Essentielle Befreiung

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Das Verständnis des Geistes als Leere und diese Grundarten von Bewußtsein, das ursprüngliche, das erwachte und das friedvolle, sind nicht metaphysisch oder auch nur von metaphysischem Interesse. Ohne dieses Verständnis gibt es für Menschen keine Freiheit, keine Freiheit in irgendeiner Erfahrung. Es liegt an dem Mangel an diesem Verständnis, daß es Leiden gibt. Der Geist muß vollkommen verstanden werden, wenn es eine Erleichterung oder Freiheit oder Frieden geben soll. Man wird ausgelöscht, dann wacht man auf und dann ist Frieden.
Wie ich früher sagte, besteht zwischen dem, was im Osten „Geist“ genannt wird, und dem, was wir hier „Herz“ nennen, eine Beziehung. Es gibt eine Beziehung zwischen Geist und Herz. Das ursprüngliche Bewußtsein, die erwachte durchscheinende Helligkeit und die friedvolle Stille des Geistes sind Formen des Bewußtseins, die auch Aspekte von Essenz sind, und Essenz ist das Herz des Geistes. Wenn das Wort „Herz“ im Osten gebraucht wird, bedeutet es „Essenz“, die tiefste Natur von etwas, das Herz von etwas, wie im Ausdruck „das Herz einer Sache“. Die Natur des Geistes ist Leere, und das subtile Bewußtsein, das diese Leere wahrnimmt, ist das Herz des Geistes. Aber diese Beziehung des Herzens zum Geist ist sogar noch komplexer. Es gibt auch den Geist des Herzens, das Bewußtsein des Herzens, das Wissen des Herzens, die Neugier des Herzens und die Empfindsamkeit des Herzens. Das Herz wird als das empfindsame Organ, das wissende Organ gesehen. Es ist bewußt und nimmt wahr. Das Herz wird manchmal „Geist“ genannt, weil das Herz die Quelle des Herzens des Geistes ist. So könnte man auch sagen, daß der Geist der Geist des Herzens ist. Aber die Einheit geht noch tiefer als der Geist des Herzens oder das Herz des Geistes. Sie sind dasselbe. Auf der Ebene, auf der man den Geist als ein subtiles Bewußtsein versteht, als ein Aspekt von Essenz, gibt es kein Herz und keinen Geist, da gibt es nur eins. Das Verstehen des Geistes wird als ein einziges Bewußtsein erfahren, ohne Trennung seiner Zentren, seiner Mitte. Dinge als den klaren Geist zu sehen rührt vom Betrachten der Dinge als Geist her, und die Dinge als den klaren Nektar zu sehen, leitet sich vom Betrachten der Dinge als Herz ab; aber es ist dieselbe Substanz. Als Geist genommen, sehen wir ihn als Bewußtheit, als Licht, als Bewußtsein. Als Herz genommen, sehen wir ihn als Liebe oder Freude. Der erwachte Geist ist klare Freude, wenn er im physischen Herzen erfahren wird. Wenn Freiheit entsteht, erfährt man die Erfüllung im Herzen. Was im Kopf oder Geist ist, ist dasselbe, was im Herzen ist, und fühlt sich wie klares Licht oder nahrhafter Nektar an und ist dasselbe Bewußtsein.
Was wir „Liebe“ nennen, ist dasselbe wie Bewußtsein, aber es wird eher im Herzen als im Geist erfahren, eher in der Brust als im Kopf. Es ist auch dasselbe wie der Wille, den man im Bauch erfährt. Essentielle Präsenz im Geist wird oft als ein Diamant gefühlt und im Herzen oft als eine Perle erfahren. Es ist dasselbe Bewußtsein – von einer objektiven, klaren bewußten Ebene oder von einer persönlichen, Herz-Ebene gesehen. Wenn es auf einer universellen, objektiven Ebene wahrgenommen wird, wird es als diamantenes Bewußtsein gesehen. Im Herzen wird es persönliche Präsenz, die unschätzbare Perle (pearl beyond price), und als Bewußtsein wird man es eher als Liebe sehen.
Hier erkennen wir dann, daß es eine tiefere Verbindung zwischen Geist und Herz jenseits der Persönlichkeit gibt; in Wirklichkeit sind sie eins. Ihr könnt klaren Nektar oder einen klaren Diamanten erfahren oder blauen Nektar oder einen blauen Diamanten oder goldenen Nektar oder einen goldenen Diamanten und so weiter. Die Diamantform wird als Bewußtsein oder Klarheit erfahren. Die Perle im Herzen erfährt man als wahre persönliche bewußte Präsenz. Ihr könnt beide zur gleichen Zeit erfahren, da sie eins sind; in verschiedenen Traditionen werden jedoch verschiedene Perspektiven betont. Im Fernen Osten betonen die spirituellen Systeme die Betrachtung der Dinge aus der Perspektive des Kopfes, vom Bewußtsein her und das Ergebnis ist Erleuchtung. In den theistischen Traditionen des Mittleren Ostens wird die Perspektive des Herzens betont, so daß es mehr als eine Liebesbeziehung gesehen wird. Es ist aber dasselbe.
