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Während Muhammad also über den Reichtum, den er einmal besitzen würde, tagträumte, verlor er nie seinen Sinn für Humor. Dieser Humor, für den er in seinem späteren Leben so bekannt war, zeigte sich schon in seiner Kindheit. Überhaupt machte es ihm viel Spaß, Leuten Streiche zu spielen – meist in unendlichen Varianten, die er sich für jeden einfallen ließ, von dem er glaubte, dass er darauf hereinfallen würde, aber ganz speziell für mich. Eines Tages kam ihm die grandiose Idee, mich dazu zu bringen, wie am Spieß zu schreien. Er band eine lange Schnur um die Vorhänge in unserem Zimmer. Um meine Aufmerksamkeit zu erregen, zog er an der Schnur, während er gemütlich auf seinem Bett lag.
„Hey, Rudy“, sagte er, „in unserem Haus spukt ein Geist!“
Das Nächste, was unsere Eltern mitbekamen, war, dass ich sie schreiend aufweckte, um ihnen zu sagen, dass es bei uns spukte. Vater sprang auf und rannte in unser Zimmer, um nachzusehen, was los war, und durchschaute den Trick sofort.
„Cassius Junior, willst du wohl sofort damit aufhören, solche Scherze mit deinem kleinen Bruder Rudolph zu treiben!“, erinnere ich mich, ihn sagen hören.
Dabei war er noch ganz verschlafen, und er verwendete den vollen Namen meines Bruders, um zu zeigen, wie ernst es ihm war – nicht, dass dies Muhammad jemals abgeschreckt hätte, weiterzumachen.
„Ich habe dich richtig gut drangekriegt, Rudy“, wiederholte er immer wieder und bog sich dabei vor Lachen. Das hätte sein Slogan sein können.

Muhammad bewunderte alles an unserer Nachbarschaft. Unsere Nachbarn waren insgesamt recht nett, und die allgemeine Stimmung war die einer engen Gemeinschaft. Doch das, was ihm am meisten gefiel, war, dass ihm die Umgebung unendlich viele Gelegenheiten bot, zusammen mit gleichgesinnten Kindern Unfug und Chaos zu stiften. Wie ich bereits erwähnt habe, war mein Bruder einer der Rädelsführer unter den Kindern in unserem Viertel, hochgekommen aufgrund der natürlichen Hierarchie, die sich immer einstellt, wenn genügend Kinder zusammenkommen. Ich war dabei sein permanenter Kumpan, doch ich überließ es immer ihm, zu führen, während ich mich im Hintergrund hielt, vor unserem Haus auf der Veranda saß oder in dem kleinen Restaurant um die Ecke. Es gab auch eine andere Ecke, abseits der wachsamen Augen unserer Eltern, wo wir spielten und würfelten.
Klar hatten wir auch Spielzeug, wenn unsere Eltern es sich leisten konnten, und spielten damit, aber wie andere Kinder bastelten wir uns auch eigenes. So banden wir eine Schnur um das Ende eines Besens, nahmen den Stiel zwischen die Beine, und schon hatten wir ein Pferd und rannten unter lautem Gejohle die Straße auf und ab, als gäbe es keine anderen Sorgen auf dieser Welt. Und wie alle Jungs spielten wir natürlich auch Cowboy und Indianer mit den anderen Kindern. Muhammad, der wie immer alles bestimmte, bestand darauf, der Cowboy zu sein, und sagte, dass ich den Indianer spielen musste. Damals wurden die Cowboys in den Westernfilmen immer als die Guten porträtiert, und die Indianer waren die Bösen. Mein Bruder wollte immer der Gute sein, denn die Guten gewannen immer.
