- -
- 100%
- +
Vermeiden Sie es beim Bekunden von Wertschätzung für die Gefühle Ihres Kindes, zu dramatisieren oder Ihre eigene emotionale Reaktion hinzuzufügen. Wenn wir dramatisieren, ist es wahrscheinlich, dass sich das Kind noch tiefer in seine Geschichte hineinsteigert; wenn es dagegen unsere wohlwollende Haltung erlebt, kann es laut weinen oder toben und dann sein eigenes „Drama“ sehen und darüber lachen oder zumindest mit einer positiven Einstellung nach vorne blicken. Lizzie und ihr Bruder konnten mit der Realität Frieden schließen, weil man ihnen intensiv zuhörte und ihre Geschichte gleichzeitig nicht an Dramatik gewann. Ich vermied es zu dramatisieren. Weder bewertete ich die Situation, noch bot ich Auswege an, was impliziert hätte, dass die Lage schlimm wäre. Kinder springen förmlich aus ihrem Unglück heraus, wenn ihnen aktiv und wohlwollend zugehört wird und wenn sie damit fertig sind, sich auszudrücken.
S.A.L.V.E. für die Kommunikation
Viele Eltern fragen nach konkreten Worten, die ihnen helfen können, ihre Wertschätzung zu bekunden und zu bestärken, anstatt zu negieren. Die S.A.L.V.E.-Formel kann ein Werkzeug sein, um Ihnen beim Wechsel hin zum Bestätigen der Erfahrungen Ihres Kindes zu helfen, damit es seine Gefühle annehmen und authentisch und kraftvoll handeln kann.
S – Sondern Sie sich durch ein stummes Selbstgespräch vom Verhalten und den Emotionen Ihres Kindes ab. Das ist der schwierigste Schritt; sobald Sie ihn geschafft haben, ist der Rest einfach. Achten Sie darauf, wie Ihr Inneres Ihnen Worte in den Mund legt, wenn etwas, was das Kind getan hat, Sie zu einer Reaktion bewegt. Es ist wie ein Computer, der selbst Programme startet: Ihr Kind tut etwas, und ein Fenster öffnet sich automatisch in Ihrem Inneren. Dies wäre harmlos, wenn Sie das, was darin steht, nicht laut vorlesen würden. Wenn Sie aus der Fassung sind, ist es falsch, sich nach diesen Worten zu richten. Es würde die Situation nur verschärfen. Es ist nicht das, was Sie wirklich sagen wollen. Es entspricht nicht Ihrer wirklichen Absicht und ist daher unauthentisch. Der Beweis dieser Unauthentizität ist, dass Sie Ihre Worte und Handlungen später bereuen und dass Letztere Mauern zwischen Ihnen und Ihrem Kind entstehen lassen.
Um zu vermeiden, dass Sie Ihr Kind verletzen, lesen Sie die Worte in diesem automatischen Fenster stumm in Ihrem Kopf. Werden Sie sich der Worte bewusst, die Sie beinahe gesagt hätten, und lassen Sie Ihrer ganzen Äußerung, einschließlich bildlicher Vorstellungen, Maßnahmen, die Sie ergreifen wollen, oder Erinnerungen aus Ihrer Vergangenheit in Ihrem Inneren, freien Lauf. Das dauert weniger als eine Minute und schadet niemandem. Was Sie empfinden, ist für Sie allein bestimmt und kein Grund für Handlungen oder Äußerungen. Es ist eine alte Aufzeichnung, nicht der Mensch, der Sie in der Gegenwart sind.
Anfangs brauchen Sie für diese Erforschung Ihrer eigenen Gedanken vielleicht länger als diese eine Minute. Fangen Sie an, indem Sie sich Ihrer Gedanken einfach bewusst werden und sie so stehen lassen. Schreiben Sie Ihre Gedanken auf, damit Sie später gründlicher daran arbeiten können. Im Lauf der Zeit werden Sie größere Kontrolle über Ihr Inneres gewinnen und den ganzen kurzen Prozess auf der Stelle durchführen können.
