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Heike Ballinger vom Klatschblatt »Szene« stand direkt bei Adelhofer. Die tief dekolletierte schwarze Korsage und die enganliegende schwarze Lederhose waren nicht das Outfit, das zu einer Beerdigung passte, aber Feingefühl zu zeigen, war auch nicht ihr Job, wie sie sofort bewies:
»Du, Robert, das ist bestimmt eine unheimlich schwierige Situation für dich, so die emotionale Verarbeitung und so. Aber glaubst du nicht, dass du durch deine treuen Zuschauer und Fans Unterstützung bei deiner Trauerarbeit kriegen könntest? Also, ich meine, wenn du einfach das machst, was du immer machst – eine Sendung. Weißt du, um ein Stück weit Normalität reinzubringen trotz deiner Traumatisierung …«
Die Sache könnte abgesprochen sein, dachte Katharina. In Roberts Blick lag sowohl tiefe Trauer als auch der gequält-bemühte Versuch, Heike zuzuhören.
Als Heike Ballinger fertig war, sagte Robert: »Danke, Heike, für deine einfühlsamen Worte. Ich habe natürlich darüber nachgedacht, ob eine Sendung zu Ehren meines toten Bruders meinen Eltern und mir vielleicht helfen könnte. Wir werden das im Familienkreis besprechen, ihr alle seht, wie sehr meine Mutter leidet. Ich werde nur das tun, was gut für sie ist und womit sie einverstanden ist.«
An dieser Stelle huschte ein kleines bedauerndes Lächeln über sein Gesicht: »Daher muss ich Sie alle um Verständnis bitten, dass ich mich jetzt um meine Familie, vor allem um meine Mutter kümmern muss.«
Katharina ließ Adelhofer gehen und folgte ihm nach ein paar Minuten Richtung Adler.
Der Gasthof in Breitbrunn am Chiemsee hatte sich wenig verändert in den 20 Jahren, in denen Katharina selten hier gewesen war. Noch immer stand das alte Gasthaus unter dem Schutz einer riesigen Kastanie, die jetzt im Juli mit ihrem gigantischen Blätterwerk als Sonnenschirm für die Tische des Biergartens diente. Für einen Samstag im Sommer war wenig los an den Tischen, ein paar Einheimische saßen beim Bier, Essen hatten nur wenige vor sich stehen. Vielleicht entsprach die deftige, bayerische Küche im Adler nicht mehr den heutigen Ansprüchen, überlegte Katharina.
Wie früher roch es nach Frittierfett – für Katharina ein köstlicher Duft, da sie mit ihm Pommes frites verband, eine Delikatesse, die ihr in ihrer Jugend meist verwehrt geblieben war. Fett war verpönt bei Katharinas gesundheitsbewusster Mutter, ebenso wie Fast Food. Wahrscheinlich deshalb hatte die Tochter bis heute eine ausgeprägte Vorliebe für Dönerbuden und Burger. Ihre Mutter hingegen war ihrer Linie treu geblieben und arbeitete inzwischen erfolgreich als Heilpraktikerin.
Ohnehin hatte Klein-Katharina mit ihren Eltern selten im Adler gegessen, das konnte sich die Familie damals nicht leisten. Ein Tagesausflug an den Chiemsee war teuer genug bei einem Polizistengehalt. Da musste die Brotzeit mitgebracht werden. Warm gegessen wurde abends zu Hause. Katharina hatte dann voller Neid zu den Familien rübergeschielt, die dort sonntags zu Mittag aßen, ohne auf die Preise und den Fettgehalt der Speisen zu achten. Sie hatte höchstens eine Apfelschorle bekommen, an Festtagen Limo, wenn ihre Eltern im Adler einen Kaffee tranken. Katharinas Weg führte anschließend meist zum Kiosk gegenüber. Mit ihrem Taschengeld zumindest durfte sie machen, was sie wollte. Und das investierte sie bei Breitbrunn-Ausflügen in Brausestangen, weiße Schokolade, bunte Gummitiere und Chips. Voller nostalgischer Gefühle betrat sie den Adler.
Zum Jesusstüberl ging es auf ausgetretenen Fliesen in einen kleinen Raum direkt gegenüber der Küche. Katharina hatte noch den verlockenden Geruch von Schweinsbraten in der Nase, als sie die Stube betrat.