Natürlich war das alles nur Spiel und Spaß, aber bereits in jungen Jahren begannen mein Bruder und ich, miteinander zu konkurrieren. Da wir beinahe gleich alt waren, wetteiferten wir bei fast allem, was wir taten. Vor allem Muhammad wollte bei jedem Spiel oder Wettbewerb, bei dem er mitmachte, gewinnen, und es machte keinen Unterschied, ob es darum ging, wer schneller war oder höher springen konnte, oder ob wir mit Murmeln oder Verstecken spielten. Verlieren war keine Option. In den 1950er-Jahren war Pro Wrestling sehr beliebt, und auch unsere Eltern waren davon begeistert und sahen sich immer die Kämpfe im Fernsehen an, zumindest dann, wenn der Fernseher in unserem Haus funktionierte. Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass mein Bruder alles nachspielen wollte, was die Wrestler im Fernsehen taten – auf meine Kosten natürlich.
Das Ganze konnte auch schon einmal etwas ausarten, wenn wir versuchten, uns gegenseitig im Wohnzimmer niederzuringen, aber es war bei Weitem keine einseitige Sache. Als Kind war ich immer etwas größer und kräftiger gebaut als er, der viel schlanker und recht schlaksig war. Bevor er mit dem Boxen anfing, war mein Bruder eigentlich nie wirklich besonders daran interessiert, Sport zu betreiben – und es gab viele andere Kinder, die körperlich weit beeindruckender aussahen als er, auch wenn er schnell und ehrgeizig war.
Was den Sport anbelangt, so konnte er sich nie so recht mit Basketball oder Baseball anfreunden, jenen Sportarten, die fast alle Jungs in unserem Alter so oft wie möglich spielen wollten. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Haus unseres Freundes Adrian, gab es ein brachliegendes Areal, auf dem wir uns immer trafen, und obwohl Muhammad sich nicht besonders für organisierten Sport interessierte, spielte er trotzdem aus Spaß mit. Allerdings war er kein Fan von Tackle Football, denn es erschien ihm ironischerweise als zu brutal. Dafür spielte er gerne die entschärfte Variante, Touch Football, da er ein sehr guter und beweglicher Läufer war, der sich unseren Versuchen, ihn zu berühren und damit zu stoppen, immer wieder entzog, genauso wie er später einmal um die besten Boxer seiner Generation herumtänzelte. Und schon damals auf dem Spielplatz begann er zu prahlen. Der Nervenkitzel, wenn er einer Herausforderung gegenüberstand, schien einen Schalter bei ihm umzulegen, und er rief: „Ich bin zu schnell für dich!“, während er über die Wiese sprintete. „Du kannst mich nicht einholen! Du kannst mir zusehen, wie ich den Touchdown mache!“
Und dieses Selbstbewusstsein konnte er dank seines erstaunlichen, natürlichen Bewegungstalents meist auch rechtfertigen.
Glücklicherweise waren Muhammad und ich meist im selben Team, genauso wie wir den Großteil unseres restlichen Lebens zusammen verbrachten, und diese Sommertage in unserer Kindheit blieben uns immer in Erinnerung. Damals waren wir einfach arglose Kinder mit grenzenloser Energie. Muhammad sorgte immer für Stimmung und versuchte allem, was er anfasste, eine Portion Begeisterung einzuhauchen. Im Gegenteil zu mir, der alles meist viel zu ernst nahm – zumindest, wenn man meinem Bruder Glauben schenken durfte. Obwohl ich mich eigentlich mit meiner Rolle abgefunden hatte – immerhin war ich 18 Monate jünger –, gab es Momente, in denen dann doch eine gewisse Frustration hochkam. Aber selbst dann wurde es nur sehr selten handgreiflich. Mutters stilles Missfallen und Vaters etwas handfestere Herangehensweise verhinderten gröbere Auseinandersetzungen. Abgesehen davon war dieser Konkurrenzkampf zwischen uns nur von Vorteil für mich. Muhammad wollte gemocht und anerkannt werden. Das war ihm schon mit der Muttermilch mitgegeben worden. Immer wieder versuchte er, andere zu beeindrucken und sich von der Gruppe abzuheben. Es gab jedoch eine Sache, bei der ich meinen Bruder ausstechen konnte, und wie es das Schicksal wollte, war es genau das, was ihn am meisten ärgerte.
