub aus den Bergen«-Blick aufgesetzt, mit dem er offenbar bei den Frauen recht erfolgreich war. Katharina bemerkte das eher amüsiert.
»Auf Wiedersehen, Herr Adelhofer. Ich freue mich auf unser Gespräch nächste Woche. Hoffentlich erwarten Sie keine schlechten Nachrichten.«
Sie bemerkte ein kurzes Aufflackern von Unsicherheit in Adelhofers Gesicht, und schon war Katharina draußen. Der Bodyguard mit Knopf im Ohr stand weiterhin vor der Tür. Ein Stück entfernt telefonierte Achim Wedel. Er war sichtlich nervös, eine gegelte Haarsträhne war ihm ins Gesicht gefallen, er schien es nicht zu bemerken. Katharina nahm sich ein Glas Sekt, das eine Servierdame ihr anbot, und schlenderte durch den Salon. In Hörweite Wedels blieb sie stehen. Er konnte sie nicht sehen, schlemmende Kollegen verdeckten die Sicht.
»Das weiß ich noch nicht, macht lieber einen Plan B … Heute auf keinen Fall … An den Chiemsee, habe ich doch gesagt … Ich habe keine Ahnung, wie lang er dableibt und ich habe auch keine Zeit mehr. Servus.« Wedel winkte nervös Adelhofer zu sich, der inzwischen aus dem Nebenraum gekommen war, und die beiden verschwanden.
Katharina rief Birgit in der Redaktion an. »Schaust du mal, ob du den Rosenheimer Polizeifunk anzapfen kannst? Da muss irgendwas passiert sein. Ich sollte nach Hause, habe ich Svenja und Oliver fest versprochen.«
»Alles klar, Chefin«, kam es gut gelaunt zurück. Dann war die Verbindung unterbrochen und sie wusste, dass ihre Freundin sofort beginnen würde, sich in geheime Netze zu hacken.
Dienstagnachmittag,
Breitbrunn am Chiemsee
Malerisch lag die alte Scheune des Adelhofer-Hofs auf der kleinen Anhöhe inmitten einer saftigen Sommerwiese. Für Touristen war dieser Anblick normalerweise ein begehrtes Fotomotiv, man hatte von hier oben einen wunderbaren Blick auf den Chiemsee und einen Zipfel der Insel Herrenchiemsee. Für die Adelhofers stellte das Gebäude einen überflüssigen Rest der großen landwirtschaftlichen Vergangenheit dar. Ende des 18. Jahrhunderts hatte ein Urahn die Scheune aus Holz gebaut. Einige Hundert Meter vom Hof entfernt wurde hier das Heu der umliegenden Wiesen gelagert – und Generationen von Adelhofers hatten in der romantischen Abgeschiedenheit ihre Unschuld verloren.
Das lag lange zurück, inzwischen stand die Scheune ungenutzt da und wurde in der Regel nur noch von Mäusen und Mücken bewohnt.
Daher bot die Adelhofer-Höhe heute ein ungewohntes Bild. Mehrere Polizeiwagen hatten tiefe Spuren in die Wiese gegraben. Die ganze Scheune war weiträumig abgesperrt. Geduldig schickten Polizeibeamte ein paar Neugierige weg, die von dem Auftrieb auf der Höhe angelockt worden waren. Gesehen hatten den Tatort bislang nur Kriminalhauptkommissarin Nina Obermann, die Spurensicherung und der Streifenpolizist, den die Bereitschaftspolizei hier vorbeigeschickt hatte, nachdem ein Anrufer die Polizei in Prien über das Verschwinden von Lukas Adelhofer informiert hatte. Der Mann hatte die Scheune ins Spiel gebracht, aber angegeben, selbst nicht dort gewesen zu sein. »Des erspar’ ich mir lieber, ich kann mir vorstellen, wie’s da ausschaut.«
Tatsächlich bot sich ein schrecklicher Anblick: Ein Toter lag inmitten einer riesigen Blutlache auf dem Boden. Eine Leiter führte neben dem Toten auf den oberen Scheunenboden. Von dort schien der Mann gefallen oder gesprungen zu sein, aus circa fünf bis sechs Metern, schätzte die Kommissarin. Der Schädel war am Hinterkopf eingedrückt, Hirnmasse war herausgelaufen. Über den Boden verteilt lagen NATO-Draht und Unmengen von Glasscherben, auf denen der Körper offenbar gelandet war. Wie die Unterseite des Toten aussah, mochte sich Nina Obermann lieber nicht vorstellen. Arme und Beine zeigten aberwitzige Verrenkungen, waren vermutlich mehrfach gebrochen. »Sammelt bitte alle Spuren, Fingerabdrücke, Stoffreste, Essensreste, liegen gelassene Tatwaffen, Abschiedsbriefe und so weiter.« Die genervten Blicke der Kollegen von der Spurensicherung verrieten, dass sie sich nicht gerne ihre Arbeit erklären ließen.