Drei Biertische, karierte Tischdecken, Plastikblumengestecke und schwere Holzstühle. Der Namensgeber der Stube fehlte nicht, er hing links im Eck am Kreuz und sah aus, als bewachte er seine Schäfchen.
Robert Adelhofer war allein.
Passenderweise hatte er sich direkt unter dem Holz-Jesus platziert, vor ihm stand eine Tasse Kaffee.
»Frau Langenfels, danke, dass Sie gekommen sind.« Robert stand auf, schenkte Katharina ein freundliches Lächeln und drückte ihr erneut die Hand. Insgesamt wirkte er nach wie vor wie der »Bruder in Trauer«, ob das echt war, wagte Katharina noch nicht zu beurteilen.
»Herr Adelhofer, ich möchte von Anfang an offen zu Ihnen sein. Ich war überrascht, als Ihr Manager uns ein Exklusivinterview angeboten hat. Um spätere Schwierigkeiten zu vermeiden, muss ich Ihnen zunächst eine Frage stellen, die dem Anlass höchst unangemessen ist. Aber das ist ein Exklusivinterview zum Tod Ihres Bruders eigentlich auch, nicht wahr? Natürlich verstehe ich, dass Sie in Ihrer Position nicht darum herumkommen, mit den Medien zu sprechen.« Falls Adelhofer die Spitzen verstanden hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er saß nur da, schaute Katharina an und schien aufmerksam zuzuhören.
»Wie viel wollen Sie für dieses Gespräch?«
Robert lächelte kurz, dann nahm sein Gesicht erneut ernste Züge an und er sprach im Ton des verständnisvollen Geschäftspartners:
»Das ist doch kein Problem, Frau Langenfels, natürlich müssen Sie mir diese Frage stellen. Ich kann Sie beruhigen. Es mag Ihnen ungewöhnlich erscheinen, ich werde umsonst mit Ihnen sprechen. Aus dem Tod meines Bruders Profit zu schlagen, erschiene mir in höchstem Maße unmoralisch. Was Herr Wedel und ich überlegt haben, ist, Kontakt mit Silke Heinrich aufzunehmen.«
Katharina ahnte nichts Gutes.
»Silke Heinrich, Sie wissen, die bewundernswert starke Witwe des Fußballers Sven Heinrich, der sich erhängt hat. Ich möchte sie für nächste Woche in meine Sendung einladen und für ihre Stiftung zur Behandlung von Depressionen Geld sammeln. Es sieht nach außen hin anders aus, ich denke trotzdem, die Schicksale von Sven Heinrich und meinem Bruder lassen sich durchaus vergleichen.«
Dass der Fernsehauftritt von Heinrichs Witwe beautiful Robert beautiful Quoten bescheren würde, spielte bei diesen großherzigen Plänen natürlich keinerlei Rolle, dachte Katharina. Nur gut, dass Silke Heinrich bestimmt viel zu klug sein würde, um darauf einzusteigen.
Dies behielt Katharina für sich und fragte stattdessen interessiert: »Inwiefern sehen Sie Parallelen zwischen dem Leben und Sterben von Sven Heinrich und Ihrem Bruder?«
»Nun, Depressionen sind – wie wir heute wissen – oft ein bereits in den Genen angelegtes Krankheitsbild. Menschen, denen es an nichts fehlt, die nach außen ein glückliches, privilegiertes Leben führen, erkranken daran. Einfach nur deshalb, weil es ihnen in die Wiege gelegt wurde. Von einer depressiven Mutter oder einem depressiven Vater.«
»Und dies trifft – verzeihen Sie – traf auf Ihren Bruder Lukas zu?«
Robert blickte traurig zu Boden, während er leise sagte:
»Sie haben meine Mutter heute am Grab gesehen. Ich fürchte, sie steht immer noch da. Wir waren beide eben noch mal bei ihr, mein Vater und ich. Wir kommen nicht an sie ran. Sie ist wie erstarrt.«
»Daraus schließen Sie, dass Ihre Mutter krankhaft depressiv ist und dies an ihren Sohn Lukas weitervererbt hat?« Katharina fiel es schwer, diese Ungeheuerlichkeiten auszusprechen.