Einfach gesagt: Es fiel mir immer leicht, mit Mädchen zu sprechen. Ja, das klingt vielleicht überraschend, aber als wir Teenager waren, interessierten sich die Mädchen mehr für mich als für meinen Bruder. Und ich hatte bereits lange vor ihm Freundinnen. Die Mädchen in der Nachbarschaft und in der Schule kannten uns beide, und Muhammad himmelte sie still aus der Ferne an, denn es fehlte ihm das Selbstvertrauen, sie anzusprechen. Wenn es darum ging, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würden, war er wie gelähmt. Egal wie sehr er sich bemühte, seine Schüchternheit zu verstecken, sie war immer zu bemerken. Trotz seines typisch dreisten Verhaltens und seines entwaffnenden Lächelns war ein Zurücklächeln alles, was er bekam, zumindest in diesen prägenden Jahren unserer Jugend. Es klingt vielleicht recht eigenartig, aber damals sahen einige Mädchen meinen Bruder als das, was man heute als „Nerd“ oder Sonderling bezeichnet – zumindest sagten mir das einige, mit denen ich sprach, denn er spielte kein Football oder Basketball, die Sportarten für „richtige“ Männer. Es lag definitiv nicht an seinem Aussehen. Es hatte mehr mit seiner Persönlichkeit zu tun, die hinter dem draufgängerischen Äußeren mit ihren eigenen Stolpersteinen zu kämpfen hatte. Seine Versuche, dies zu kompensieren, machten die Situation meist noch schlimmer für ihn. So lief er neben dem Schulbus her und rief die Namen von Mädchen und Jungen, und die meisten Mädchen versanken in ihren Sitzen und schämten sich mehr für ihn als für sich selbst.
Muhammad konnte es nicht leiden, dass ich die Aufmerksamkeit der Mädchen auf mich zog, und damals war dies vielleicht das Einzige, was einen Keil zwischen uns als Brüder hätte treiben können. Auf dem Heimweg von der Schule, zum Beispiel, stieg ich meist früher aus dem Bus, um meine Freundin nach Hause zu begleiten und noch eine Weile bei ihr abzuhängen. Die folgende Szene spielte sich nicht nur einmal ab: Meine Freundin und ich hingen also bei ihr zu Hause ab, bis wir ein Klopfen an der Tür hörten. Als wir öffneten, stand da mein Bruder mit unschuldigem Gesicht.
„Hey, Rudy, Mom sagt, du sollst sofort nach Hause kommen oder es gibt Probleme“, war der Standardsatz. „Sie hat mir gesagt, ich soll dich holen gehen und du sollst dich sofort auf den Weg machen!“
Da ich Angst davor hatte, Probleme zu Hause zu bekommen, entschuldigte ich mich bei meiner Freundin, rannte so schnell ich konnte die etwa vier Häuserblocks nach Hause und dachte immer darüber nach, weswegen ich Probleme bekommen sollte.
„Was ist denn los, Mom?“, fragte ich sofort, als ich ins Haus kam, nur um in das ahnungslose Gesicht unserer Mutter zu blicken, die ganz überrascht schien, dass ich da war, und keine Ahnung hatte, wovon ich sprach.
Immer wieder und wieder fiel ich auf Muhammads Masche herein, und er wiederholte diese Scharade, wann auch immer er sich danach fühlte. Ich habe ihn mehr als einmal beschuldigt, das alles nur aus Eifersucht zu tun. Ein paarmal stritten wir auch deswegen. Das war die einzige Zeit in unserer Jugend, in der mich mein Bruder wirklich zornig machte. Das war kein Spiel, in dem er mich schlagen konnte, und es muss ihn wirklich geschmerzt haben, seinem kleinen Bruder dabei zuzusehen, wie er ihn in einer Sache, die er nicht so ganz verstand, so ausstach. Trotzdem, egal wie hitzig unsere verbalen Auseinandersetzungen waren, es gab keine Phase während unserer gesamten Kindheit, in der wir uns deswegen geprügelt hätten. Kein Mädchen konnte unser Verhältnis zueinander kaputt machen.