Gedankenerforschung
• Prüfen Sie die Gültigkeit der Worte hinter Ihrer Aufregung, Wut, Sorge oder Kritik. Sind es wirklich Ihre Worte? Glauben Sie das wirklich? Gedanken wie, „sie wird es nie lernen“, „er sollte sich nicht so verhalten“ oder „sie sollte wissen, dass sie Verantwortung übernehmen muss“, sind alte Aufzeichnungen, die vielleicht nicht einmal Ihre eigene Meinung widerspiegeln. Vielleicht ist es das, was andere sagen; vielleicht sind es Ihre Ängste, Ihre Erinnerungen oder Ihre eigenen Ambitionen. Was sie auch sein mögen, sie stehen Ihrer Fähigkeit, Ihr Kind so, wie es ist, zu lieben und zu verstehen, im Wege.
• Werden Sie sich bewusst, was diese Gedanken mit Ihnen machen, wenn Sie sie ernst nehmen. Stellen Sie sich vor, wie Sie Ihr Kind behandeln würden, wenn Sie diesem Gedanken Folge leisteten.
• Überlegen Sie, wer Sie wären, wenn Ihnen dieser Gedanke nicht in den Sinn käme. Ohne den Gedanken können Sie frei sein und auf Ihr Kind eingehen, statt auf Ihr eigenes Selbstgespräch. Versuchen Sie sich vorzustellen, Sie ständen mit Ihrem Kind in derselben Situation, jedoch ohne den Gedanken, der Sie dazu bewegt zu negieren und zu kontrollieren. Der Gedanke wird nicht verschwinden. Er gehört Ihnen. Stellen Sie sich nur vor, wer Sie ohne ihn sind. Ohne Ihren Gedanken, der Sie einschränkt, kann Ihr wirkliches, bedingungslos liebendes Selbst zum Vorschein kommen.
• Prüfen Sie, ob das, was Ihre Gedanken Ihnen über Ihr Kind suggerieren, nicht ebenso auf Sie zutrifft. Gewöhnlich sehen wir bei anderen Menschen Dinge, die wir selbst auf uns bezogen hören sollten. „Er sollte sich nicht so verhalten“ wird zu „ich sollte mich … mit meinem Kind nicht so verhalten.“ „Sie wird es nie lernen“ kann auch ein Aufruf an Sie sein, selbst besser zu lernen, wie Sie sich als Mutter oder Vater verhalten können, und „sie sollte wissen, dass sie Verantwortung übernehmen muss“ kann ein wichtiger Wegweiser für Ihre eigene Fähigkeit sein, für die Reaktionen Ihres Inneren und für andere Bestandteile Ihres Lebens Verantwortung zu übernehmen.
Sobald Sie sich einmal der Gedanken, die Sie in die Irre führen, bewusst geworden sind, werden Sie entdecken, dass Sie wirklich voll bedingungsloser Liebe sind; statt in Ihrer eigenen Sorge um das Kind gefangen zu sein, werden Sie mit nichts als Ihrer Liebe, wie sie immer war und ist, für es da sein. Wenn Sie sich von Ihren störenden Gedanken frei gemacht haben, beginnt das Licht des Menschen, der Sie wirklich sind, zu leuchten, und Sie sehen Ihr Kind in diesem liebenden Licht.
A – Aufmerksamkeit auf Ihr Kind richten. Wenn Sie die Unterhaltung in Ihrem Kopf (die mit Ihrem Kind nichts zu tun hat) still ergründet haben, wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit von sich selbst und Ihrem inneren Monolog ab und Ihrem Kind zu.
L – Lauschen Sie auf das, was Ihr Kind sagt oder worauf sein Verhalten hindeuten kann; dann hören Sie noch weiter zu. Halten Sie Augenkontakt mit Ihrem Kind und stellen Sie Fragen, die ihm Gelegenheit geben, noch mehr zu sagen, oder wenn sich das Kind nonverbal ausdrückt, die es wissen lassen, dass Sie es verstehen.
V – Äußern Sie Verständnis und Wertschätzung für die Gefühle Ihres Kindes und die Bedürfnisse, die es ausdrückt, ohne zu dramatisieren und ohne Ihre eigene Wahrnehmung hinzuzufügen. Lauschen und Verständnis sind die Zutaten von Liebe (lv). Wenn Ihnen dies gelingt, schaffen Sie eine Verbindung zu Ihrem Kind und fühlen sich präsent und sich selbst gegenüber authentisch.