»Zumindest gibt es viele Kindheitserinnerungen, in denen ich eine traurige Mutter vor Augen habe, eine weinende Mutter, eine verzweifelte Mutter. Wie man weiß, müssen diese Dinge nicht vererbt werden, aber sie können. Ich scheine derjenige zu sein, der verschont wurde, und der arme Lukas eben nicht.«
»Herr Adelhofer, entschuldigen Sie, dass ich es an diesem schwierigen Tag anspreche. Es gab immerhin in Lukas’ und Ihrem Leben ein einschneidendes Ereignis, das sein weiteres Leben beeinflusst haben könnte.«
Robert raufte sich die Haare und wirkte etwas verunsichert.
»Natürlich, Frau Langenfels. Mein Bergwinter, und was danach kam, war logischerweise für unser beider Leben von entscheidender Bedeutung. Aber es ist gut ausgegangen. Ich hätte Depressionen kriegen müssen hinterher, nicht er. Ich kam traumatisiert zurück, Lukas war der wunderbare große Bruder, der mich berühmt gemacht hat. Nein, glauben Sie mir, das sind die Gene«, flüsterte er verschwörerisch.
»Nur eine letzte Frage noch: Sie haben – dem Anschein nach – Ihre Zeit in den Bergen gut überstanden. Würden Sie sagen, es geht Ihnen heute richtig gut?«
»Keine Sorge, Frau Langenfels. Sie sehen einen voll im Saft stehenden bayerischen Buben vor sich. Mit allem, was dazugehört – und ohne psychische Probleme, falls Sie das meinen.«
»Und Ihr Bergtrauma haben Sie in den Griff bekommen? Eine Ihrer ersten ›Krise‹-Sendungen hatte das Thema: ›Traumata bewältigen – Rückkehr an den Ort des Schmerzes‹. Damals sagten Sie, so weit seien Sie noch nicht, die Berge seien ein großes Tabu für Sie. Aber das ist ja schon vier Jahre her.«
Robert Adelhofer grinste verlegen.
»Ertappt. Nein, die Berge werden wohl für den Rest meines Lebens nicht mehr zur Liste meiner Aufenthaltsorte gehören.«
Katharina lächelte ihn an. »Danke, Herr Adelhofer, für dieses offene Gespräch. Es war interessant für mich. Besonders froh bin ich, dass wir die Geschichte mit dem Trauma klären konnten. Ich habe tatsächlich falsche Informationen zugespielt bekommen.«
Adelhofer schaute überrascht. »Ich verstehe nicht?«
Katharina legte nach: »Ach, es gibt einige Leute, die behaupten, Sie nach Ihrem Bergwinter in den Bergen gesehen zu haben. Angeblich gibt es Fotos. Aber das können Sie dann ja nicht gewesen sein. Gut, ich werde mal gehen. Wenn ich noch Fragen habe, darf ich Sie sicher anrufen.«
Katharina stand auf und war schon an der Tür vom Jesusstüberl, als Adelhofer nachhakte:
»Frau Langenfels, entschuldigen Sie meine Neugier, wer behauptet das? Ich muss auf der Hut sein, bei übler Nachrede schalte ich sofort meinen Anwalt ein.«
Katharina drehte sich um, lächelte Adelhofer an und sagte freundlich: »Das verstehe ich gut, verstehen Sie bitte auch mich. Hier gilt der Informantenschutz, ich darf keine Namen herausgeben. Noch mal mein herzliches Beileid, für Sie und Ihre Eltern.«
Samstagnachmittag, Frauenchiemsee
»Aha, das ist er wirklich auf den Fotos?«
»Ich würde sagen, ja. Wir hatten es vermutet, die Fotos sind zwar unscharf, trotzdem ist eigentlich klar, dass es sich um Robert handelt. Außerdem hat sein Gesicht Bände gesprochen.«
Oliver saß im Biergarten auf der Fraueninsel, ganz der Anwalt im Wochenende: dunkelblaue Bermudashorts, rosa Polohemd und teure Männer-Flipflops. Auf seinem Kopf trug er die Baseballkappe eines namhaften italienischen Sport-Labels. Er hatte Messer und Gabel sinken lassen, während Katharina von ihrem Gespräch mit Adelhofer erzählte. »Wo hat Birgit diese Fotos noch mal entdeckt?«, hakte er nach.