Ob wir nun hinter Mädchen herjagten, Touch Football spielten oder uns selbst Spiele ausdachten – unsere Eltern hatten eine goldene Regel, die mit aller Strenge durchgesetzt wurde und die lautete, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein mussten. Das war nichts Ungewöhnliches zu jener Zeit, als Kinder meist frühmorgens das Haus verließen und den ganzen Tag auf der Straße verbrachten, wo sie allerlei Unfug trieben, bevor sie bei Sonnenuntergang wieder nach Hause zurückkehrten. Die meisten Leute in unserem Viertel konnten sich den Luxus einer Armbanduhr nicht leisten. Mein Vater hatte allerdings eine einfache Lösung für das Problem: „Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, wie spät es ist. Schau lieber, dass du wieder zu Hause bist, bevor die Straßenbeleuchtung angeht, sonst gibt’s Saures.“
Also spielte sich immer das Gleiche ab. Sobald es dunkel wurde, ging die Straßenbeleuchtung an, und wir liefen alle nach Hause. Doch nicht immer ging es sich rechtzeitig aus. Wenn wir zu spät kamen, wurden wir nach guter alter Tradition mit einer Tracht Prügel im Badezimmer bestraft. Muhammad ging immer als Erster, während ich vor der Tür wartete, bis Vater mich hineinrief, nachdem er mit meinem Bruder fertig war. Muhammad hatte nichts für Vaters harte Bestrafung für unser Zuspätkommen und andere Vergehen übrig, doch der hatte seine eigenen Vorstellungen, wie die Dinge zu regeln waren. Man kann sagen, Vater nahm seine Pflicht, uns Grenzen zu setzen, sehr ernst. Diese Art, wie er seine Stimme erhob und einen gemeinen Blick aufsetzte, der sich über sein Gesicht zog und die bevorstehende Bestrafung ankündigte.
Meist sah er, wie wir aus Furcht vor der Bestrafung schon ganz steif dastanden, doch da war es bereits zu spät. Regeln waren dazu da, um befolgt zu werden, und Vater stellte sicher, dass wir sie auch ernst nahmen. Vielleicht war es das und einige andere Dinge, warum Muhammad am Ende seiner Teenagerjahre auf Distanz zu unserem Vater ging. Damit meine ich nicht, dass sich die beiden zerstritten hätten, aber dieses spezielle Verhältnis, das sich zwischen Vätern und Söhnen oft bildet, war bereits verloren, bevor es wachsen konnte.
Gegenteilig zu dem, was so einige Biografen schrieben, würde ich niemals sagen, dass unsere Kindheit in Louisville von häuslicher Gewalt geprägt war. Erstens tat Vater niemandem absichtlich und grundlos weh. Die meiste Zeit über dachten Muhammad und ich nicht einmal an seine Vorstellung von Disziplin, denn wir brachen die Regeln immer wieder aufs Neue und verschwendeten keinen Gedanken an die Konsequenzen. Natürlich disziplinierte unser Vater uns hin und wieder mit einer Tracht Prügel, doch in den 1940er- und 1950er-Jahren war das ein weithin akzeptiertes und als notwendig angesehenes Mittel. Kindern den Hintern mit dem Gürtel zu versohlen, war sicherlich nichts Außergewöhnliches in der afroamerikanischen Gemeinde, vor allem wenn das Brechen von Regeln ernste Konsequenzen haben konnte. Im Nachhinein erkannte Muhammad, dass Vater es nur gut meinte, und akzeptierte, dass es nur zu unserem Besten gewesen war. Denn es war wirklich gefährlich, spät abends noch unterwegs zu sein, vor allem in unserer Gegend, und egal was er sich sonst noch dabei dachte, unser Vater wollte nicht, dass seine Kinder in die üblen Dinge, die nachts auf den Straßen passierten, verwickelt wurden. Schon damals waren Drogen ein Problem, genauso wie Raubüberfälle, Schlägereien und brutale Messerstechereien, und als Vater zweier schwarzer Jungs hatte er noch viel mehr Sorgen, die er sich machen musste. In den 1950er-Jahren gerieten in einigen Teilen der USA die Vorurteile Farbigen gegenüber völlig außer Kontrolle. Die Gewalt, die von verschiedenen rassistischen Gruppierungen angezettelt wurde, war speziell in den Südstaaten weitverbreitet, und Louisville war nicht weit davon entfernt. Als Jugendlichen wurde es Muhammad und mir schnell bewusst, dass die Tatsache, dass wir schwarz waren, uns anders machte. In unserer Stadt versuchten die Schwarzen, auf ihrer Seite zu bleiben und sich sozusagen in Selbstisolation zu begeben. Wir hatten so gut wie keine Probleme in unserem Viertel, doch in anderen Gegenden wurde man immer mit seiner Hautfarbe konfrontiert. Die Lage war sehr angespannt, und Schwierigkeiten lauerten an jeder Ecke.