E – Ermutigen, bestärken Sie Ihr Kind, seinen eigenen Kummer zu bewältigen, indem Sie ihm freie Bahn lassen und ihm vertrauen. Zeigen Sie Zuversicht, dass es sich zu helfen wissen wird, indem Sie sich nicht aufregen und nicht versuchen, alles schnell in Ordnung zu bringen. Kinder bringen selbst ihre Bitten, Lösungen und Ideen vor, wenn sie wissen, dass man ihnen vertraut, und wenn sie sich fähig und frei von elterlichen Erwartungen oder Emotionen fühlen. Emotionen behindern die Fähigkeit, kraftvoll zu handeln. Sobald diese Gefühle ausgedrückt sind, gewinnt das Kind wieder Freiheit und Durchblick und lässt entweder seinen Wunsch fallen oder entwickelt eine Lösung. Auf schnelle, natürliche Weise wird Ihr Kind das tun, was Sie bei Ihrer Selbsterforschung getan haben.
Der neunjährige Clint weinte, weil seine Schwester Joy das Monopolyspiel mit ihm nicht zu Ende spielen wollte. „Ich will das Spiel zu Ende spielen. Ich war so nah dran zu gewinnen!“, schrie er.
Ella, die Mutter der beiden, hätte beinahe „Gerechtigkeit“ durchgesetzt, doch dann nahm sie sich Zeit, ihre persönliche Reaktion vom Streit ihrer Kinder abzusondern und ein stummes Selbstgespräch in ihrem Kopf zu führen (S von S.A.L. V.E.). Sie stellte sich vor, wie sie Joy anschreien, sie als rücksichtslos und gemein bezeichnen und ihr befehlen würde, das Spiel zu Ende zu spielen. Dann prüfte sie diese Gedanken und wurde sich darüber klar, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen; ihre Tochter war überhaupt nicht gemein, und ihre Fähigkeit, sich zu behaupten, war etwas Gutes. Daraufhin konnte sie den Gedanken hinter sich lassen und die nächsten Schritte tun: Clint (A) Aufmerksamkeit zu schenken und (L) zu lauschen, ihm zuzuhören.
„Du warst also schon ganz aufgeregt, weil du die Chance zu gewinnen hattest. Bist du enttäuscht, dass du das Spiel nicht zu Ende spielen konntest?“ „Ich bin stinksauer. Ich will das Spiel zu Ende spielen“, beharrte Clint. „Ich weiß, du willst das Spiel zu Ende spielen, aber Joy will nicht.“
„Ich war so nah dran zu gewinnen, und deshalb hat sie aufgehört“, sagte Clint.
Ella bekundete weiterhin Verständnis und Wertschätzung und lauschte ihrem Sohn, änderte jedoch nicht die Realität für Clint. Sie ermutigte, bestärkte ihn, indem sie sich nicht einmischte und seine Realität nicht „in Ordnung brachte“. Damit drückte sie aus: „Ich höre dich, ich sehe kein Problem, und ich weiß, dass du damit umgehen kannst.“
Nach einer Weile war er fertig und fing über etwas anderes zu sprechen an. Das, was Clint zu sagen hatte, wurde gehört. Er fühlte sich mit seiner Mutter, die Verständnis und Wertschätzung für seine Gefühle bekundete und die Fakten gemäß seiner Wahrnehmung wiederholte, verbunden. Sie fügte keine Dramatik hinzu; sie mischte ihre eigenen Gefühle oder Ansichten nicht dazu. Ihr Vertrauen und ihre verlässliche Gegenwart ermöglichten es Clint, nach vorne zu blicken.
Junge Kinder und das Sprechen über Gefühle
Wenn man sagt, dass jemand traurig, verärgert oder enttäuscht ist, versteht das ein jüngeres Kind vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Junge Kinder fühlen sich am ehesten bestätigt, wenn Tatsachen wahrgenommen werden. Bei einer Telefonberatung schilderte mir eine Mutter die Erfahrung, die sie mit ihrer Tochter im Schwimmbad gemacht hatte.