»Das war in diesem Fall nicht schwierig. Auf Fanclubseiten auf Facebook und Instagram gibt es jede Menge Fotos von Begegnungen mit Robert. Auf einigen sieht man ihn undeutlich in einer Menge von Autogrammjägerinnen an der Kampenwand unterhalb vom Gipfel. Sie halten alle ihre Smartphones hoch, drum ist er nicht gut erkennbar.«
Katharina schaute versonnen auf Olivers Teller.
Mit dem Schweinsbraten und den Knödeln war er inzwischen fertig. Die Kellnerin brachte gerade einen großen Becher Spaghettieis. Vorne am Wasser saß Svenja auf dem Steg und hatte offenbar eine interessante, circa achtjährige Männerbekanntschaft gemacht. Eigentlich hätte Katharina ihrer Tochter gern kurz Hallo gesagt. Als könnte Oliver Gedanken lesen, riet er:
»Lass es sein, Svenja hat gerade sowieso keine Augen für dich.«
Tatsächlich war ihre Tochter so vertieft ins Gespräch mit dem rothaarigen Wuschelkopf, dass Mütter nur stören würden.
»Bei diesem ausgefallenen Männergeschmack muss sie sich später wenigstens nicht mit anderen Mädels um den Gleichen kloppen«, seufzte Katharina.
Nachdem sie beschlossen hatte, Olivers Beispiel zu folgen und heute Kalorien Kalorien sein zu lassen, bestellte sie ebenfalls den Schweinsbraten mit Knödeln, Rotkraut und »viel Kruste«.
»Hat Birgit sich bei dir gemeldet?«, fragte sie Oliver, der mit weiten Teilen seines Gesichts im Eisbecher verschwunden war, um noch den letzten Rest rauszuschlecken.
»Nein, du müffteft doch beffer wiffn, wo fie fteckt«, ertönte es undeutlich aus der Glasschale.
Weiter kamen sie nicht, denn Svenja hatte offenbar bereits genug von ihrem rothaarigen Flirt. Sie kam ohne Schuhe und mit nassen Füßen an den Tisch und forderte in klarem Befehlston: »Ich will auch Schweinsbraten und Spaghettieis.«
»Hallo, Svenja«, blieb Katharina freundlich und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf den Wuschelkopf. »Warum hast du deinen Freund nicht mitgebracht?«
»Der ist nicht mein Freund. Der ist saudoof. Und außerdem heißt er Konstantinus. Voll arschblöder Name.«
Oliver und Katharina warfen sich einen Blick zu und wechselten das Thema. Svenja würde ohnehin nicht mehr erzählen über ihren Ärger.
»Was haben Oliver und du Schönes gemacht, mein Schatz?«, fragte Katharina liebevoll, nachdem die Kinderportion Schweinsbraten bestellt war.
»Wir haben im Klosterladen Marzipan gekauft und wir waren baden. Ich bin Olli davongeschwommen.« Svenja kicherte bei der Erinnerung daran.
»Olli?«, fragte Katharina mit hochgezogenen Augenbrauen in Richtung Oliver. »Wenn ich dich Olli nennen will, sprichst du drei Tage nicht mehr mit mir, und Svenja darf das?«
»Svenja ist eben was Besonderes«, grinste Oliver und streichelte seinem liebsten Pflegekind über die heute zu zwei Zöpfen gefassten braunen Wuschelhaare.
»Logisch ist Svenja was Besonderes«, tönte es hinter Katharina. »Bei dieser Mama cool zu bleiben, da muss man was Besonderes sein, gell Svenja?«
Svenja strahlte vor Stolz darüber, dass eine Erwachsene sie als cool bezeichnete, während sich Birgit Wachtelmaier auf den letzten freien Stuhl am Tisch setzte.
»Oh, Schweinsbratentag. Bin dabei«, sagte sie mit einem Blick über den Tisch, auf dem Olivers leerer und Katharinas gut gefüllter Teller standen.