Vor allem eine Geschichte zeichnet ein gutes Bild, wie Diskriminierung in unserer Jugend als etwas Alltägliches akzeptiert wurde. Als Muhammad acht war, nahm Mutter ihn mit in die Stadt. Als sie wieder nach Hause kamen, liefen Tränen über seine Wangen. Es stellte sich heraus, dass er durstig gewesen und vor einem Laden gestanden war und weinend um Wasser gebeten hatte – nur, dass der Laden Farbige nicht bediente. Mutter nahm ihn bei der Hand, ging in den Laden und bat die Verkäuferin um ein Glas Wasser, doch die Frau – so erzählte Mutter später – hatte Angst. Sie erzählte unserer Mutter, dass sie ihren Job verlieren würde, wenn sie „Neger“ bediene. Da stand also ein kleiner, schluchzender Junge, der weinte und nur um ein wenig Wasser bat, um seinen Durst zu stillen, und seine Mutter konnte ihm nicht einmal Wasser in einem Laden in seiner Heimatstadt kaufen. Der Vorfall gipfelte darin, dass ein Wachmann zu Mutter und Muhammad ging und sie aufforderte, den Laden zu verlassen, damit die Situation nicht noch weiter eskaliere. Mutter vermied Konfrontationen und machte auch kein großes Aufheben darum, doch dieser und andere Vorfälle erinnerten meinen Bruder und mich permanent daran, dass wir im Prinzip nur zweitklassige Bürger in unserer eigenen Stadt waren.
Unsere Hautfarbe bestimmte, wo wir hin essen gehen konnten, wo unser Vater arbeiten konnte, in welchen Parks wir spielen durften und wie wir behandelt wurden, wenn wir gegen das Gesetz verstießen. Es war etwas, das Muhammad und ich lange mit uns herumschleppten. Obwohl Mutter für uns beide beinahe wie eine Weiße aussah, wurde sie im Alltag wie eine Farbige behandelt, und selbst als wir uns daran gewöhnt hatten, konnten wir es nie akzeptieren. Vor allem Muhammad fragte unsere Eltern oft, warum Menschen mit schwarzer Hautfarbe so viel Leid ertragen mussten.
Es war zum Teil dieses politische Klima, das – selbst als wir bereits Teenager waren – dafür verantwortlich war, dass Muhammad und ich uns allein nie weit weg vom West End begaben. Wir waren von unseren Eltern und anderen Leuten aus unserer Community gewarnt worden und wussten, was uns unter Umständen in einer Stadt zustoßen konnte, die so weitgehend „aufgeklärt“ war wie Louisville. Die einzigen Schwierigkeiten, in die wir gerieten, waren weiter weg vom West End – wenn wir uns in den falschen Teil der Stadt, dorthin, wo nur Weiße lebten, wagten. Trotzdem, die Tatsache, dass wir so eingeschränkt waren, war ein Stachel, der sehr tief saß. Es kam nicht selten vor, dass einige weiße Jungs in ihren Autos vorbeifuhren und rassistische Beleidigungen brüllten. „Hey, Nigger, was machst du hier?“, riefen sie uns zu und versuchten, uns damit zu provozieren und in eine Situation zu bringen, die schnell gefährlich werden konnte. Natürlich machte es uns was aus, doch mein Bruder und ich taten unser Bestes, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Schließlich waren wir uns der brutalen Schlägerattacken und Lynchmorde, die in Gegenden wie Mississippi noch immer stattfanden, bewusst. Der tiefe Süden war zwar eine andere Welt, doch es war eine Welt, die uns unsere Eltern immer wieder in Erinnerung riefen, indem sie uns Bilder des entstellten Gesichts von Emmet Till zeigten, dessen Mörder freigesprochen wurden, und uns damit vor Augen hielten, wie es uns ergehen könnte, wenn wir aus Hass und Wut zurückschlagen würden.
