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Für all meine Lehrer und Lehrerinnen
meine Schülerinnen und Schüler.
Möge der Segen der Übertragungslinien
uns alle befreien.
Vorwort von Stephen Batchelor
Dank
Schreibweise und Aussprache von Begriffen und Namen in Pali, Sanskrit und Tibetisch
Einführung
♦Buddhas tausend Gesichter – Legenden und Lehren Erleuchteter
Das Leben des Buddha – Dharma heute
♦Siddhartha Gautama, der Erwachte
Weggefährten des Buddha
♦Ananda, Beschützer der Buddha-Lehre – Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft
♦Sariputta und Moggallana – Meister der Weisheit, Meister der übersinnlichen Kräfte
♦Mahakassapa, der große Asket – Abkehr und Hingabe
Die erste Sangha der Frauen
♦Mahapajapati, die Mutter der Nonnen-Sangha – Entschlusskraft und Meisterschaft auf dem Weg zur Befreiung
♦Khema Theri, anmutige Königin, weise Nonne – Befreiung vom Anhaften an Schönheit und Glanz
♦Uppalavanna, die Erniedrigte, die alles Leid überwindet – Wahres Glück ist nur im Innern zu finden
♦Ambapali, die Kurtisane mit dem großen Herzen – Achtsamkeit, Freigebigkeit, Hingabe
Die Meister des Großen Mitgefühls
♦Asanga – Auf der Suche nach bedingungsloser Liebe
♦Shantideva – Alles Glück der Welt entsteht aus dem Wunsch, andere glücklich zu sehen
♦Atisha – Radikale Transformation von Herz und Geist
Die furchtlosen, weisen Frauen vom Himalaya
♦Mandarava – Prinzessin und Mahasiddha
♦Yeshe Tsogyal – Wilde Königin des All-Guten
♦Ma-chig Lab-drön – Das Abtrennen der Dämonen
Die Große Vollendung
♦Patrul Rinpoche – Erleuchteter Vagabund
Die Kammatthana-Waldtradition
♦Ajahn Mun – Spiritueller Kämpfer in Thailands Dschungel
Die Weisen vom Lande des Schnees
♦Je Tsongkhapa – Weiser Erneuerer der Dharma-Lehre
♦Geshe Rabten – Unerschütterlich wie ein Berg
Die Erkenntnis-Meditation wird wiederentdeckt
♦Anagarika Munindra – Unbeschwerte Hingabe auf dem Weg
Anhang
♦Bibliografie
♦Anmerkungen
♦Autor / Kontakte
Vorwort
von Stephen Batchelor
Versuchen Sie sich, eine Zukunft vorzustellen, in der alles, was vom Buddhismus geblieben ist, Texte sind: Alte Schriften und Kommentare in Vers und Prosa, ausgezeichnet erhalten und verwahrt in alten Klöstern, Tempeln und Bibliotheken. Sie vertiefen sich in diese Texte und finden tiefgründige Philosophien, detaillierte Meditationsanleitungen und bedeutungsvolle Erwägungen zu moralischen und ethischen Werten. Wenn aber niemand mehr am Leben wäre, der diese Lehren in die Praxis umsetzte, würden diese Schriften im besten Fall Faszination erwecken oder wehmütige Sehnsucht nach einer längst entschwundenen Vergangenheit entfachen. Im schlechtesten Fall wären sie so leblos und bedeutungslos wie hieroglyphische Anrufungen an den ägyptischen Gott Horus.
Damit der Buddhismus eine lebendige Tradition bleibt, braucht es mehr als nur Texte. Er muss sich in Menschen verkörpern – in Leuten wie Sie und ich –, welche die transformative Kraft des Dharma in ihr Leben einbringen. Ich zweifle sehr daran, dass meine Motivation stark genug gewesen wäre, mein eigenes Leben dieser Praxis zu widmen, wäre ich nicht lebenden, atmenden, menschlichen Beispielen des Dharma begegnet. Denn jene, die mich buddhistische Philosophie, Meditation und Ethik lehrten, taten mehr, als nur Informationen über diese Themen zu vermitteln. Sie offenbarten mir durch ihr lebendiges Beispiel und ohne viele Worte ihre ganz persönliche Art, in dieser Welt zu wirken. Wenn sie redeten, lag die Bedeutung von dem, was sie sagten, nicht nur in den Worten, die sie äußerten, sondern in der Art und Weise, wie sie diese äußerten: den Rhythmen, den Kadenzen, der Sprache, der Gestik und des Lachens, den bedeutungsvollen Pausen zum Nachdenken, der Ernsthaftigkeit, Leidenschaft und Entschlossenheit, mit der sie ihre Lehren verkörperten.