»Passt die Eier-Diät nicht zum kleinen Schwarzen?«, fragte Katharina grinsend. »Wobei«, sie warf einen prüfenden Blick über Birgits Freizeitoutfit – knallrote Turnschuhe, gelbe Leggings, darüber schwarze Leinenshorts und dies kombiniert mit einem giftgrünen, tief dekolletierten T-Shirt, unter dem ein orangefarbener Spitzen-BH hervorlugte – »du siehst wieder normal aus.«
Svenja hatte inzwischen den Nächsten an der Angel – am Nachbartisch saß ein circa zehnjähriger bayerischer Bursch mit Lederhose und kariertem Hemd, verspeiste genüsslich seinen Schweinsbraten, flirtete mit Svenja … und sie zurück. Sie grinsten sich an, schauten weg, grinsten sich wieder an. Bis Svenja die Sache in die Hand nahm und zu ihrer Mutter im Aufstehen sagte: »Du, Mama, sag der Kellnerin bitte, sie soll meinen Schweinsbraten an den Nachbartisch bringen.«
Sprach’s und saß neben ihrem neuen Schwarm, schüttelte dessen Eltern artig die Hand und war flugs in ein Gespräch mit Ludwig vertieft. So hatte sich der braungelockte Nachwuchs-Casanova jedenfalls eben vorgestellt.
»Na, in Sachen Männeraufriss könntest du von deiner Tochter echt noch was lernen«, kommentierte Birgit.
»Danke für den Tipp. Und, was ist noch passiert auf der Beerdigung?«
»Mmh, vielen Dank.« Birgit strahlte die Kellnerin an, die ihr ihren Schweinsbraten, bestehend aus zwei großen Bratenscheiben mit lecker duftender dicker brauner Sauce, zwei ebenfalls recht überdimensionierten Kartoffelknödeln und einer beachtlichen Schale Rotkraut, vor die Nase stellte.
»Die Kinderportion bitte für die Partnerin des jungen Herrn am Nachbartisch«, bat Birgit schmunzelnd die Bedienung. Während sie ihre Knödel zerlegte, begann sie, über Schweinsbratenrezepte zu philosophieren: »Der Arnulf wollte ihn nur mit Biersauce, finde ich auch nach wie vor am besten. Man kann alternativ Brühe nehmen. Das Wichtigste ist sowieso, den Braten stundenlang mit der Schwarte nach unten in Flüssigkeit zu legen, sonst wird sie nie knusprig. Mmh, genau so haben die das hier gemacht. Köstlich.«
Oliver warf Katharina einen verwirrten Blick zu, sie machte unauffällig eine beschwichtigende Geste in seine Richtung.
»Birgit?«, fing sie vorsichtig an.
»Ja? Willst du noch ein Stück, könnte ich verstehen, der ist zum Reinlegen, hier, nimm.« Birgit hielt ihrer Freundin eine Gabel mit einem ansehnlichen Bratenstück vor die Nase.
»Danke, ich bin satt. Könnten wir noch mal kurz über die Beerdigung sprechen?«
»Logisch. Die meisten Botox-Tanten sind abgedüst, als Robert weg war. Nur diese fürchterliche Heike Ballinger von ›Szene‹ stand noch eine Weile mit dem Wedel herum und es ging offenbar um die nächste Sendung von Adelhofer. Der Wedel hat der Heike auf die Schulter geklopft und ›gut gemacht‹ gesagt.«
»Wusste ich es, dass das geplant war«, sagte Katharina und berichtete Oliver und Birgit von ihrer Beobachtung am Grab. »Alle haben gehört, warum es ohne Unterbrechung mit Roberts Sendung weitergehen wird, und viele der Kollegen werden es brav schreiben und den untadeligen Ruf des Robert Adelhofer weiter zementieren«, erläuterte Katharina entnervt. »Und ich muss mir die Sendung natürlich reinziehen.«
Während Birgit weiter den Schweinsbraten in sich hineinschaufelte, berichtete Katharina ihr von dem Gespräch mit Adelhofer und seiner Reaktion auf die vermeintlichen Fotos aus den Bergen.
Birgit wischte sich den Mund ab und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das ist doch ein Beweis, dass er lügt.«
»Das glaube ich auch, aber so richtig gut erkennt man ihn auf den Fotos nicht.« Ein breites Grinsen ging über Birgits Gesicht. »Er ist es, Wahrscheinlichkeit 98,6 Prozent.«
Katharina und Oliver starrten Birgit verwundert an.
