- -
- 100%
- +
Aber Nemsa?
Interessant ist, dass Österreich (das habe ich mal in einem Bericht über zwei Salzburger, die in Algerien von Fundamentalisten entführt worden waren, gelesen) das einzige Land der westlichen Hemisphäre ist, für das es ein eigenes arabisches Wort gibt. Also eines, das nicht hergeleitet ist. Hier würde man sagen: eingedeutscht. Oder eingearabischt. Nemsa ist jedoch ein echtes, gewachsenes, arabisches Wort. Das habe, hieß es in dem Artikel, vor allem historische Gründe. Ein Nemsawi zu sein, würde jedenfalls – im Fall des Falles – von Vorteil sein. Wobei ich aus heutiger Erfahrung ergänzen möchte: Es kann auch ein Vorteil sein, ein Nemsawi zu sein, ohne dass man sich deshalb gleich entführen lassen muss.
Für mich jedoch war Nemsa damals ein völlig unbeschriebenes Blatt. Ein weißes Blatt Papier. Das große Schreckgespenst vieler Schriftsteller. Einfach sehr weiß und sehr leer. Dafür aber mit sehr viel Platz für das große Staunen. Und gestaunt habe ich auch, als ich hierher kam. Als zum Beispiel ein Landsmann, der mit mir geflohen war, vor meinen Augen zu einem Polizisten im Burgenland hingegangen ist und ihn um eine Zigarette gebeten hat. Rotzfrech, sagt man da, oder? Das war keine zehn Minuten, nachdem wir per Schlepper-Sammeltaxi in Österreich gelandet und aufgegriffen worden waren. Und dann sah ich, wie der Polizist ihm auch noch die gewünschte Zigarette gegeben hat. Und Feuer obendrein. Einfach so!
Probieren Sie das mal in Syrien. Oh nein. Probieren Sie es lieber nicht. Und schon gar nicht an einem Tag, an dem der Polizist womöglich mit seiner Frau gestritten hat. Oder bloß die Oliven beim Frühstück nicht den perfekten Reifegrad hatten. Das allein kann dein Leben entscheidend verändern. Weil da nicht das Feuer für die Zigarette deinen Tag erhellt, sondern es im Gegenteil ganz schnell finster werden kann. So finster wie in einem der tausenden Kerker der syrischen Staatsgewalt. Finster wie eine tiefschwarze arabische Nacht draußen in der Wüste. Ohne Lichtverschmutzung. Aber auch ohne Sternenhimmel.
Ja, mein großes Staunen hat tatsächlich schon auf den allerersten Metern nach der Grenze angefangen. Im bitterkalten November 2014. Das war noch einige Monate vor der großen Wir-schaffen-das-Welle. Damals, nahe der ungarisch-burgenländischen Grenze, haben wir noch zu zweit gestaunt. Der Polizist mit der Zigarette hat gestaunt, als er gleich nach meinem rotzfrechen Landsmann mich gesehen hat mit meinen hauchdünnen Sommerschuhen, in denen ich ohne Socken steckte. Und ich habe gestaunt, weil ich das Gefühl hatte, bei Alice im Wunderland gelandet zu sein. Also doch ein Hauch von Australien. Irgendwie.
Das Staunen des Beamten hat sich vermutlich rasch wieder gelegt. Weil er bald danach ganz sicher jede Menge Menschen gesehen hat, die ähnlich luftig unterwegs waren wie ich. Mein Staunen hingegen sollte aus tausendundeinem Grund anhalten. Bis zum heutigen Tage.
Wenn es mich wieder mal so richtig packt mit dem Nicht-verstehen-Wollen oder Können, dann stelle ich mir Fragen nach meiner Identität, und genau dann – wenn ich zum Beispiel in unserer kuschelig warmen Küche in Graz wieder mal anstatt zu Olivenöl zu steirischem Kürbiskernöl greife oder ich den Araber in mir auf andere Weise verwirre – genau dann tritt Alena mit ihrem treffsicheren weiblichen Instinkt auf den Plan. Punktgenau. Sie ertappt mich auf frischer Tat auf dem Höhepunkt meiner Identitätsverwirrung. Und sie stellt sich vor mich hin und sagt:
»Omar, wenn du so weitermachst, bist du bald ein gelernter Österreicher.«
Bin ich das?