Nina Obermann verließ daher lieber die Scheune. Draußen sah sie eine dunkelblaue Limousine die Anhöhe hochrauschen. Sie grub eine weitere Spur in die Wiese und blieb mit quietschenden Reifen direkt vor der Absperrung stehen. Nina Obermann kannte Robert Adelhofer von den Plakaten, mit denen er zurzeit Werbung für sein Buch machte. An denen kam keiner vorbei. Und der Mann, der dynamisch und mit resolutem Gesichtsausdruck aus dem Auto stieg, war tatsächlich derselbe, der von den Litfaßsäulen grinste. Der Fahrer – gegelte Haare, rosa Sakko – blieb sitzen.
»Was ist hier passiert und wieso darf ich nicht in unsere eigene Scheune?«, schnauzte Adelhofer einen Polizeibeamten an, der ihm den Weg versperrte, als er über das rot-weiße Absperrband steigen wollte.
Nina Obermann ging auf Adelhofer zu und reichte ihm die Hand: »Guten Tag, ich bin Nina Obermann, Kriminalpolizei Rosenheim, wer sind Sie?« Adelhofer erstarrte.
»Das ist der Fernsehmoderator und Buchautor Robert Adelhofer und ich bin sein Manager Achim Wedel. Diese Scheune gehört der Familie Adelhofer, er wird wohl diese Wiese betreten dürfen«, mischte sich der Gegelte ein.
Nina Obermann wandte sich dem Mann zu: »Herr Wedel, ich muss Sie bitten, sich aus der Absperrung zu entfernen. Sie können am Wagen auf Herrn Adelhofer warten. Herr Adelhofer, kommen Sie bitte mit.«
Wedel plusterte sich auf – wodurch sich eine unschöne Rotfärbung in seinem fleischigen Gesicht ausbreitete. Eine kurze Handbewegung und ein Kopfnicken Adelhofers Richtung Auto sorgten allerdings sofort dafür, dass der Manager sich zurückzog.
»Wenn mein eigener Bruder hier drin tot liegt, werde ich wohl das Recht haben, ihn zu sehen.« Mit diesen Worten ging Adelhofer Richtung Scheune.
»Herr Adelhofer, ich kann Ihre Aufregung verstehen. Jemand wie Sie ist es nicht gewohnt, dass andere Ihnen sagen, was Sie zu tun und zu lassen haben. In diesem Fall müssen Sie sich damit abfinden. Zunächst möchte ich wissen, wie Sie darauf kommen, dass der Tote dort drin Ihr Bruder ist? Soweit ich informiert bin, hat man Sie in München angerufen und gebeten hierherzukommen, um einen Toten zu identifizieren. Ihre Eltern sahen sich dazu nicht imstande. Sie sagten uns noch, dass Ihr Bruder mit Ihnen auf einer Pressekonferenz in München gewesen sei?«
Die Kommissarin beobachtete, wie für einen Moment Unsicherheit über Adelhofers Gesicht flackerte.
»Ich weiß natürlich nicht, ob der Tote mein Bruder ist. Und ich finde es ungeheuerlich, wie Sie mich indirekt für verdächtig erklären, nur weil ich den berechtigten Verdacht äußere, der Tote könnte mein Bruder sein. Er war nicht mit auf der Pressekonferenz in München, ich dachte, diese Recherchefähigkeit hätte sogar die Kripo Rosenheim«, fügte Adelhofer spitz hinzu. »Ich habe mir bereits den ganzen Tag Sorgen gemacht, wo er bleibt. Dann ist es doch nachvollziehbar, dass ich bei einem solchen Anruf der Polizei denke, es handelt sich um meinen Bruder. Könnten wir dieses Versteckspiel endlich beenden und in die Scheune gehen?«
»Folgen Sie mir«, erwiderte Nina Obermann knapp.