In dieser Sammlung ist es Fred von Allmen gelungen, den Dharma sowohl anhand der Lebensgeschichten buddhistischer Meister und Meisterinnen als auch durch deren Lehren darzulegen. Dadurch werden wir daran erinnert, dass es in der Praxis des Buddhismus nicht nur darum geht, sich theoretisches Wissen anzueignen oder tiefe meditative Zustände zu erlangen, sondern ebenso darum, das, was man gelernt und erfahren hat, in Worte und Taten zu übertragen, die auch das Leben anderer berühren. Buddhas Leben selbst ist genauso sehr eine Dharma-Belehrung, wie es seine im Kanon aufgezeichneten Lehrreden sind. Was er tut, ist genauso bedeutungsvoll wie das, was er sagt. Man mag zum Beispiel darüber erstaunt sein, wie wenig er in den Sutras über Mitgefühl oder »spirituelle Freundschaft« zu sagen hat. Aber diese Grundwerte werden durch sein Leben verkörpert, in dem er sich in selbstloser Weise der Aufgabe widmet, anderen einen spirituellen Pfad zu weisen, Gemeinschaften zu bilden, die für alle Menschen offen sind, ungeachtet ihrer Kaste oder ihres Geschlechts, und eine Reihe von Ideen und Praktiken zu entwickeln, die den Fortbestand des Dharma für zukünftige Generationen sichert.
Die gleichen Qualitäten des Mitgefühls und des Wohlwollens für andere prägen auch die Lebensgeschichten der Meisterinnen und Meister, die auf den folgenden Seiten erzählt werden. Sobald diese Gestalten für uns zum Leben erwachen, bemerken wir, wie sie alle den Dharma auf ihre eigene, sehr persönliche Art gelebt haben. Es gibt kein »buddhistisches Standard-Leben«, dem sie nacheiferten und zu verwirklichen suchten. Ganz im Gegenteil: Die lebendigen Verkörperungen des Dharma entwickeln sich in Formen, die angemessen sind für die an bestimmten Ort, zu gewissen Zeiten vorherrschenden Verhältnisse. Ein besonderes Merkmal des Buddhismus ist seine große Anpassungsfähigkeit, so dass er sich an Orten und in historischen Situationen entfaltet hat, die so verschieden sind wie das antike Magadha, die Tang-Dynastie in China, das mittelalterliche Tibet oder das moderne Burma und Thailand. Diese Kunst der Anpassung wird aber nicht durch den Buddhismus als solchen lebendig, sondern durch jene Männer und Frauen, die ihn praktizieren und seine Lehren mit frischer Stimme in die Worte fassen, die den neuen Situationen entsprechen und von den Menschen verstanden werden.
Heutige Leser und Leserinnen mögen erstaunt sein über die Berichte von übersinnlichen Fähigkeiten, die einigen der Figuren in diesem Buch zugeschrieben werden. Sollen wir diese Wunder für bare Münze nehmen? Sollen wir annehmen, dass sie eine symbolische oder archetypische Wahrheit vermitteln? Oder sollen wir sie ganz einfach ignorieren? Man muss verstehen, dass solche Legenden aus prä-modernen Kulturen stammen, die nicht zwischen dem Wörtlichen und dem Symbolischen unterschieden haben, wie wir es heute tun. So wie es naiv sein kann, Wunder für wahr zu halten, so kann es auch zynisch sein, zu behaupten, sie hätten keinen größeren Wert als Märchen. Überlieferungen von Wundertaten haben überlebt, weil sie in denjenigen, denen diese Geschichten einst erzählt wurden, Vertrauen und Inspiration erweckten. Heute gilt es für uns, einen mittleren Weg zu finden zwischen Leichtgläubigkeit und Misstrauen in Bezug auf übersinnliche Fähigkeiten und Wunder. Aber wie immer dem auch sei: Ob Heilige oder Yoginis Wunder vollbrachten oder nicht, diese Menschen sollten wir nicht nach einzelnen, möglicherweise ungewöhnlichen Taten beurteilen, sondern nach der Qualität ihres gesamten Lebens. Auf diese Weise wirken ihre Geschichten weiter als Inspiration für all jene, die versuchen, die Lehren des Dharma in der heutigen Zeit in ihrem Leben zu verkörpern.