Wikipedia hat ja für so gut wie alles einen Eintrag. Gelernter Österreicher findet sich dort natürlich auch. Da heißt es: Menschen mit besonderem Insiderwissen über Land, Leute und Gepflogenheiten. Sie gelten, lese ich weiter, als Kenner der Verhältnisse, sozial, politisch und so weiter.
Was auch immer das bedeuten mag.
Was auch auf Wikipedia steht, ist: Das Ganze ist ironisch gemeint. Oder selbstironisch. Je nachdem, wie lustig die Leute anderen oder sich selbst gegenüber aufgelegt sind. Und der Begriff, erfahre ich darüber hinaus, geht auf die Zeit des Schriftstellers Franz Grillparzer zurück. Ein Zeitgenosse von Johann Nestroy also, auf den ich auch schon gestoßen bin und der mir eine wunderbare Semmel-Geschichte geschenkt hat. Ich werde davon berichten. Damals, zu Grillparzers Zeiten, sagte man jedenfalls noch: geübter Österreicher. Später dann machte ein gewisser Friedrich Torberg den gelernten daraus.
»Torberg«, sagt Alenas Mama Ruth, »war einer der besonders scharfzüngigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Es gibt da dieses berühmte Buch von ihm, die Tante Jolesch, und darin diesen einen ganz besonders berühmten Ausspruch, den jeder kennt. Zumindest jeder, der auch weiß, wer Friedrich Torberg war.«
»Welchen Spruch, Ruth?«
Ruth sieht mich mit ihren direkten Augen an. Das war das Erste, was mir damals an ihr aufgefallen war, als ich sie als Alenas Mama kennenlernen durfte und zugleich furchtbare Angst hatte, sie könnte ein Problem mit mir haben. Einfach, weil ich Araber und Asylwerber war. Ruths direkte Augen. Ihr Blick, der anderen Blicken niemals ausweicht. Ihre so unglaublich ruhige Stimme. Ihr schönes, schwarzes, glänzendes Haar, das sie gerne auch mal zu einer Palme hochgebunden trägt. Ich, Omar, war für sie von Anfang an der junge Mann (und nicht einfach nur der Flüchtling), der in ihre Tochter verliebt war und ist. Und sie, Ruth, war für mich von Anfang an die Frau, die in die Ruhe verliebt ist.
Jetzt bin ich es, der sie aus direkten Augen ansieht. »Also, welchen Spruch, Ruth?«
»Was ein Mann schöner ist wie ein Aff’, ist ein Luxus.«
Muss ich das verstehen? Noch dazu, wenn ich gerade in den Spiegel blicke und an meinem gelockten Haar zupfe und mir überlege, was ich an mir zum Positiven verändern könnte?
Was ich verstehe, ist: Dieser Torberg liegt zwar (sagt mein Freund, der Journalist) auf dem ziemlich verwahrlosten Teil des alten jüdischen Friedhofs auf dem Zentralfriedhof in Wien, war und ist in den Herzen der Menschen aber immer noch eine große Nummer. Obwohl sich keiner um sein Grab schert. Und, was ich noch verstehe, ist: Gelernter Österreicher zu sein, hat viel mit Tradition zu tun. Tradition ist wichtig. Wie gut, denke ich, dass ich instinktiv die Kaiserin Sisi für den Titel meines zweiten Buches gewählt habe.
Alena setzt aber noch eins drauf. Weil von ihr lerne ich: Bist du, so wie ich, ein Zugezogener (Alena sagt, es heißt: Zuagrasta), und nennt man dich eines Tages, nachdem du eine bestimmte Reife im Hier-Sein erlangt hast, einen gelernten Österreicher, dann ist es vorbei mit Ironie oder Selbstironie. Dann ist der gelernte Österreicher plötzlich eine Auszeichnung.
Da soll sich einer auskennen.