»Tja, ihr Lieben, ihr habt es schließlich nicht mit einer Dilettantin zu tun. Ich habe mir eine Gesichtserkennungssoftware besorgt, die nicht mal die Polizei nutzt, und die hat dieses Ergebnis ausgespuckt. Beautiful Robert war definitiv noch mindestens einmal in den Bergen.«
Bester Laune bestellte sich die Archivarin einen Apfelstrudel, hob ihr Glas und sagte: »Prost, lasst uns Wochenende machen.«
Samstagabend, München Haidhausen
Oliver Arends saß in Katharinas Küche und rieb sich die Schläfen. Es war kurz nach 10 Uhr, Svenja befand sich nach einem flirtreichen Tag am Chiemsee im Bett, Birgit, Katharina und Oliver saßen vor der zweiten Flasche Rotwein. Aufs Abendessen hatten sie nach dem übermäßigen Bratenkonsum zu Mittag verzichtet.
»Wie macht sich eigentlich ein Aneurysma bemerkbar?«, fragte Oliver recht unvermittelt nach seiner sachlichen Zusammenfassung des aktuellen Recherchestandes im Fall Adelhofer.
Katharina stöhnte leise auf. Birgit, die Olivers hypochondrische Seite nicht gut kannte, fing sofort an, medizinisches Wissen auszupacken: »Na ja, das kann unterschiedlich sein. Viele merken nichts, manchen wird schwindlig, andere haben Kopfschmerzen.«
»Kopfschmerzen«, stieß Oliver erschreckt hervor. »Ich habe ständig Kopfschmerzen. Im Moment klopft es an den Schläfen.«
Er sah Katharinas entnervtes Gesicht und schob nach: »Sind sicher nur Verspannungen, der Physiotherapeut langt meist zu fest zu, danach ist mir oft schwindlig. Wo waren wir? Katharina, du glaubst, dass an dem Adelhofer und seiner Geschichte irgendwas faul ist. Warum? Weil ihm nicht gefallen hat, dass Leute über ihn erzählen, sie hätten ihn in den Bergen gesehen. Hm, bisschen dünn, finde ich.«
Katharina staunte, dass Oliver von selbst das Thema wechselte, ließ sich aber nur zu gerne darauf ein. »Na ja, fassen wir zusammen: Er behauptet in seiner ersten Sendung, er sei nie mehr in den Bergen gewesen. Sieht danach aus, dass das nicht stimmt. Könnte also sein, dass das Trauma des Bergwinters nicht so groß ist. Und ansonsten sagt mein Bauchgefühl mir, dass irgendwas nicht stimmt. Du hast recht, seine Reaktion auf die Bergfotos reicht nicht, aber ich bin erst am Anfang. Lass mich nur mal recherchieren, also Birgit und mich«, sagte sie und streckte ihrer Freundin den erhobenen Daumen entgegen.
Einige Stunden vorher,
Breitbrunn am Chiemsee
Achim Wedel wurde langsam unruhig. Okay, Robert hatte heute seinen Bruder beerdigt. Es gab lustigere Termine. Aber eigentlich konnte er froh sein, dass er Lukas loshatte. Er war in den letzten Jahren nur noch ein Klotz am Bein gewesen. Neidisch, ständig besoffen, pleite. Keine gute PR für beautiful Robert.
Jetzt lag Lukas unter der Erde. Eigentlich besser fürs Business.
Robert schien das anders zu sehen. Er saß wie erstarrt neben ihm, seitdem sie vom Adelhofer-Hof weggefahren waren. Hatte sich auf den Beifahrersitz gesetzt. Und sprach kein Wort. Seit einer halben Stunde.
Dabei mussten sie dringend die Sendung planen. Wedel beschloss zu handeln:
»Robert, ist irgendwas?« Wedel nahm eine Hand vom Lenkrad und klopfte unbeholfen auf Roberts Oberschenkel.