Bislang haben wir einige der Vorstellungen von „Geist“ untersucht. Wir haben den Geist als Gedanken und als Eindrücke der Erfahrung betrachtet; wir haben die Natur des Geistes als Leere und die essentiellen Aspekte betrachtet, die sich aus diesem Raum im Geist, im Herzen und im Willen entfalten. Die natürliche Bewegung dieses Verstehens geht in die Richtung des Einswerdens.
Wir können die Einheit der Einheiten dadurch sehen, daß wir das Geheimnis des Hu verstehen. Einheit heißt Hu auf arabisch. Wir verstehen also die vollständige Einheit, wenn wir Hu verstehen. Wenn wir der Entfaltung unseres Verstehens und unserer Erfahrung folgen, können wir eine Bewegung auf Einswerdung hin bemerken. Woher kommt das? Gibt es eine Kraft, die uns zur Einheit hin treibt? Gibt es eine noch tiefere Natur des Geistes, die wir bisher nicht geahnt haben? Es gibt das, was Raum schafft. Das ist Hu, das ist der Grund des Grundes, die Quelle des Grundes. Die größte Einheit muß sein, was das Nichts und die Dinghaftigkeit, Nicht-Sein und Sein, Raum und Schöpfung, Nicht-Existenz und Existenz einschließt. Das ist Hu.
Gibt es eine Wirkkraft der Einheit? Gibt es das, was sich nur auf Einheit zubewegen kann, das nicht nur das Wesen des Geistes und des Herzens sondern das Wesen von allem ist? Da gibt es keinen Geist und kein Herz, keinen Willen, nichts als dies. Wir haben die Bewegung des Geistes, des Bewußtseins des Geistes und seine Verbindung mit dem Herzen gesehen – und daß sie eine Substanz sind. Wir sehen wirklich den Geist als eine Art diamantklares expansives Bewußtsein und das Herz eher als strömende Flüsse und Nektare. Da ist Differenzierung, aber wir sehen in Wirklichkeit eine Bewegung zur Einswerdung hin. Unsere tiefste, wahrste, innerste Natur ist die Einheit, die vollkommene Einswerdung ohne eine Unterscheidung oder Differenzierung, und diese tiefste, innerste Natur muß sich als die transformierende Kraft manifestieren. Dies ist das, was „Elixier des Geistes“ oder „Elixier der Erleuchtung“ genannt wird. Es enthüllt sich in der Form – welcher auch immer – die ihr braucht, um über Einheit zu lernen. Wenn ihr am Geist interessiert seid, wird es sich als Geist enthüllen. Wenn ihr eher herzorientiert seid, wird es sich als Herz enthüllen. Wenn ihr handlungsorientiert seid, wird es sich als Wille enthüllen. Es liebt euch so sehr, daß es bereit ist, weniger als es selbst zu sein, damit ihr von ihm und über es erfahren könnt.
Diese Kraft der Vereinigung vereint also dadurch, daß sie eure Erfahrung, eure Wahrnehmung, euer Bewußtsein, eure Liebe transformiert. Sie ist ein kontinuierlicher Prozeß der Transformation und Verwandlung zur Einheit hin. Wir haben über sie bisher als „innere Erfahrung“ gesprochen. Diese Erfahrung von Vereinigung spiegelt sich jedoch in eurem ganzen Leben: in euren Beziehungen, in eurer Arbeit, in euren Werten, in allen Bereichen eures Lebens. Mit der Zeit vereint sie das Innere und das Äußere: Handeln, Gedanken und Gefühl.
Es gibt in euch eine Kraft, die Kraft der Vereinigung, die ein Elixier ist, die in jedem Menschen präsent ist, und ohne die es kein Leben gibt. Diese Kraft ist selbst reine Intelligenz und alles ist ein Resultat dieser Intelligenz. Sie schließt sogar Unwissenheit und Leiden ein, was das Ergebnis von Unwissenheit ist. Diese primäre erste Ursache, diese primäre Intelligenz, die jedes menschliche Wesen besitzt, ist selbst die Hoffnung auf Vereinigung und die Kraft der Vereinigung. Sie ist das, was durch den Prozeß der Vereinigung hindurchgeht und zu dem Endergebnis der Vereinigung, zur Einheit führt. Sie schließt Differenzierung und die Bewegung auf Differenzierung zu ein, weil das Teil einer größeren Bewegung auf Vereinigung zu ist. Jedes Lebewesen besitzt eine gewisse Intelligenz, eine Intelligenz, die reine Brillanz ist. Sie ist nicht länger eine differenzierte Farbe; sie ist die Brillanz aller Farben. Sie ist nicht länger eine differenzierte Qualität; sie ist die Brillanz aller Qualitäten. Alle Qualitäten, alle Aspekte, alle Dinge werden strahlend, leuchtend, brillant – werden ihre wahrste Natur, Brillanz selbst. Es ist Licht über Licht.