Adelhofer trottete mit verächtlichem Blick hinter der Kommissarin her. Die glänzend schwarzen Schnürschuhe und die Hosenbeine des grauen Designeranzugs wurden zunehmend von kleinen braunen Dreckspritzern bedeckt, die der stampfende Schritt Adelhofers aus den in die Wiese gegrabenen Fahrrillen emporschleuderte.
Bevor sie die Scheune betraten, nötigte die Kommissarin ihn, sich Plastiküberzüge über seine Schuhe zu streifen. Er tat dies widerwillig und ging mit zunehmend erschrockenem Blick über die Glasscherben und den NATO-Draht zur Leiche.
Dort angekommen wurde Robert Adelhofer kreidebleich und nickte nur kurz auf die Frage, ob es sich bei dem Toten um seinen Bruder Lukas Adelhofer handle. Dann drehte er sich um, verließ schnellstmöglich die Scheune und erbrach sich auf die saftige Sommerwiese der Adelhofer-Höhe.
Dienstagabend, München Haidhausen
»Unglaublich. Du hier? 20 Minuten zu früh? Bist du krank? Ist die Pressekonferenz ausgefallen? Hat RG dich endlich gefeuert?«
»Darf ich erst mal in meiner eigenen Wohnung ankommen? Übrigens, entzückend siehst du aus.« Katharina ging mit einem liebevoll-spöttischen Blick auf sein interessantes Outfit an Oliver vorbei in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Mit dem Fahrrad in der Rushhour vom Bayerischen Hof durch die Münchner Innenstadt nach Haidhausen, wo sie wohnte, war kein Vergnügen.
Aber ihre Wohnung war für Münchner Verhältnisse nicht teuer, hatte drei Zimmer, einen kleinen Balkon und lag direkt am Weißenburger Platz, den sie schon als Kind geliebt hatte. Für keinen Job der Welt würde sie diese Wohnung hergeben. Amüsiert betrachtete sie das Treiben in der Küche.
Oliver war mit der Zubereitung von Kartoffelpuffern beschäftigt. »Ich kann nicht kochen und das ist gut so.« Dieser Spruch prangte auf der einzigen in Katharinas Haushalt verfügbaren Schürze und jetzt auf Olivers Bauch. An den Händen trug er dicke Latexhandschuhe, um sich nicht beim Schälen der Kartoffeln zu schneiden. Zu einer Blutvergiftung würde es nicht kommen. Auf dem Kopf – das hatte ihm vermutlich Svenja aufgeschwatzt – saß eine Baseballkappe mit dem Konterfei von Elyas M’Barek. Der Mann, der ansonsten mit seinen intellektuellen Freunden Free-Jazz-Sessions organisierte, ließ sich für Svenja in die Niederungen der Populär-Unterhaltung herab, Katharina schmunzelte: »War’s schön? Wo ist Svenja überhaupt?«
»Die ist zu euren Nachbarinnen gegangen, um Apfelmus auszuleihen. Als sie festgestellt hat, dass ihr keines mehr dahabt, hat sie einen kleinen Tobsuchtsanfall bekommen und ist gleich zur Problemlösung geschritten – ganz die Mutter.« Oliver grinste.
Im selben Moment klingelte es Sturm. Mit einem kleinen Seufzer ging Katharina zur Wohnungstür. Warum hatte dieses Kind nicht wenigstens ein kleines bisschen von der Gemütsruhe seines Vaters erben können? Tobias’ Langsamkeit war ihr manchmal auf den Geist gegangen, als sie noch zusammen waren. Jetzt wünschte sie sich ab und an etwas davon bei ihrer Tochter.
»Wie, du bist da? Hoffentlich hast du was gegessen, die Kartoffelpuffer sind nur für mich und Oliver.« Mit diesen Worten stürzte Svenja an ihrer Mutter vorbei in die Küche und stellte zwei Gläser Apfelmus auf dem Esstisch ab.
»Ella und Sibylla sind super, die haben mir das Apfelmus geschenkt.« Svenja strahlte.