Wir. Ihr. Zuagrast. Gelernt. Gewachsen. Das alles verwirrt mich mehr, als es mir hilft: Wer ist denn schon irgendetwas ganz und das andere gar nicht? Alena, zum Beispiel, ist Grazerin. Behauptet sie. Aber sie ist es nicht ganz. Weil geboren ist sie im Burgenland, und nach Graz kam sie erst, als sie schon ein paar Tage auf der Welt war. Und dann wieder gibt es den kleinen Josef. Er ist der Sohn eines Syrers, den ich schon lange kenne, und in Graz geboren. Trotzdem darf Josef sich nicht Grazer nennen. Weil seine Eltern beide keine sind. Wer ist nun was? Lässt sich das überhaupt bestimmen?
Und so plagt mich die Frage, wie es nach fünf Jahren mit mir aussieht, nur noch mehr.
»Was bin ich?«
»Da hat es einmal so eine Quizsendung gegeben«, sagt Ruth auf meine Frage. »Die hat genauso geheißen: Was bin ich? Das heitere Beruferaten. Sehr beliebt. Wir, die etwas älteren Semester, kennen das alle. Da gab es ein Schwein, in das bei jeder falschen Antwort Geld geworfen wurde. Nein, kein echtes Schwein, Omar. Ein Sparschwein.«
Alena verdreht die Augen und lacht. Und ich sitze nur noch wackeliger zwischen den beiden Sesseln der Kulturen und rutsche mit meinen Pobacken hin und her. Mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung. Mal mehr auf dem Sessel mit den vier Kamelbeinen (genau genommen sind es ja Dromedare, weil die arabischen nur einen Höcker haben). Dann wieder sitze ich mehr auf dem österreichischen Sessel, auf dem mit den vier Haustierpfoten. Ob Hunde oder Katzen oder Hasen. Egal, Hauptsache Klischee und Clash of Cultures.
»Was bin ich?«, frage ich Alena und Ruth ein zweites Mal. »Nach fünf Jahren zwischen den Kulturen?«
Bin ich das überhaupt, überlege ich still, während ich auf Antwort warte. Bin ich wirklich zwischen den Kulturen? Bin ich auf dem Weg von der einen zur anderen? Was trennt sie? Was verbindet sie? Sind das Arabische und das Westliche, wie es so schön heißt, Morgenland und Abendland, tatsächlich auf Crashkurs, wie ich oft zu hören bekomme? Weil es gar nicht anders geht? Statt Clash ein Crash of Cultures sozusagen?
»Du bist ein austro-arabischer Hybrid«, sagt Ruth.
»Du bist nicht Fisch und nicht Fleisch«, sagt Alena.
Dann lachen Mutter und Tochter aus ganzem Herzen.
Nicht Fisch und nicht Fleisch.
Ja, etwas Ähnliches kenne ich auch. Wir Araber (oder doch schon: Wir Österreicher?) lieben ja die Sprichwörter. Habe ich das schon erwähnt? Ja, wir lieben sie. Mehr als ihr. Mehr als wir.
Wir lieben Sprichwörter mehr als wir.
Das ist Blödsinn. Ihr. Wir. Was weiß denn ich. Jedenfalls haben (wir oder die) Araber wirklich für alles ein Sprichwort. Immer und überall. Und natürlich haben wir (oder sie) bei so gut wie keinem eine Ahnung, wo es herkommt und was es früher einmal bedeutet hat. Ach, das habe ich auch schon erwähnt?
»Das ist bei uns auch nicht anders«, sagt Alena. Alena hat es gut: Sie kann das einfach so sagen: bei uns.
Aber ich?
Und schon bin ich mittendrin gelandet. Bei uns. Das ist auch so eine Geschichte, die mich beschäftigt hat und die sofort als Stichwort in mein Notizbuch hineingesprungen ist, als ich angefangen habe, an Sisi, Sex und Semmelknödel zu denken. Eine Geschichte, die mich auch jetzt, nach Erscheinen des Buches, weiter beschäftigt. Ja, (Achtung, österreichischer Konjunktiv!!!) ich würde sogar sagen: mehr als je zuvor.
Würde. Sage ich es nun oder sage ich es nicht?
»Das«, sagt Alena, »verbindet unsere Kulturen auch.«
»Was?«, frage ich.
»Die Vielfalt und zugleich Ahnungslosigkeit.«
Damit kann ich leben. Weil es wirklich verbindet.
Alle Menschen sind klug, die einen vorher, die anderen nachher. Nur wenn es darauf ankommt, ist jeder dumm.