Trotz all dieser Spannungen und auch wenn er seiner eigenen Frustration immer wieder einmal Luft verschaffen musste, hat Muhammad nie jemanden schikaniert. Das kann ich bezeugen. Ja, er war schon auch ein Großmaul, und er hatte definitiv die körperlichen Voraussetzungen und das Können, seinen Worte Nachdruck zu verleihen, aber meines Wissens nach gab es niemanden in unserer Schule oder Gegend, der jemals behauptet hätte, dass mein Bruder ein gemeiner Kerl gewesen wäre. Ich habe niemals gesehen, dass er jemandem etwas getan hätte, der es nicht selbst herausforderte. Wir waren so eng miteinander, dass man sein letztes Geld darauf verwetten hätte können, dass ich mit von der Partie war, egal wohin er ging. Unsere Eltern waren ziemlich deutlich, als sie meinten, dass wir immer aufeinander achtgeben müssten, wenn sie nicht dabei waren, egal wohin wir gingen. Muhammad war stolz darauf, dass ich sein kleiner Bruder war. Er war mein Beschützer, und alle Kinder, die uns kannten, wussten genau, wie nahe wir uns standen. Sie wussten, dass sie sich nicht einfach mit einem Bruder anlegen konnten. Nein, da musstest du dich schon mit beiden anlegen. Wenn es jemand auf Muhammad abgesehen hatte oder versuchte, sich mit ihm anzulegen, war ich sofort zur Stelle und verteidigte ihn wie ein Tiger, auch wenn ich wusste, dass ich den Kampf verlieren würde. Man konnte nicht gegen meinen Bruder kämpfen, ohne dass ich mich einmischen würde, und Muhammad ging dazwischen, wenn jemand versuchte, mir etwas zu tun. Natürlich wurden wir so in einige Raufereien verwickelt, und als Muhammad dann zwölf war, erkannten wir beide, dass wir anscheinend ein Talent fürs Kämpfen hatten.
DER BEGINN EINES TRAUMS
Es war im späten Oktober 1954, als das Fahrrad meines Bruders gestohlen wurde.
Das Rad, ein weiß-rotes Schwinn,
war ein Weihnachtsgeschenk gewesen und sollte eigentlich für uns beide sein, doch mein Bruder fuhr weit öfter damit als ich. Damals fuhren Kinder überall mit ihren Rädern hin – zum Laden ans Eck, aber auch zusammen mit Freunden durch die Stadt auf der Suche nach Abenteuern aller Art. An jenem Tag hatten wir erfahren, dass eine Heimmesse in der 4th Street im Zentrum von Louisville stattfand, und Muhammad und ich sowie ein weiterer Freund machten uns auf den Weg dorthin, um uns das Treiben anzusehen. Wir stellten unsere Fahrräder an einem Geländer neben dem Ausstellungsgebäude ab, wo wir dachten, dass sie sicher wären, und gingen dann hinein, um einen vergnüglichen Nachmittag zu verbringen. Und wir hatten auch unseren Spaß. Es gab Stände mit Haushaltswaren und Kleidung, aber auch Kioske, die Essen und Snacks anboten, sowie schicke Autos. Zur Unterhaltung der Besucher, die mit ihren Familien gekommen waren, gab es dazu auch Livemusik.