»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen«, erwiderte Katharina und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die sommersprossige Stirn. »Und gegessen habe ich noch nichts. Ich werde einfach noch ein paar Kartoffeln schälen und dann reicht es für drei.«
»Aber es gibt kein zweites Paar Handschuhe in diesem mehr als improvisierten Haushalt«, kam es aus Olivers Ecke.
»Ich werde die Kartoffeln unter Einsatz meines Lebens mit nackten Händen schälen«, konterte Katharina. »Wie war der Film, Svenjalein?«
»Spitze«, sagte Svenja, während Oliver über ihren Kopf hinweg den Finger in den Hals steckte und unverkennbare Zeichen starker Übelkeit mimte.
»Einen Lehrer wie den Herrn Müller hätte ich auch gern. Der ist superlustig und soooo cool. War toll, selber schuld, dass du lieber auf deine Versammlung gegangen bist.« Svenjas tiefbraune Augen leuchteten, während sie eingekuschelt in ihre Schmusedecke auf der Eckbank in der Küche saß und erzählte. Sie trug ihr Lieblingsoutfit: rote Latzhose, Tote-Hosen-Shirt (sie kannte die Musik zwar nicht, fand aber den Bandnamen »mega«) und natürlich dieselbe »coole« Kappe auf dem Kopf wie Oliver. Darunter schauten ihre braunen Wuschelhaare heraus. Sie sah zum Knuddeln süß aus.
Zufrieden setzte Katharina sich an den Küchentisch und half, Kartoffeln zu schälen. Offenbar hatte Svenja weniger auf die zum Teil deftige Wortwahl des Films als vielmehr auf Elyas M’Barek geachtet. Umso besser.
»Wolltest du nicht um 21 Uhr im Jazzclub sein? Von Haidhausen bis nach Schwabing brauchst du eine halbe Stunde.« Es war 20.30 Uhr, Oliver lag auf Katharinas Sofa und schenkte sich gerade von dem edlen italienischen Bio-Rotwein nach, den er selbst mitgebracht hatte. Mehr als sechs Euro für eine Flasche Wein auszugeben, lehnte Katharina ab. Billige Weine konnten nach Olivers Meinung zu viele Giftstoffe enthalten, deshalb brachte er seinen Alkohol meist selbst mit. Er hatte Katharinas Schürze inzwischen abgenommen und trug noch sein Job-Outfit – dunkelblaue Bundfaltenhose, blau-weiß gestreiftes Designerhemd. Krawatte und Slipper hatte er ausgezogen. In der Luft hing der Duft nach den Puffern, aus Svenjas Zimmer leuchtete der blaue Plastikbär, eine Lampe, die auf Anweisung der Siebenjährigen die ganze Nacht zu brennen hatte.
»Als großer Adelhofer-Fan kann ich später kommen.« Oliver grinste. »Erzähl.«
Katharina wusste, welch Sakrileg es war, unpünktlich zum wöchentlichen Jazz-Treffen zu kommen. Dass Oliver den Anpfiff für sie in Kauf nahm, rührte sie. Sagen wollte sie das nicht, stattdessen kuschelte sie sich mit einem knappen »rutsch mal« zu seinen Füßen in die Sofaecke, umschloss ihr Rotweinglas mit beiden Händen und begann zu erzählen.
Das Handyklingeln zwei Stunden später erreichte nur Katharinas Mailbox. Oliver war inzwischen nach Schwabing entschwunden und Katharina auf dem Sofa eingeschlafen. »Birgit hier, Lukas Adelhofer ist tot. Die Obduktion zeigt keine Spuren von Fremdeinwirkung. Bin leicht in den Polizeifunk reingekommen.«
Dienstagabend,
Breitbrunn am Chiemsee
»Jetzt is’ der Bub tot.« Das war das Einzige, was seit Roberts Ankunft in der Adelhoferküche gesagt worden war. Rosa Adelhofer hatte den Satz in den Raum gestellt. Seit zehn Minuten schwang die traurige Botschaft zwischen ihnen.
Als Erinnerung, dass bis vor Kurzem Normalität geherrscht hatte auf dem Adelhofer-Hof, hing noch der Geruch von angebratenen Zwiebeln in der Küche. Wurstsalat und Bratkartoffeln hatte es zu Mittag gegeben, das Lieblingsessen ihrer drei »Mannsleit«, wie Rosa Adelhofer in glücklicheren Tagen ihren Mann und die beiden Söhne genannt hatte.