Orna (5) kam aus dem Schwimmbecken und weinte verzweifelt, weil sie länger dableiben wollte. Das Schwimmbad würde gleich schließen. Ihre Mutter Donna zog sie an, um das Gebäude zu verlassen. Während sie Orna anzog, spiegelte Donna die Erfahrung ihres Kindes, indem sie die Tatsachen beschrieb:
„Du spielst so gern im Wasser. Wolltest du noch viel länger spielen?“ Orna antwortete: „Ja, ich wollte noch mehr hüpfen.“
Donna fuhr fort: „Ich weiß. Du wolltest noch nicht aus dem Wasser raus, und man hat uns gesagt, wir müssten raus.“
Orna hörte auf zu weinen und sagte: „Ich bin so gern im Schwimmbad.“ „Ja“, sagte Donna, „und du magst es nicht, wenn du aus dem Wasser raus musst.“
„Mama“, erwiderte eine ruhige Orna, „es macht mir jetzt nichts mehr aus. Ich will nach Hause gehen.“
Donna beschrieb nur die Tatsachen, und Orna konnte problemlos einen Bezug dazu herstellen und fühlte sich bei ihrer Mutter zufrieden. Von sich aus klammern sich Kinder nicht an schmerzlichen Gefühlen fest. Sie blicken kraftvoll nach vorne, weil sie keinen Berg von Geschichten um jedes Gefühl herum haben. Vermeiden Sie es, ihnen beizubringen, sich in Selbstmitleid zu ergehen, wie Erwachsene es oft tun. Erwachsene hören manchmal gar nicht damit auf und versuchen, ein Schuldgefühl beim anderen zu erzeugen, oder sie geben sogar der Kultur oder der Regierung die Schuld. Derartige Gewohnheiten wollen Sie Ihrem Kind sicher nicht beibringen. Bekunden Sie Wertschätzung, erwarten Sie jedoch von Ihrem Kind, den Blick nach vorne zu wenden und seine Gefühle nicht allzu ernst zu nehmen; und lernen Sie von Ihrem Kind. Emotionen sind etwas, was man herauslassen kann, wie Schweiß oder Stuhlgang. Emotionen müssen wahrgenommen werden, damit sie einem nicht im Weg stehen, genau wie Schweiß abgewaschen werden muss. Sobald das Bedürfnis des Kindes, verstanden zu werden, befriedigt ist, wird es den Blick nach vorne wenden. Seine Fähigkeit, nach vorne zu blicken, wird auch verhindern, dass es sich an der Episode festklammert und eine Geschichte daraus macht, die seine Einstellung für den Rest seines Lebens negativ beeinflusst.
Wenn das Bekunden von Wertschätzung zur Beleidigung wird
Manchmal kann das Bekunden von Wertschätzung in den Augen des Kindes seine Privatsphäre und Autonomie verletzen. Ein Kind kann Ihre anteilnehmenden Worte als Beleidigung auffassen, wenn es wegen etwas, das Sie getan oder gesagt haben, verärgert oder unglücklich ist; auch kann es sein, dass ein Kind das Bekunden von Wertschätzung unabhängig vom Grund seines Ärgers ablehnt. Ihr Kind braucht die Freiheit zu entscheiden, ob es seine Gefühle offen legen will oder nicht.
Vielleicht will es gar nicht, dass man erwähnt, dass es wütend oder traurig ist. Im Wesentlichen sagt das Kind: „Wenn ich unglücklich bin, lass mich, aber sag mir nicht, dass du mich siehst.“ Wenn ein Kind ein solches Bedürfnis nach stummem Zuhören hat, ist ihm wahrscheinlich jedes Wort, das wir sagen, unangenehm:
Die fünfjährige Amber baut einen Turm. Der Turm fällt um, und sie ärgert sich. Da kommt ihre Großmutter ins Zimmer und spiegelt: „Oh, ärgerst du dich? Wünschst du, der Turm wäre nicht umgefallen?“
Amber wirft die noch stehenden Bauklötze um und schreit: „Sag nichts!!!“ Die Großmutter sitzt still da und erkennt ihren Fehler.
Amber wirft sich auf den Boden und schiebt die Bauklötze wütend hin und her. Sie brüllt: „Blöde Bauklötze, blöder Fußboden, blöde Amber!“ Sie wirft noch mehr Bauklötze durch das ganze Zimmer. Die Großmutter schweigt, ist aber präsent, und Amber reagiert auf ihre Aufmerksamkeit, indem sie sich ganz ausdrückt. Als sie fertig ist, steht sie auf, sammelt die Bauklötze ein und baut ruhig einen Turm.