Robert fuhr auf, als würde ihm gerade erst klar, dass jemand neben ihm saß. Er schaute Achim mit starrem Blick an und sagte: »Mein Bruder ist heute beerdigt worden, schon vergessen?«
»Nein, nein, Robert, klar, tut mir leid. Ich dachte nur …«
»Du dachtest nur, das wäre mir egal. Nein, du dachtest, das wäre mir sogar recht. Endlich ist der Lukas weg. Gell, Achim? Bloß so einfach ist das nicht, verstehst du? Nein, das verstehst du natürlich nicht. Familie ist dir ja fremd. Gibt’s nicht bei Herrn Wedel. Sondern nur Geld und Macht und Macht und Geld, ich weiß. Aber ich habe eine Familie. Verstehst du? Eine Mutter, die fast stirbt vor Kummer über den Tod ihres Sohnes, und einen Vater, der die Welt nicht mehr versteht.« Jetzt brüllte Robert. »Und du fragst mich, ob irgendetwas ist? Du Vollidiot!«
Achim Wedel hätte gute Lust gehabt zurückzubrüllen. Wahrscheinlich war es mit der Tussi von »Fakten« nicht gut gelaufen. Deshalb machte er hier einen auf betroffen.
Ausrasten würde Achim erst, wenn Robert die Sendung platzen ließe. Sie musste stattfinden. Traumquoten waren garantiert. Und ein deutlich höheres Honorar für alle auch.
»Tut mir leid, Robert. Ich bin ein Gefühlstrampel. Ich war nur den ganzen Nachmittag in Kontakt mit der Redaktion wegen der Sendung und es gäbe einiges zu besprechen.« Dramatische Kunstpause. »Aber ich bin der Letzte, der dich zu der Sendung zwingt. Wenn es dir nicht gut geht, fällt ›Krise‹ mit Robert Adelhofer nächste Woche eben aus. Das wird jeder verstehen. Norma kann dich bestimmt vertreten.«
Jetzt würde sich rausstellen, wie sehr Robert litt. Wenn er freiwillig zuließ, dass Norma Andall ihm den Sendeplatz abnahm – und sei es nur für einen Abend –, müsste man ernsthaft anfangen, sich Sorgen zu machen.
Dass Norma seine Urlaubsvertretung war, hatte Robert am Anfang akzeptiert. Sie machte ihre Sache allerdings so gut, dass der Programmchef bereits geäußert hatte, es seien zwei Moderatoren für »Krise« denkbar. Das passte Robert gar nicht.
Seine Urlaube in diesem Jahr hatten deshalb maximal sechs Tage gedauert, jede Sendung hatte er moderiert.
Wedel trat zufrieden aufs Gaspedal, schaltete im Radio auf Bayern zwei und sagte entschuldigend zu Robert: »Sorry, dass ich die ganze Zeit das Popgedudel laufen hatte. Danach ist dir wahrscheinlich nicht.«
Robert fuhr sich durch die Haare, holte fahrig sein iPhone aus der Hosentasche. Als er die eingegangenen Nachrichten gecheckt hatte, fragte er: »Silke Heinrich kommt also nicht?«
Wedel musste sich ein Grinsen verkneifen. Er starrte – ganz der konzentrierte Autofahrer – auf die Fahrbahn und gab in bedauerndem Tonfall zurück: »Nein, sie haben wirklich alles versucht. Aber die Frau schirmt sich komplett ab. Ihre Eltern kriegt man nicht, Heinrichs Eltern auch nicht. Die Freunde blocken, ihr jetziger Mann sowieso. Keine Chance. Verstehe ich zwar nicht, ist inzwischen eine Weile her und sie könnte gut Geld verdienen mit einem Auftritt bei uns, aber wer nicht will, der hat schon.« Er schaute vorsichtig zu Adelhofer rüber, um zu checken, ob er zu weit gegangen war. Robert saß neben ihm, als hätte er überhaupt nicht zugehört.
»Wir haben also die Frau, deren Baby im Krankenhaus durch die infizierte Spritze gestorben ist, den alten Mann, dessen Frau sich neben ihm im Bett mit Schlaftabletten umgebracht hat, und den Siebzehnjährigen, dessen Freundin vergewaltigt und umgebracht wurde an dem Abend, als er keine Lust hatte, sie nach Hause zu bringen. Sonst noch jemand?«