Stephen Batchelor
Aquitaine, Januar 2012
Dank
Zur Entstehung dieses Buches war ich auf Hilfe, Unterstützung und Information mannigfacher Art angewiesen, wofür ich mich hier herzlich bedanken möchte.
Großer Dank gebührt Horst Christoph, der über Jahre hinweg immer wieder bereit war, meine Texte zu lektorieren, der ausgezeichnete Vorschläge machte und hilfreiche Tipps gab, um die Geschichten lebendiger zu gestalten.
Ursula Richard, meine wunderbare und verlässliche Literaturagentin und Verlegerin, half mir durch ihre umfangreiche Arbeit, den Text flüssiger und lesbarer zu machen, und ermunterte mich, auch die Dharma-Inhalte ausführlicher darzustellen. Auch für ihre Bereitschaft, dieses Buch herauszugeben, wissend, dass es in unserer vermehrt auf »Meditation für den Alltag« und »Buddha als praktischer Lebensratgeber« ausgerichteten Markt nicht mehr selbstverständlich ist, ein Buch dieser Art zu verlegen, möchte ich ihr einmal mehr herzlich danken.
Meine Wertschätzung geht auch an Stephen Batchelor für das Vorwort. Ihm selbst ist ja sehr wichtig geworden, die Figuren aus Buddhas Zeiten zu geschichtlich und menschlich greifbaren Personen zu machen und sie somit aus dem Bereich der Mythen in die »reale Welt« zu holen. Von daher war es für mich spannend zu sehen, was er zu diesem Buch über Heilige und Erleuchtete schreiben würde.
Besonderer Dank gebührt meiner Frau Ursula Flückiger für ihre liebenswürdige und unermüdliche Unterstützung aller Art, durch die meine Schreibarbeit überhaupt erst möglich wurde, sowie für ihre vielen nützlichen Hinweise und durchdachten Ideen und Vorschläge, die in dieses Buch eingeflossen sind und es bereichern.
Große Dankbarkeit fühle ich auch für meine unübertrefflichen Dharma-Lehrer und -Lehrerinnen, die ihre Zuhörerschaft immer wieder mit Lebensgeschichten alter Meister und Meisterinnen zu inspirieren wussten: Geshe Rabten, Geshe Jampa Lodrö, Tsoknyi Rinpoche, S. N. Goenka, Jack Kornfield, Sharon Salzberg, Joseph Goldstein und andere.
Für seine Vorschläge, die mich zum Titel dieses Buches inspiriert haben, geht mein Dank an Urs Haller, der auch maßgebend an meinen früheren Büchern mitgearbeitet hat.
Für die Biografien und Geschichten habe ich mich auf zahllose Bücher und Internet-Hinweise gestützt. Ein Großteil davon wird in den Fußnoten aufgeführt. Viele nützliche Quellen von Detailinformationen können aber nicht speziell erwähnt werden. Doch auch diese weiß ich sehr zu schätzen.
Für das Kapitel über den ehrwürdigen Geshe Rabten und jenes über Sri Anagarika Munindra habe ich mich auf meine eigenen Erfahrungen gestützt, die ich während der langen Perioden, die ich in der Nähe der beiden Meister zubrachte, machen konnte sowie auf die vielen Geschichten und Informationen, die in ihrem jeweiligen Umfeld verbreitet wurden. Zusätzliche Quellen waren für mich Geshe Rabtens Autobiographie The Life and Teachings of Geshe Rabten, übersetzt und herausgegeben von B. Alan Wallace1, und Mirka Knasters Buch Living this Life Fully, Stories and Teachings of Munindra2. Für diese beiden wertvollen Quellen möchte ich meine besondere Wertschätzung bekunden.
Meinem Lehrer Tsoknyi Rinpoche sowie Jack Kornfield danke ich für ihre empfehlenden Worte.
Mögen die vorliegenden Legenden und Lehren eine Inspiration sein auf dem Dharma-Weg zur Befreiung.
Schreibweise und Aussprache von Begriffen und Namen in Pali, Sanskrit und Tibetisch
Für Pali und Sanskrit wird die international gebräuchliche Schreibweise verwendet.
Die tibetischen Begriffe sind nach demselben Prinzip phonetisch dargestellt.