Tränen liefen über das faltige Gesicht der alten Bauersfrau. Aus dem ordentlich aufgesteckten Dutt hingen einige graue Haarsträhnen. Nach ihrer Ohnmacht am Nachmittag, als die Polizistin da gewesen war, hatte sie sich ein bisschen hingelegt. Als es ihr besser ging, war sie mechanisch aufgestanden. Sie trug noch immer ihre Kittelschürze, die sie, kurz bevor das Unheil seinen Lauf genommen hatte, zum Kochen über den grünen Lodenrock und die weiße Trachtenbluse gebunden hatte.
Wie ein Relikt aus einer besseren Zeit leuchteten die rosa Blümchen auf der Schürze.
Max Adelhofer blickte starr auf die blau-weiß karierte Tischdecke. Sein wettergegerbtes Gesicht wirkte grau. Die kräftigen Bauernhände, die sonst immer in Bewegung waren, lagen reglos auf dem Tisch. Sein Ehering, auf den die Esstischlampe schien, warf einen kleinen Lichtstrahl an die Wand. Wie um zu sagen, dass die Ehe Bestand hatte, obwohl eins der Kinder, das daraus hervorgegangen war, nicht mehr lebte.
Der Einzige am Tisch, der sich bewegte, war Robert Adelhofer. Sein Handy zeigte alle paar Sekunden mit einem kurzen Ton eine neue Nachricht an. Robert schrieb zurück oder hörte seine Mailbox ab. Der Sender, diverse Zeitungen – alle wollten natürlich Infos über Lukas’ Verbleib. Adelhofer wusste, dass es nicht klug wäre, gleich mit der Presse Kontakt aufzunehmen. Das würde sofort gegen ihn verwendet werden:
»Mitleidloser Bruder«, »Adelhofer will Kapital aus dem Tod seines Bruders schlagen«, »Hat er seinen Bruder auf dem Gewissen?« – die Schlagzeilen sah er vor sich.
Außerdem konnte er es seiner Mutter wohl im Moment nicht antun, Journalisten ins Haus zu holen.
Sein Vater würde darüber wegkommen, sein Wahlspruch war: »Was uns ned umbringt, macht uns stärker.« An einen seiner Söhne hatte er diese Einstellung weitervererbt, der andere war offenbar daran zerbrochen. Zum ersten Mal betrachtete Robert seine Situation und die seines Bruders aus dieser Sicht und war ergriffen von seinen eigenen Gedanken. Das Handy gab einen weiteren Signalton von sich, genervt stellte Robert es stumm.
»Gell, Mama, des mit den Führungen lass ma erstamal bleibn, jetzt tu ma unsern Buben begrabn und dann schauma weiter.« Unbeholfen legte der alte Adelhofer seine Hand auf die seiner Frau und rieb darauf herum, in dem Versuch, Trost zu spenden.
Dienstagnacht,
Breitbrunn am Chiemsee
Im Bauernhaus der Adelhofers herrschte Totenstille. Das Erdgeschoss lag im Dunkeln, Kühle kam von den alten Steinplatten in der Eingangshalle. Der lebensgroße heilige Florian, der am linken Ende der Halle in der Ecke stand, war in Umrissen wahrzunehmen. Wie ein Schutz wirkte er nicht, eher wie eine Bedrohung.
Die alten Adelhofers schliefen wohl, es war leicht. Leichter, als sie es sich vorgestellt hatte. Durch das Fenster zur Stube, das gekippt war und Gott sei Dank nach hinten raus ging, konnte sie einsteigen. Zu Lukas’ Zimmer ging es über die Hintertreppe, die nicht knarzte.