Schweigen heißt nicht Gleichgültigkeit. Schenken Sie dem Kind Ihre volle Aufmerksamkeit, aber erwähnen Sie es nicht. Es ist dem Kind auch unangenehm, wenn seine Gefühle erwähnt werden, wenn es verlegen ist oder Angst hat. In solchen Fällen können Sie entweder nichts sagen und aufmerksam bleiben oder das Kind bestärken, indem Sie Ihre eigene menschliche Schwäche betonen und dem Kind von einer ähnlich peinlichen Episode in ihrem Leben erzählen, wie es mein Klient Adi tat:
Während Adi im Garten arbeitete, ging seine vierjährige Tochter Ruthi nach drinnen und goss sich ein Glas Milch ein. Dabei verschüttete sie etwas Milch auf den Tisch und den Küchenfußboden. Als Adi ins Haus kam und die verschüttete Milch sah, wäre er beinahe herausgeplatzt: „Warum hast du mich nicht gefragt, ob ich dir helfen kann? Du weißt doch, dass du das nicht alleine kannst.“ Doch stattdessen atmete er tief ein; hörte diese Worte stumm in seinem Inneren (S von S.A.L.V.E.) und merkte, dass sie keinen Nutzen für ihn hatten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit (A) Ruthi zu. Ihm wurde klar, dass sie sich bemüht hatte, ihn nicht bei seiner Arbeit zu stören, und sich deshalb ohne seine Hilfe ein Glas Milch eingegossen hatte. Er kam näher auf sie zu und sagte fröhlich: „Wie ich sehe, hast du dir ganz allein Milch eingegossen.“
Ruthi antwortete: „Ja, und etwas ist daneben gegangen.“ Sie sah mit fragendem Blick zu ihrem Vater auf.
„Das ist mir neulich passiert, als ich bei Opa war“, sagte er. „Ich hab Saft verschüttet. Ich kam mir ganz ungeschickt vor, aber Opa hat gelächelt und mir ein Tuch gegeben. Es ist ganz leicht aufzuwischen.“ Ruthi lief aus der Küche und holte ein Tuch, das sie ihrem Vater gab. Es war nicht die Art Tuch, die Adi benutzt hätte, um den Boden auf zu wischen, doch er nahm das Tuch lächelnd an und wischte die Milch auf.
Indem er Ruthis Leistung, sich selbst ein Glas Milch einzugießen, wahrnahm und würdigte, behandelte Adi sie genauso, wie er einen Gast behandelt hätte, der versehentlich Milch verschüttet hätte. Adi gab seine eigene Ungeschicklichkeit zu und bekundete Ruthi dadurch seine Wertschätzung, ohne sie mit Worten, die ihre Gefühle bloßlegen, in Verlegenheit zu bringen. Als sie erkannte, dass sogar ihr Vater manchmal ungeschickt war, fühlte sie sich wieder wohl. Als sie das „falsche“ Tuch brachte, kritisierte Adi sie nicht und nahm auch kein anderes Tuch. In diesem Beispiel entstand durch ein Missgeschick eine tiefere Bindung zwischen Vater und Tochter, und die Selbstachtung und Würde des Kindes blieben intakt.
Gefühle der Wut, Worte der Liebe
Manchmal empfinden wir trotz unserer Absicht, zu lieben und freundlich zu sein, gegenüber einem Kind Ärger oder sogar Zorn. Der Auslöser muss nichts Großes sein. Wir alle haben unsere Erinnerungen an Schmerz und Scham, die an die Oberfläche kommen, wenn wir mit auch nur vage ähnlichen Situationen konfrontiert werden.
Wir erinnern uns nicht unbedingt an irgendetwas, aber die mit diesen Erfahrungen assoziierten Gefühle überfluten unser Inneres. Die S.A.L.V.E.-Formel (stummes Selbstgespräch, Aufmerksamkeit auf das Kind richten, Lauschen, Verständnis und Wertschätzung, Ermutigen) mit besonderer Betonung auf dem ersten Schritt kann hier hilfreich sein.