Genau. Auch arabisch. Damit müssen Sie leben, liebe Leserinnen und Leser. Mit meinen Sprichwörtern. Alena muss es auch. Aber wir einigen uns darauf: Ja, die/wir Araber haben für wirklich alles das passende Sprichwort. Und: Nein, sie/wir haben zumeist keine Ahnung, woher die Sprichwörter stammen und was sie ursprünglich bedeutet haben. Ach, das habe ich auch schon erwähnt?
»Ja, hast du«, sagt Alena. Alena, das ist übrigens auch jene Frau in meinem Leben, über die ich in meinem ersten Buch Danke geschrieben habe:
»Was ich weiß, hier in Graz, was ich gelernt … habe, sind auch diese Worte eines Schriftstellers: Wenn du einen Flüchtling liebst, versuche das letzte Zelt für ihn zu sein. Das ist Heimat. Und ich weiß, dass ich eine Frau gefunden habe, die für mich das letzte Gedicht war. Ist. Die mir Heimat ist. Und ich weiß: Ich bin angekommen. Ich darf eine Stimme haben für die tausenden, die keine mehr haben.«
Alena ist nicht das einzige, aber sie ist mein stärkstes Bindeglied zwischen den Kulturen. Eine Art Kupplung. Das Schöne daran ist: Auch Alena macht oft Augen groß wie ein Fladenbrot und frisch aus der Glut. Das bringt die Begegnung der beiden Kulturen, denen wir entstammen, einfach mit sich.
Ist das nicht wunderbar?
Und noch etwas habe ich in Danke geschrieben. Zum Thema Kultur.
»Kultur … ist etwas, das fast überall drinsteckt. Oder sollte. Im Körper. Im Geist. Im Verhalten. In der Kreativität. Im Boden eines Ackers. Ganz egal. Kultur ist Kraft. Zwei verschiedene Kulturen sind zwei verschiedene Kräfte. Wir können sie verwenden, um einander damit zu beschimpfen. Auszugrenzen. Zu hassen. Zu beschießen. Und zu töten. Oder wir können sie zu einer gemeinsamen Kraft bündeln. Wie einen Lichtstrahl, der aus vielen dünnen zu einem dicken wird und auf einen kleinen Mann auf einer Bühne fällt, der seine Beine nicht spürt.«
Dieser kleine Mann, der in dem Text seine Beine (vor Aufregung) nicht spürt, war ich. Damals. Bei meinem ersten Poetry Slam. Hier, in Österreich. Vor drei Jahren.
Aber: Jetzt ist Schluss mit den alten Geschichten. Wenn ich anfange, von mir selbst abzuschreiben, bin ich nicht besser als ein Politiker, der seine Doktorarbeit abschreibt oder sie sogar schreiben lässt und später in Brüssel als EU-Kommissar groß Karriere macht, sage ich mir. Soll ja schon vorgekommen sein. Dabei denke ich an meinen neugierigen Freund, der mich bestimmt schimpfen würde. Weil ich mich selbst zitiere und dabei alte Hüte aufwärme.
Sagt man das so? Alte Hüte aufwärmen? Warum wärmen Menschen ihre Hüte auf? Noch dazu alte?
Ich denke darüber nach und komme bald auf einen braunen Zweig. Nein, der Zweig ist grün. Vielleicht, sage ich mir, hat es ja mit dem Wetter hier zu tun. Ich würde es verstehen, wenn Menschen ihre Hüte aufwärmen und danach, wenn sie ofenwarm wie ein Fladenbrot sind, über den Kopf stülpen. Bis hinunter über die Ohren. Einfach, damit ihnen die Gedanken nicht einfrieren. Wie sonst sollen sie diese Kälte aushalten? Brrrrrrrrr.
Und dafür nehmen sie eben lieber alte Hüte her. Das leuchtet mir ein. Weil es bei alten Hüten ziemlich egal ist, wenn etwas schiefläuft und sie beim Aufwärmen auseinanderfallen. Oder sich verkriechen. Oder sich zusammenziehen, bis sie sooo klein sind. Wie wenn ein Mann in eiskaltes Wasser springt und dann nackt an sich hinabsieht und entdeckt, dass ER… na, Sie wissen schon. Sooo klein, wie man IHN auf der Herrentoilette nicht zu Gesicht bekommt. Weil man lieber in eine Fliesenwand starrt und schweigt. Und dem Hut, sage ich mir, geht es auch nicht besser. Kein Wunder. Bei den Temperaturen.