Buchstabe Wortbeispiel Deutsche Aussprache c, cc, ch = tsch citta, anicca, chö tschitta, anitscha, tschö j = dsch dorje, jhana dordsche, dschana (wie im engl. »joy«) ñ = ny prajña pradschnya (wie in sp. mañana) sh = sch klesha klescha v = w vedana wedanaSchreibweise und Aussprache spezifischer Namen:
sh Shantideva Schantideva sh Atisha Atischa sh Yeshe Yesche sh Geshe Gesche ch Ma-chig Ma-tschig ch Chö oder Chöd Tschö oder Tschöd j Ajahn AdschahnDort wo Begriffe in Pali und Sanskrit erwähnt werden, gilt folgende Regel: (Pali/Sanskrit).
EINFÜHRUNG:
Buddhas tausend Gesichter – Legenden und Lehren Erleuchteter
Die lebendige Essenz der Übertragungslinien,
immer wieder entdeckt, verwirklicht und weitergegeben,
ist mehr als das Wissen um die Lehre:
Es ist das Feuer der Begeisterung
für die uns innewohnende Weisheit und Verbundenheit.
Geschichten buddhistischer Heiliger – wozu?
Als ich den Teilnehmenden meiner Meditationskurse erzählte, ich würde gern ein Buch über buddhistische Praxis schreiben, veranschaulicht am Beispiel des Lebens von »Heiligen«, waren die Reaktionen zurückhaltend bis skeptisch. Wozu sollten wir heute noch so etwas Anachronistisches wie alte Legenden und Geschichten brauchen? Was sollten wir daraus lernen können? In meinen Meditationskursen und Retreats fühlen sich viele Menschen gerade deshalb zuhause, weil keine Religion gelehrt wird, weil sie an keine Dogmen glauben müssen – weil nur das gelehrt wird, was sie direkt in ihr Leben umsetzen können: Das Kultivieren einer wachen und sanften Achtsamkeit, mit deren Hilfe sie die Gesetzmäßigkeiten des Daseins und der wahren Natur des Geistes ergründen können, wodurch befreiende Weisheit und tiefe Verbundenheit entstehen. Eine anspruchsvolle, aber auch sehr pragmatische Sache. Und nun diese alten Heiligengeschichten!
Doch auch in diesen Legenden und Lehren geht es um den Weg zu Glück und innerer Befreiung – eine Praxis, wie sie der Buddha und die Meisterinnen und Meister der letzten Jahrtausende gelehrt und gelebt haben. Es geht in ihnen um das, was heute noch genauso wesentlich ist: die Erkenntnis der Vergänglichkeit aller Dinge des Daseins, das Verstehen des Leidens, das durch Festhalten an Vergänglichem entsteht und durch Verlangen nach immer Mehr, Höher, Besser und Schneller, nach immer mehr Gütern, mehr Spaß, mehr angenehmen Erfahrungen. Es geht um das Erkennen der inneren Dämonen – Ärger, Hass und Angst, Begehren, Neid und Arroganz – und um die Mittel, sich davon zu befreien. Und es geht darum, wie man heilsame, Glück schaffende Herzens- und Geistesqualitäten wie Großzügigkeit, Mitgefühl und Gelassenheit entwickeln und kultivieren kann.
Wie einige, zugegebenermaßen außergewöhnliche Menschen, diese Erkenntnisse erlangt haben, den Weg der Befreiung gegangen sind und ihn in ihrem Leben umgesetzt haben, davon möchte ich in den folgenden Geschichten erzählen. Dabei sind mir vor allem ihre vorgelebte Praxis und positive Lebensart ganz wichtig.
Ich möchte mit diesen Erzählungen auch einige lebendige Einblicke in die buddhistische Geschichte geben. Für Menschen von heute, die viel Zeit und Energie investieren, um die Lehren und Praktiken aus fernen Kulturen ins eigene Leben zu integrieren, kann es interessant und aufschlussreich sein, zu verstehen, was die Menschen von damals bewegte, so zu handeln – und so zu praktizieren –, wie sie es taten. Manche Details in diesen Geschichten sind legendenhafte Ausschmückung, doch vielfach werden auch die Lebensumstände der damaligen Zeit erstaunlich wirklichkeitsnah wiedergegeben. Das ermöglicht uns, unterscheiden zu lernen, was uns diese Heiligen für unser eigenes Leben lehren und was wir als Bestandteil fremder Kulturen und ferner Zeiten erkennen und wertschätzen können, uns aber nicht zu eigen machen müssen.