Ärger und heftige Reaktionen verdecken oft andere schmerzliche Gefühle. Häufig sind das Gefühle, derer wir uns aufgrund von Angst und Unbehagen, die in unseren früheren Erfahrungen wurzeln, nicht bewusst sind. Wenn es für Sie als Kind nicht sicher war, zu weinen, Aufmerksamkeit zu verlangen und sich ganz auszudrücken, haben Sie diese Gefühle wahrscheinlich schon vor langer Zeit unterdrückt. Was in der Gegenwart passiert, läuft automatisch ab: Die schmerzlichen Gefühle werden sofort „weggeschoben“, und Ärger tritt in den Vordergrund, weil er als akzeptabler gilt und man sich weniger verletzlich fühlt, als wenn man seine Traurigkeit oder seine Tränen zeigt.
Doch Ärger gibt uns nicht die Befreiung, die wir brauchen, weil er mit einer Schuldzuweisung einhergeht. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit von uns weg nach außen lenken (Schuldzuweisung), verhindert das, dass wir unsere Gefühle der Verletzlichkeit wahrnehmen. Wenn wir den Gedanken, die unseren Ärger auslösen, nicht auf den Grund gehen, bleiben wir unvollständig und oft noch ärgerlicher und klammern uns mehr an der schmerzlichen Position des Opfers (Schuldzuweisung) fest.
Bevor Sie als Reaktion auf ein unerwartetes Verhalten Ihres Kindes handeln oder etwas sagen, denken Sie nach (Selbstgespräch). Sprechen Sie die ersten Worte, die Ihnen in den Sinn kommen, nicht aus. Dies sind die Worte, die Ihr Kind wahrscheinlich verletzen und das Problem verschärfen würden; zwar werden diese Worte nicht verschwinden, aber Sie können lernen, sie nur als Gedanken und nicht als Wahrheit anzusehen. Bei diesem Prozess können Sie sich sogar von Ihrem Kind helfen lassen. Bitten Sie es, Sie daran zu erinnern: „Nimm dir Zeit, Mama“ oder „Denk einen Moment nach, Papa.“ Ihrem Kleinkind können Sie eine „Flagge“ geben, die es zur Erinnerung schwenken kann. Solche vereinbarten Hinweise können Ihnen signalisieren, sich eine „Auszeit“ für sich selbst zu nehmen, um Ihr inneres Selbstgespräch vom Problem Ihres Kindes und von Ihrem authentischen Selbst zu trennen. Kümmern Sie sich zuerst um Ihre Gefühle, dann können Sie die Freiheit erlangen, sich auf das Kind zu konzentrieren.
Das Kind ist der Auslöser, nicht die Ursache Ihres Ärgers; es ist nicht verantwortlich für Ihre Gefühle. Es hat etwas getan, woraufhin sich ein altes Programm in Ihrem inneren Computer geöffnet hat und verlangt, dass Sie tun, was es sagt. Diese Reaktion läuft automatisch ab, ob Sie wollen oder nicht; aber Sie können entscheiden, ob Sie dem Programm Folge leisten wollen oder nicht. Sie können Ihr eigener innerer Zuhörer sein und innerlich Dampf ablassen, damit Sie sich frei von diesen alten Reaktionen um Ihr Kind kümmern können. Wenn Sie sich etwas Zeit genommen haben, um Ihr Selbstgespräch von der Situation zu trennen, und wenn Ihnen klar geworden ist, dass die Gedanken, die Ihren Ärger auslösen, nicht wirklich dem Menschen entsprechen, der Sie sind, und nichts mit der Gegenwart zu tun haben, gelingt es Ihnen vielleicht, sie einfach wahrzunehmen, so stehen zu lassen und Ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind zu schenken. Später können Sie, wenn Sie wollen, einen Zuhörer finden, einen Freund oder einen Therapeuten, um Ihre eigene Gefühlserforschung abzuschließen. Sie können es auch selbst tun. Schreiben Sie jeden Gedanken auf, der bei Ihnen Ärger erzeugt, und prüfen Sie seine Gültigkeit für Sie, welche Gefühle und welches Verhalten der Gedanke bei Ihnen auslöst und wie Sie ohne diesen Gedanken reagieren würden. Überlegen Sie dann, ob vieles von dem, was Sie von Ihrem Kind erwarten oder wie Sie es bewerten, nicht ebenso nützlich für Ihr eigenes inneres Wachstum sein könnte.