Apropos Hut: Ist der Hut, den Andreas Gabalier auf der Bühne trägt, auch so ein alter? Trägt Gabalier überhaupt Hut, wenn er singt? Oder singt er alte Hüte? Singt Gabalier überhaupt?
Ich weiß es nicht. Über Geschmack lässt sich ja nicht streiten, sagen wir Araber. Die Araber. Daran muss ich wohl noch arbeiten auf meinem Weg zum gelernten Österreicher. Ich muss gewisse Wissenslücken auffüllen wie der Zahnarzt einen hohlen Zahn. Was ich weiß, ist: Gabalier macht es auch mit dem Terminator. Der mit dieser besonders lustigen Variante des ohnehin schon lustigen steirischen Dialekts. Arnie rufen sie ihn hier. Ja, Arnie und der Gabalier. Das ist noch gar nicht so lange her. Mai, 2019. »Pump it up«, heißt der Titel, hab ich gelesen. Der … Song? Ein Duett jedenfalls. Oder sollte man besser sagen: Duell?
Wie auch immer. Das Ganze fügt sich nahtlos ein in die Reihe jener vielen Dinge hier, in Österreich, die mich ratlos zurücklassen. Und wo ich dann zu Alena gehe, sie in den Arm nehme und sage:
»Erklärst du es mir, bitte?«
Alena sagt nicht immer zu allem etwas. Bei Gabalier und Arnie zum Beispiel lächelt sie nur still und sehr rätselhaft. Aber sie klärt mich, einmal mehr, über etwas anderes auf. Darüber, was es mit den alten Hüten auf sich hat. Und mit dem Aufwärmen von alten Geschichten. Wie es richtig heißt. Bei uns.
Ya-iIlahi. Diese deutsche Sprache. Alena ist es übrigens auch zu verdanken, dass ich gelernt habe, meine Winterjacke zuzumachen. Reißverschlüsse an Jacken haben in Syrien meist nur dekorativen Charakter. Sie sind eine Möglichkeit, die du wahrnimmst. Oder nicht.
Wie das Bezahlen von Steuern. Oder das Beantragen einer Steuernummer (mit der man hier, wie ich höre, fast schon geboren wird). In Syrien und anderen arabischen Ländern ist all das nichts weiter als eine Möglichkeit. Eine von vielen kreativen Chancen, dein Leben in die eine oder andere Richtung zu lenken. Nicht einmal eine dringende Empfehlung. Aber, wie gesagt: Alles schön der Reihe nach. Wir waren ja hier stehengeblieben:
Bei uns.
Und bei dem Film, den mir mein neugieriger Freund ans Herz legt. Nein, nicht ans Herz legt. Er besteht darauf, dass wir ihn uns ansehen.
»Das ist Kult, Omar« sagt er.
Die Kultur in Österreich liegt mir. Warum nicht auch etwas, das hier Kult ist? Also folge ich artig und klappe den Laptop auf.
Es beginnt mit fröhlicher Musik aus einer Panflöte, dazu sehr rhythmische Trommelklänge wie aus dem afrikanischen Busch. Dann sehe ich ein erstes Insert in fetten gelben Buchstaben: Fremde Länder, fremde Sitten. (Dabei fällt mir als integrierter Halb-Österreicher spontan ein, was die Männer hier gerne sagen, wenn sie auf Herrenurlaub unterwegs sind: Fremde Länder, fremde Titten – aber bleiben wir doch lieber bei dem Film):
Denn gleich danach folgt schon die Kernbotschaft: Kayonga Kagame zeigt uns die Welt. Zu sehen ist ein schwarzafrikanischer Filmemacher, der seine Kamera auf der Schulter trägt und sich mit einem angespannten Lächeln langsam von einer Seite zur anderen dreht. So, als würde er gerade filmen und dabei staunen.
Wo bin ich hier gelandet?
Eine Sekunde danach weiß ich es, denn der zweiteilige Titel des Filmes wird nach und nach eingeblendet:
Erster Teil: Das unberührte und rätselhafte Oberösterreich.