Nach etwa drei Stunden beschlossen wir, wieder zu gehen und heimzufahren. Wie schon erwähnt, war es bei uns zu Hause eine der wichtigsten Regeln, rechtzeitig wieder daheim zu sein. Wir gingen also zurück zu unseren Fahrrädern, doch als wir dort ankamen, waren sie verschwunden – gestohlen. Geschockt und aufgebracht begann mein Bruder zu weinen. Einerseits war es ein Weihnachtsgeschenk unserer Eltern, doch vielmehr hatte Muhammad Angst davor, dass uns unser Vater eine ordentliche Tracht Prügel erteilen würde, wenn er von unserer Nachlässigkeit erfuhr. Als dann auch andere Leute aus dem Gebäude kamen, schluckten wir unsere Tränen hinunter und fragten, wo wir einen Polizisten finden könnten. Ein Mann zeigte auf ein Gebäude nebenan, und so machten wir uns auf den Weg, um den Diebstahl zu melden.
Noch immer mit Tränen in den Augen betraten wir einen großen Kellerraum, und das Erste, was wir hörten, waren dumpfe Schläge und Ächzen sowie das Geräusch von Sprungseilen, die auf den Boden klatschten, und von Fäusten in Boxhandschuhen, die auf schwere Sandsäcke einschlugen. In dem Raum befand sich etwa ein halbes Dutzend Männer und ältere Burschen, die verschiedene Boxübungen machten. Das war keine Polizeistation, sondern ein Fitnessstudio, doch auf der anderen Seite des Raums stand ein Mann mittleren Alters in einer Polizeiuniform.
Sein Name war Joe Martin. Er war gerade dabei, einigen Burschen die Feinheiten einer guten Boxstellung zu erklären, als wir zu ihm hinübergingen. Muhammad hatte sich nun gesammelt und sprach ihn an: „Entschuldigung, mein Herr, wir waren gerade oben bei der Ausstellung, und als wir wieder rauskamen und zu unseren Fahrrädern gingen, waren sie nicht mehr da. Jemand hat sie gestohlen. Können Sie uns vielleicht helfen, sie wiederzubekommen?“
Martin, der wie ein Gentleman aussah, nahm die Beschreibung der gestohlenen Räder auf und sagte uns, er würde eine Anzeige schreiben. Allerdings ließ er uns nicht gehen, ohne für sich selbst Werbung zu machen: „Übrigens“, sagte er nebenbei, als der offizielle Teil erledigt war, „warum kommt ihr beiden Jungs nicht morgen noch einmal vorbei, sagen wir gegen sechs Uhr abends, dann könnt ihr boxen lernen.“
Plötzlich hatte Muhammad, der noch immer ganz verweint aussah, dieses herausfordernde Funkeln in den Augen und erklärte diesem imposanten Polizisten, dass er dem Dieb eine ordentliche Abreibung verpassen würde, wenn er ihn zu fassen bekäme. Martin, der, wie wir mit der Zeit lernen sollten, ein sehr geduldiger Mann war, hörte sich den Schwall an Drohungen an, bevor er meinem Bruder vorschlug, er solle zuerst lieber kämpfen lernen, vor allem boxen, bevor er überhaupt über so etwas nachdenken könnte. Wir wussten nur wenig über das Boxen und hatten uns nie ernsthaft überlegt, diesen Sport zu betreiben, doch wie sich herausstellen sollte, war Muhammad so verzaubert von dem, was er da sah, von dem Geruch und der Atmosphäre in der Boxhalle, dass er darüber beinahe sein Fahrrad vergaß. Martin hatte die Anzeige aufgenommen und wiederholte noch einmal die Öffnungszeiten des Boxstudios und gab Muhammad ein Mitgliedsformular mit nach Hause. Noch immer um den Verlust seines Fahrrads besorgt, aber ganz aufgeregt, diesen Sport einmal auszuprobieren, nahm mein Bruder das Stück Papier freudig entgegen.
Um es gleich vorwegzunehmen – das Fahrrad tauchte nicht mehr auf. Was allerdings etwas überraschend war, dass unsere Eltern Verständnis zeigten, als wir ihnen von dem Diebstahl erzählten, und unser Vater unsere Nachlässigkeit ignorierte. Das Interesse meines Bruders am Boxen bestand allerdings weiter, und so wurde er Mitglied in Joe Martins Boxstudio, und ich folgte ihm, so wie immer.