Drin empfingen sie das übliche Chaos und ein entsetzlicher Gestank. Teller mit verschimmelten Lebensmitteln überall. Die hatte die Polizei stehen lassen. Sie wusste, dass die hier gewesen war. Sie wollte nur kurz sehen, ob alles nach Plan lief. Der Laptop fehlte. Klar, hatten sie mitgenommen. Würden nichts finden. Auch die Ordner waren nicht da, aber da war nichts Spannendes drin. Sie ging zu dem schweren Bauernschrank und zog mit ihrem Handschuh leicht die Schranktür auf. Das Corpus Delicti war weg. Das hatte Lukas sofort rausgerissen, nachdem sie es ihm gezeigt hatte. Durchgedreht war er, auf den Boden geschmissen hatte er es. Spuren gab es keine im Schrank. Kopien hatten sie. Sie musste grinsen über ihren perfekten Plan. Es lief, wie sie es wollte. Die Polizei wäre sie bald los. Beruhigt konnte sie verschwinden – unbemerkt, wie sie gekommen war. Auf das Haarspray hatte sie an diesem Tag verzichtet, damit der Geruch sie nicht verriet.
Mittwochmorgen,
München Haidhausen
Ein leises, penetrant wiederkehrendes Geräusch weckte Katharina. Im Halbschlaf hatte sie das Klingeln einer Eieruhr in ihren Traum eingebaut. In wachem Zustand schlug sie sich diesen Gedanken gleich aus dem Kopf. Es wäre das erste Mal in sieben Jahren, dass Svenja vor ihr aufstand. Und Frühstück machte – absurder Gedanke. Das Brummen musste vom leise gestellten Festnetz-Telefon kommen.
Katharina stieg verschlafen aus dem Bett und meldete sich mit ebensolcher Stimme. Am anderen Ende eine hellwache Birgit. Manchmal hatte Katharina den Verdacht, dass ihre Freundin im Büro übernachtete. Sie könnte ja einen Anruf verpassen oder mitten in der Nacht auf die Idee kommen, einen Computercode zu knacken.
»Hast du deine Mailbox noch nicht abgehört?«
»Nein«, murmelte Katharina irritiert.
»Lukas Adelhofer ist tot, keine Spuren von Fremdeinwirkung. Die Leiche wird in zwei Tagen freigegeben. Sie haben aufgrund von Dringlichkeit direkt für heute die Obduktion angesetzt. Damit der Fall bald geklärt ist und der berühmte Herr Adelhofer nicht lange von der Presse belagert wird. Im Moment gehen sie davon aus, dass Lukas sich auf den Scheunenboden runtergestürzt und vorher NATO-Draht und Glasscherben ausgelegt hat – um auf jeden Fall zu verbluten, falls der Sturz allein ihn noch nicht umbringt. Solche perversen Vorschläge findet man zuhauf im Internet, habe vorhin in den einschlägigen Foren recherchiert, ziemlich eklig das Ganze. Jedenfalls sieht es danach aus, dass am Samstag die Beerdigung ist, Friedhof Breitbrunn am Chiemsee.«
Katharinas erster Gedanke: bitte nicht Samstag.
Das bedeutete einen freien Tag weniger mit Svenja, kein gemütliches Einkaufen – im Sommer liebten sie es besonders, den Samstag zu verbummeln, erst auf dem Markt, danach auf dem Spielplatz oder im Englischen Garten, später bei einem leckeren Abendessen auf dem Balkon. Lecker bedeutete für Svenja Fischstäbchen mit Pommes und ohne Salat, und Seeteufel mit Orangenrisotto und viel Salat, wenn es nach Katharina ging. Egal, beides würde es diesen Samstag nicht geben. Stattdessen: arbeiten. Und das in Breitbrunn am Chiemsee. »Wie kommst du auf die Idee, dass die Beerdigung ausgerechnet am Samstag stattfindet?«, fuhr Katharina inzwischen hellwach ihre Freundin an.
»Weil beautiful Robert clever ist und am Samstag die meisten Leute kommen. Werd’ erst richtig wach, bis später.« Deutlich unterkühlt wurde am anderen Ende der Hörer aufgelegt. Katharina seufzte und beschloss, eine Entschuldigung bei Birgit auf später zu verschieben. Der normale morgendliche Wahnsinn war angesagt. Wie üblich war sie zu spät dran, es führte nichts daran vorbei, demnächst den Wecker auf eine halbe Stunde früher zu stellen. Seit Svenja pünktlich um 8 Uhr in der Schule sein musste, war jeder Morgen die pure Hektik. Das Projekt »wie erkläre ich meiner Tochter, dass ich am Samstag weg bin, und was mache ich mit ihr während dieser Zeit« konnte sie Gott sei Dank vertagen, bis tatsächlich feststand, dass Lukas Adelhofer am Samstag zu Grabe getragen wurde.