Zweiter Teil: Das Fest des Huhnes.
Mein Freund, der Journalist, lacht bereits das erste Mal, und ich habe keine Ahnung warum. Natürlich werde ich Ihnen jetzt nicht den ganzen Film nacherzählen. Den finden Sie jederzeit über Google. Er stammt aus dem Jahr 1992, ist also nur ein Jahr kürzer auf der Welt als ich es bin.
Aber für alle, die ihn nicht kennen, ein paar Worte, worum es da geht: Afrikanische Forschungsreisende haben sich ins Herz von Europa aufgemacht, um für diese bei den Afrikanern scheinbar sehr beliebte Sendereihe das ursprüngliche Leben der Alpenstämme zu ergründen.
Man habe bei der Abreise aus Kinshasa, heißt es, keine allzu großen Erwartungen gehabt. Erstens, weil die allermeisten Stämme (wie zum Beispiel Salzburger und Tiroler) weltbekannt und darum längst erforscht seien. Zweitens, weil man bei ähnlichen Reisen nach Asien oder Amerika erkannt habe, dass ein übergroßes Interesse der übrigen Welt die traditionellen Stammessitten zerstöre.
Die Mission der filmenden Ethnologen lautet: Sofort Kontakt mit Eingeborenen aufnehmen und herausfinden, welchem Aberglauben sie anhängen. Tatsächlich gelingt es dem Forscherteam nach anfänglichen Schwierigkeiten, vier eingeborene Brüder als Träger der Ausrüstung und kundige Führer durchs Land zu gewinnen.
Diese Brüder heißen Himmelfreundpointner. Was für ein Name. Rudolf, Sepp, Karl und Franz Himmelfreundpointner.
Die Bilder sind bunt, die Vielfalt der Themen des Filmes ist es auch: rituelle Tänze; ein als Blockhütte verkleidetes Boot; Menschen beim Kartenspielen (Schnapsen); Frauen, die goldene Hauben tragen; Männer, die in Tracht auf und ab springen und sich dabei mit der flachen Hand abwechselnd auf Oberschenkel und Schuhsohlen schlagen (Alena sagt, das heißt schuhplatteln); Menschen, die scheinbar ziellos auf Fahrrädern durch die Gegend fahren, ohne von einem Ort zum anderen gelangen zu wollen; Menschen (vor allem Männer), die um die Wette trinken, nein: saufen; Menschen, die auf Biertischen stehen und schreien; Menschen, die massenweise Hühner essen. Und ein Mensch, der so ein Huhn (lebend) auf dem Kopf trägt. Oder ist es ein Hahn? Und, ganz zum Schluss, auch noch ein sehr lustiger Tanz, wo mein Freund, der Journalist, begeistert ruft:
»Jö, der Vogerltanz!«
Er ist begeistert wie ein Kind, das zum ersten Mal ein Feuerwerk sieht. Obwohl er den Film bestimmt schon oft gesehen hat. Davon bin ich überzeugt. Am Ende, stellt sich heraus, ist die ganze bunte Vielfalt der Bilder diesem einen Gedanken untergeordnet: Dass man möglicherweise Zeuge geworden ist, wie in einem fernen Land eine neue Religion entsteht. Weil die Menschen sich von ihrem alten Gott abgewendet und einem neuen zugewendet haben.
Darum heißt es auch: Das Fest des Huhnes.
Die ganze Zeit über (55 Minuten lang) bin ich hin und her gerissen. Zwischen Lachen und Staunen. Zwischen Ungläubigkeit und Nachdenklichkeit. Ja, einiges davon habe ich auf gewisse Weise hier auch schon erlebt. Anderes wiederum erscheint mir so fremd und absurd, dass ich es nicht glauben kann. Nein, so ist das hier nicht. Deshalb kann ich selbst auch nie so werden. Auch nicht als der vorbildhafteste gelernte Österreicher, der frei herumläuft.
Wir klappen den Laptop wieder zu und mein Freund sieht mich forschend an.