Und noch einen Grund gab es für mich, das Thema der »buddhistischen Erleuchteten« anzugehen. Ich stelle immer wieder fest, dass die Kursteilnehmenden und Meditierenden in meinem Umfeld zwar oft von den Methoden buddhistischer Praxis angetan sind, sich aber mit der dahinter stehenden zweieinhalbtausendjährigen Tradition keineswegs verbunden fühlen. Zuerst fand ich dies eher hilfreich und verstand es als Ausdruck innerer Unabhängigkeit und Freiheit von »Altlasten«, die Religionen ihren Anhängern oft mitzugeben scheinen: von nicht hinterfragten Dogmen und Ritualen bis hin zu fundamentalistischer Erstarrung.
Aber ich musste dann erkennen, dass dieses fehlende Interesse an der Geschichte der eigenen Praxis-Tradition auch einen Mangel an Eingebundensein und Zugehörigkeit bedeuten kann. Doch ein spiritueller Weg, der unser Wesen zutiefst transformieren soll, kann nicht einfach auf die Anwendung einiger Methoden beschränkt sein. Auf diesem Weg, der unser ganzes Leben und unsere ganze Hingabe verlangt, ist es wesentlich, dass wir uns sowohl unserer Praxis wie auch der Tradition tief verbunden fühlen. Dieses Gefühl von Eingebundensein und Vertrauen gibt uns die Inspiration, die Kraft und die Ausdauer, die nötig sind, um die Schwierigkeiten und Durststrecken, wie sie uns immer wieder begegnen, überwinden oder auflösen zu können und uns langfristig in unserer Praxis zu verwurzeln.
Gegenwärtig wächst das Interesse an Meditation und der Erforschung der Achtsamkeit, und sie scheinen zunehmend in der Mitte der Gesellschaft anzukommen und Anwendung zu finden in den Bereichen der Psychotherapie, Gesundheit und Wellness. Das ist sehr begrüßenswert und – wenn ernsthaft angewendet – für viele Menschen hilfreich und heilend. Damit einher geht zugleich die Tendenz, Meditation zu säkularisieren. Auch dies ist wünschenswert, befreit es doch die zentralen Anliegen und die wertvollen Mittel der Praxis von einem religiösen Überbau, der über die Jahrhunderte bis heute Menschen oft mehr geschadet als genützt hat. Leider scheint dadurch aber auch das Wissen um die Wichtigkeit tiefer Praxis mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. Selbst Dharma-Lehrer und -Lehrerinnen können sich von dieser Tendenz verführen lassen, nicht nur weil die Leiden mancher Menschen auch durch rein säkular verstandene Methoden geheilt werden können, sondern möglicherweise auch, weil sich so ein größeres Publikum finden lässt. Wenn wir aber den Pfad und die Praxis zum vollständigen Erwachen, zur Befreiung von den »täuschenden und quälenden Eigenschaften von Herz und Geist« (kilesa/klesha) wie Verblendung, Verlangen und Ablehnung und ihre weitreichenden leidvollen Auswirkungen, lebendig erhalten wollen, dann brauchen wir auch Menschen, die ihr ganzes Leben in diese Praxis investieren – bis zum Erreichen der vollständigen Befreiung. In diesem Buch finden sich Geschichten über Menschen, deren Leben wir nicht unbedingt in dieser Konsequenz nachahmen können oder wollen, Geschichten, die uns aber daran erinnern, dass es immer wieder Individuen gab – und hoffentlich weiter geben wird –, die den Weg des Erwachens bis zur Vervollkommnung gegangen sind.
Vertrauen – Eingangstor für alle heilsamen Qualitäten
Vertrauen zählt zu den stärksten Kräften auf dem Weg. Vertrauen – nicht zu verwechseln mit blindem Glauben – gilt als ein Eingangstor für alle heilsamen Qualitäten. Vertrauen öffnet Herz und Geist, es macht uns berührbar und inspiriert uns, nicht nur intellektuell, sondern auch emotional, ja, noch tiefer gehend erreicht Vertrauen die Schichten unseres Unterbewusstseins! Vertrauen (saddha/shraddha) ist die erste der Fünf Spirituellen Fähigkeiten, die wir kultivieren müssen, um den Pfad zu betreten und ihn stetig weitergehen zu können. Es ist dieser Prozess des Vertrauens, des Sich-Öffnens, der Inspiration und Hingabe, der einen Fluss spiritueller Energie, einen Strom des Segens in uns zum Fließen bringt.