Seien Sie liebevoll zu sich selbst. Das Wichtigste ist, keine Urteile über Ihre Gedanken oder Fantasien zu treffen; sie sind kein authentischer Ausdruck des Menschen, der Sie sind, und der Mutter oder des Vaters, die oder der Sie sein wollen. Nehmen Sie sich etwa eine Minute Zeit, um sich in Ihrem Inneren ganz auszudrücken. Sie können sich vorstellen, wie Sie schreien, schlagen, schimpfen, drohen, strafen oder was auch immer tun würden, das Ihnen in den Sinn kommt. Lassen Sie Ihren inneren „Film“ laufen, bis er zu Ende ist und Sie zufrieden sind, und fragen Sie sich dann, ob er für die Gegenwart wirklich relevant ist und dem Menschen entspricht, der Sie sind. Sie werden froh sein, sich nicht nach diesem Film gerichtet zu haben.
Wenn Sie sich die Freiheit und Liebe gönnen, alles ungehindert durch Ihren Kopf strömen zu lassen, nimmt das nur wenig Zeit in Anspruch, gibt Ihnen aber Ihre Kraft und Ihre Liebe zurück. Sie beobachten Ihre Gedanken nur und betrachten den Inhalt Ihres Ärgers. Wenn Sie noch eine Minute Zeit haben, schreiben Sie diese Gedanken auf und prüfen ihre Gültigkeit für die momentane Situation. Nachdem Sie sich durch diesen „Wahrheitsprozess“ hindurch gearbeitet haben, werden Sie sich viel besser in der Lage fühlen, sich auf die Gegenwart und die unschuldige Absicht Ihres Kindes zu konzentrieren. Eine Mutter, die auf meinen Rat hörte, erzählte mir die folgende Geschichte:
Während Wendy ein Nickerchen hielt, beschloss der neunjährige Emory, sie zu überraschen, indem er die Lasagne zubereitete, die sie an dem Abend zu einer Party mitnehmen wollten. Als Wendy aufwachte und in die Küche kam, um die Lasagne zuzubereiten, fand sie Emory dort vor: Er war ganz mit Tomatensoße beschmiert, stand mitten in einer Tomatenpfütze, und Tofu und Käse waren auf der ganzen Arbeitsplatte verteilt. Eine Backform war mit Zutaten gefüllt, die wie Lasagne aussehen sollten, für Wendy jedoch eher wie Kartoffelpüree in Tomatensuppe aussahen. Wendy war kurz davor zu explodieren. Sie hatte keine Zeit, um vor der Party noch das ganze Chaos zu beseitigen und eine richtige Lasagne zu machen. Sie atmete tief durch und dachte an S.A.L.V.E. Im Geiste sah sie, wie sie schrie und fluchte, Emory aus der Küche zog und ihm verbot, zu der Party zu gehen. Nachdem die Worte und Fantasien der Wut unausgesprochen durch ihr Inneres geströmt waren, wandte sie ihre Aufmerksamkeit Emory zu. Bevor sie den Mund aufmachen konnte, sagte Emory: „Mama, ich hab die Lasagne gemacht. Wir müssen sie nur noch backen und hier aufräumen. Du kannst noch ein bisschen schlafen gehen.“
Wendy, die jetzt die liebevolle Absicht des Kindes erkannte, lächelte und sagte: „Danke. Was für eine Überraschung. Ich fühl mich ausgeschlafen. Kann ich dir beim Aufräumen helfen?“
Emory nahm die Hilfe seiner Mutter an. Wendy fiel auf, dass die Lasagne jetzt nicht mehr so schlimm aussah wie vorher, als sie wütend gewesen war. Emory war stolz auf sich, und Wendy lernte eine wichtige Lektion. Mutter und Sohn hatten einen wunderbaren Abend zusammen.
Wendy gelang es nicht nur, ihre Aufmerksamkeit zu verlagern und das, was ihr Sohn getan hatte, erfreut wahrzunehmen, sondern durch ihr Schweigen gab sie ihm auch die Möglichkeit, die ersten Worte zu sagen, die alles lösten. Wenn wir uns ärgern, ziehen wir oft voreilig Schlüsse, ohne die Tatsachen und Absichten hinter dem Verhalten des Kindes zu sehen. Zu warten, bis ein Kind das Gespräch beginnt, kann dem Ärger den Wind aus den Segeln nehmen und Klarheit in die Situation bringen.