Vielleicht war es doch Mord, dann ging es nicht so schnell.
Eineinhalb Stunden später saß sie an ihrem Schreibtisch in der Redaktion und hatte wieder das eigentlich Unmögliche geschafft: Svenja erfolgreich geweckt, in Rekordzeit Müsli mit frischem Obst und gemahlenen Nüssen – ihrer beider Lieblingsfrühstück – gezaubert, selbiges gemeinsam mit Svenja gegessen und sie dabei noch M, N und S vorlesen lassen – die drei neuen Buchstaben, die sie am Vortag gelernt hatte. Danach schnell angezogen, geschminkt (in maximal 90 Sekunden), Svenja in die Schule gebracht, in der Redaktion noch die Zeitungen zum Fall Adelhofer quergelesen, und pünktlich (!) um 9.30 Uhr hatte sie in der Redaktionskonferenz gesessen. Die »Abendausgabe« startete eine große »Robert-Adelhofer-Story«, Untertitel: »Vom Kuhstall am Chiemsee in die glitzernde deutsche Medienwelt«.
Das war ihrem Chef natürlich ein Dorn im Auge.
»Frau Langenfels, Sie haben es sicher gesehen, das Abendblatt zieht Adelhofer groß auf, zehnteilige Serie, aber nur mit altem Material. Die Fotos vom ersten Schultag, das Überleben des Bergwinters – alles tausendmal gesehen. Sie machen es bestimmt anders, wie wir es besprochen hatten, es muss polarisieren. Wir sollten es deutlich größer fahren, jetzt, wo der Bruder tot ist. Am besten wäre mindestens ein Zehnteiler über den wahren Robert Adelhofer, den, den man noch nicht kennt, das Verhältnis zu seinem Bruder, zu den Eltern. Dürfte kein Problem für Sie sein, oder? Gehen Sie auf die Beerdigung, versuchen Sie, nah an ihn ranzukommen, wir wollen nur Insiderinformationen. Sprechen Sie mit der Mutter, dem Vater, den alten Freunden. Wir starten diesen Donnerstag mit einem aktuellen Bericht und mit der Hintergrundstory nächste Woche, einverstanden? Wenn ein paar unerwartete Details vorkommen, wird es polarisieren.« RG grinste zufrieden.
Katharina nickte. Dass Adelhofer polarisierte, war Fakt. Birgit und sie waren dafür das beste Beispiel. Als könnte RG Gedanken lesen, sagte er: »Sie dürfen Frau Wachtelmaier für die nächste Zeit exklusiv mit Ihren Recherchen beschäftigen.«
Eigentlich freute sich Katharina über die neue Aufgabe. Durch den Tod des Bruders war etwas Unvorhergesehenes in Adelhofers perfekte Inszenierung geplatzt. Sie schaute auf das Foto der beiden Watergate-Journalisten, als müsste sie sich dort noch eine Bestätigung holen. Die beiden rauchten und beratschlagten wie immer.
»Alles klar, Herr Riesche-Geppenhorst.« RG nickte zufrieden.
Nach der Redaktionskonferenz ging Katharina als Erstes zu ihrer Freundin, um sich zu entschuldigen.
Als sie das Archiv von »Fakten« betrat, stand Birgit Wachtelmaier am Fenster, blickte hinaus und telefonierte – ihre Lieblingsposition, denn es entging ihr nichts, was auf der Straße passierte. Katharina hatte noch einen Moment Zeit, das erlesene Outfit der »Fakten«-Archivarin zu bestaunen. Heute trug Birgit einen pinkfarbenen Minirock, unter dem sich kleine Wülste abzeichneten. Birgit hatte vorgesorgt und Stretch gekauft. Zu dem Rock kombinierte sie schwarze Netzstrümpfe und atemberaubend hohe, diesmal goldfarbene Stöckelschuhe mit einem kleinen Glöckchen an der Ferse. Gut, dass sie allein im Büro sitzt, dachte Katharina. Jeder Kollege würde nach einem Tag Glöckchenklingeln kündigen, so viel, wie Birgit mit den Füßen wippte.