Oft erlebe ich, wie Teilnehmende, selbst wenn sie in Meditationsretreats angenehme Erfahrungen machen, unvermittelt wieder von der Praxis ablassen, während andere, selbst wenn sie mit großen Hindernissen konfrontiert sind, konsequent dabei bleiben, bis die Schwierigkeiten geklärt sind. Dieses Plus an Beständigkeit und Zielbewusstsein entsteht durch die Wirkung einer Kraft: der Kraft des Vertrauens.
Lama Tsoknyi Rinpoche illustriert die Funktionsweise dieses »Segensstroms« mit einem zeitgemäßen, sehr treffenden Bild: »Die Buddhas und Bodhisattvas stehen mit ihren Handys permanent in Verbindung zu uns. Das Problem ist, dass wir nicht rangehen, weil wir es gar nicht klingeln hören und – noch öfter – das Besetztzeichen ertönt: Wir sind zu beschäftigt, um die Verbindung zuzulassen.« Diese Verbindung können wir aufnehmen – durch Vertrauen!
In der buddhistischen Praxis sind Vertrauen und Hingabe unverzichtbar. Vertrauen in die Belehrungen, in die Methoden der Praxis und in die Lehrenden. Unter Letzteren kann der Buddha als der ursprüngliche Lehrer und Archetyp des Erwachens zu Weisheit und Mitgefühl verstanden werden – oder auch die eigenen Lehrer, Lehrerinnen, die Lamas, Sayadaws, Ajahns, Shifus oder Roshis – oder die gesamte Übertragungslinie großer Meister und Meisterinnen, von Buddha bis zu uns heute.
Der bekannte amerikanische spirituelle Lehrer Ram Dass wurde einmal gefragt, was für ihn beim Übermitteln der Lehre das Wichtigste sei. Er antwortete, es sei die in der eigenen Erfahrung wurzelnde Überzeugung und das daraus entstandene Vertrauen, das in den Schülern und Schülerinnen große Inspiration und Hingabe wecke.
Die tibetischen Praktiken der »Hingabe an die Lehrenden«, das sogenannte Guru-Yoga, betonen, diese Hingabe ermögliche den schnellsten und mühelosesten Zugang zu den Verwirklichungen. Sie öffne einen Kanal für Segensströme, die durch die Übertragungslinie der Meister und Meisterinnen in unseren Geist und unser Herz fließen. Hingabe sehen sie als das Herzstück der Methoden zur eigenen Verwirklichung.
Weises Vertrauen
Wir brauchen auf unserem Weg tiefes Vertrauen und Hingabe, aber natürlich brauchen wir auch Weisheit, eine Art von gesundem Menschenverstand, mit dem wir die Dinge unvoreingenommen und mit Scharfsinn überprüfen.
In den Anfängen meiner Praxis besuchte ich ein Meditationszentrum, in dem zwei Retreats in zwei unterschiedlichen buddhistischen Traditionen stattfanden. Beide Traditionen lehrten die Hingabe an den Meister, die Meisterin als wichtigen Verstärker für die eigene Praxis. Als die Teilnehmenden Gelegenheit hatten, den beiden Retreat-Leitern Fragen zu stellen, war ihre brennendste Frage die nach der Hingabe an die Lehrenden. Worauf der aus der einen Tradition stammende Lehrer betonte: »Wenn dein Meister sagt, Schwarz ist Weiß, dann ist Schwarz für dich Weiß!« Der zweite, einer anderen Tradition angehörende Lehrer unterstrich hingegen: »Leute, überprüft es besser selbst!«
In seiner berühmten Lehrrede an die Kalamer ermutigt der Buddha seine Zuhörerschaft, selbst herauszufinden, was für ihr Leben und ihre spirituelle Praxis wertvoll und hilfreich sei:
Aus diesem Grunde eben, Kalamer, haben wir es gesagt: Geht nicht nach Hörensagen, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen, nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der Autorität eines Meisters. Wenn ihr aber, Kalamer, selbst erkennt: »Diese Dinge sind heilsam, sind untadelig, werden von Verständigen gepriesen, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Segen und Wohl«, dann oh Kalamer, möget ihr sie euch zu eigen machen.3