»Nun?«
»Was ich zu dem Film sage?«
»Nein, das habe ich in deinem Gesicht gelesen. Außerdem hast du ständig den Mund offen gehabt beim Ansehen und deinen Senf dazugegeben. Worum es in dem Buch geht, will ich wissen. Im Detail.«
»Also gut«, sage ich nach einigem Zögern. »Da dreht es sich um Themen wie … zum Beispiel das Sozialsystem.«
»Mir schlafen gerade die Füße ein.«
»Warum?«, frage ich. »Sitzt du schlecht?«
»Vor Langeweile, Omar. Sozialsystem. Schnarch. Gähn.«
»Okay«, sage ich rasch. »Gemeint ist mehr … Sozialbetrug. Auch.«
»Schon besser. Aber ich gähne immer noch.«
»Okay, okay. Es geht – auch – um Prost … Prosti … Prostitu … Prost, Prost, Prost … verdammtes Zungenbrecher-Deutsch.«
»Prostitution?« Jetzt ist mein beinahe eingeschlafener Freund doch wieder hellwach.
»Ja«, sage ich und blicke vorsichtig in Alenas Richtung. Sie ist zu unserem inzwischen erwachten Sohn gegangen und ziemlich beschäftigt. Drüben im Wohnzimmer. Oder sie ist höflich genug, so zu tun, als wäre sie ziemlich beschäftigt. »Darum geht es auch«, sage ich etwas leiser. Jetzt flüstere ich fast schon. »Aber nicht um meine eigenen Erfahrungen damit. Die habe ich nämlich nicht.«
»Natürlich nicht!«, sagt mein Freund. »Was noch, Omar?«
(Dazu nur kurz: Sie hätten, liebe Leserinnen und Leser, den Gesichtsausdruck meines Freundes sehen sollen, als er »Natürlich nicht!« gesagt hat. Als würde ich die Unwahrheit sagen! Dabei fällt mir ein kleines Gedicht ein, das ich zum Thema Wahrheit einmal verfasst habe. Es trägt auch genau diesen Titel:
Wahrheit!!!
»Wenn die Armut ein Mann wäre,
hätte ich ihn getötet.« Ali bin Abi Talib
»Die Wahrheit ist ein Fluch.
Suchend nach ihr töten wir einander.«
»Wenn die Wahrheit ein Mann wäre,
hätte ich ihn getötet.«
Die Wahrheit ist weiblich!
»Was noch, Omar?«, fragt mein neugieriger Freund also.
»Essen.«
»Na, was denn sonst. Komm schon, Omar. Ich will einen echten Kracher hören. Einen Hammer.«
»Bürokratie und Bestechung.«
»Immerhin«, murrt mein Freund.
»Woher kommt das Wort?«, frage ich.
»Welches Wort? Immerhin?«
»Nein. Bürokratie. Kommt das von Büro?« Das würde passen, überlege ich. Wenn ich an die vielen Büros denke, die ich schon gesehen habe, ohne sie sehen zu wollen. Amtsstuben nennt man sie hier auch. Mit Stuben verbinde ich eher etwas Gemütliches. Bauernstube zum Beispiel. Oder so eine wie auf einer der Hütten beim Skifahren auf dem Nassfeld. Auch wenn Alena sagt, dass das bloß Folklore ist und nichts echtes Altes, nichts Traditionelles und Gewachsenes, und ich einmal mehr keine Ahnung habe, was sie damit meint.
»Bürokratie?« Mein Freund, der österreichische Journalist, weiß auch nicht so recht. Endlich einmal. Al-hamdu li-Llāh. Gott sei Dank. Nur die Vermutung spricht er aus, dass ich vielleicht gar nicht so weit daneben liege.
Einen Kracher will er also hören. Einen Hammer. Zum Thema Hammer fällt mir auch sofort etwas aus dem Arabischen ein. Aber ich hebe es mir auf. Für später.
Später werde ich übrigens auch auf Wikipedia nachlesen, was es mit der Bürokratie auf sich hat. Bürokratie, steht dort, ist die Herrschaft der Verwaltung. Irgendwann einmal, als Latein kurz davor war, sich von einer lebenden zur toten Sprache zu verabschieden, weil der Mensch ja immer schon dazu neigt, es zu übertreiben in seiner Gier nach immer weiter, immer schneller, immer höher, immer größer … irgendwann also, kurz vor dem Aussterben, hat der spätlateinische Wortstamm burra grober Wollstoff bedeutet.