Die innerste Natur von allem, was existiert, ist diese Quelle und Kraft, die Einheit bewirkt. Ohne sie wären wir keine Menschen; wir würden nicht leben. Sie ist die innerste Natur unseres Seins; und sie ist nicht etwas Unklares, Vages, sondern etwas wirklich Substantielles. Ihr seid euch ihrer vielleicht nicht bewußt, aber ohne sie könnt ihr dies nicht lesen oder mich jetzt nicht verstehen. Ihr könnt sie wahrnehmen. Es ist erstaunlich, daß die Kraft der Vereinigung dasselbe ist wie die Kraft zur Transformation, daß Transformation die Transformation auf Vereinigung zu ist. Sie ist wunderbar und geheimnisvoll. Zuerst enthüllt sie sich in Erfahrungen des Herzens oder des Geistes, in denen Facetten, Qualitäten oder Aspekte offenbar werden. Sie erlaubt euch, euch selbst als Mitgefühl, Liebe oder Klarheit zu sehen, aber sie zeigt euch das dadurch, daß sie ist. Hu wird durch die Brillanz das, was ihr seid. Ihr erfahrt, was ihr in dem Moment seid. Wenn das, was ihr braucht, Erleuchtung ist, wird sie klares Licht. Sie lehrt zuerst durch Vereinen, dadurch daß sie eure Erfahrungen auf mehr Einheit hin lenkt. Mit der Zeit wird sie zu der inneren Erfahrung führen, in der sie sich als die bewirkende Kraft von Transformation selbst, als das Elixier, manifestiert. Man nennt sie auch „Stein der Weisen“ und „Wasser des Lebens“.
In dem Moment, in dem eure Persönlichkeit dieser innersten Natur zu funktionieren erlaubt, beginnt sie sich zu entfalten, indem sie euch durch und durch transformiert – auch den Impuls, eure Probleme und Themen durchzuarbeiten. Sie transformiert euch, indem sie euch eine Facette nach der anderen zeigt. Ihr müßt euch einfach nur die Erfahrung erlauben und hinschauen. Sie ist die Kraft, die Transformation in Richtung Vereinigung bewegt.
Was meinen wir mit: „Sie ist schließlich die Vereinigung“? Ich meine, daß sie, während sie sich vor euren Augen transformiert, auch eure Persönlichkeit immer mehr transformiert, so daß ihr sie anpassen und zulassen könnt, während sie von einer essentiellen Qualität zur nächsten fortschreitet, durch die ganze Bandbreite menschlicher Entfaltung hindurch, bis sie sich schließlich selbst manifestiert. Sie besteht aus allen Qualitäten der Erfüllung des Geistes, des Herzens und des Willens und mehr. Sie wird manchmal „Vater“ genannt, in dem Sinn, daß sie der Aufseher, der Schirm oder die Quelle aller Aspekte, der Allbeschützer, der Allwissende ist. Und sie ist nicht länger Licht oder Liebe oder Substanz oder Raum oder Existenz – es gibt für sie keine Analogie in der physischen Wirklichkeit. In der physischen Wirklichkeit sehen wir nur Differenzierung. Wir sehen Qualitäten nur in ihrer differenzierten Form. Wir können Grün sehen, das Mitgefühl und Lebendigkeit darstellt. Wir können Rot sehen, das Energie und Stärke repräsentiert. Wir können klaren Raum sehen, der Klarheit darstellt. Wir können Gelb sehen, das Freude repräsentiert, und Gold als Wahrheit. Auf jeden Fall können wir weiter sehen, daß jede Farbe, wenn sie sehr glänzend wird, Leuchtkraft hat; sogar Schwarz hat Leuchtkraft. Raum selbst kann Leuchtkraft haben. Stellt euch vor, daß alle diese Qualitäten noch mehr leuchten, bis nur noch Leuchten da ist. Das Elixier der Erleuchtung ist das Leuchten selbst. Es ist nicht die Leuchtkraft von etwas, das Leuchten selbst ist die Quelle von allem. Gewöhnlich halten wir Leuchten oder Brillanz für eine Qualität von etwas, für eine Intensität einer Farbe oder Qualität. Man nimmt sie gewöhnlich nicht als selbstexistierend wahr. Aber im essentiellen Bereich ist sie selbstexistierend, und sie ist die Quelle aller Qualitäten als die eingeborene Synthese von ihnen allen.
Die Einheit von allem ist also vollkommenes Strahlen, vollkommene Ausdehnung, vollkommenes Selbst-Sein. In ihrem freien Ausdruck ist sie endlich reine blendende Brillanz, so blendend, daß man ausgelöscht wird. Diese Brillanz kann als eine Klarheit und Intelligenz, als eine explodierende Intelligenz erfahren werden, die alle Dunkelheit und Unwissenheit zerschmettert. Sie ist zugleich reine Liebe, äußerst zart und weich, und im selben Augenblick der stärkste und mächtigste Wille. Sie besteht nicht aus drei verschiedenen Dingen, die zusammengesetzt sind, sondern sie ist ganz eins, die Brillanz der Aspekte von Essenz, die Quelle und innere Natur jedes Lebenwesens und alles Geschaffenen.
Aus dieser Perspektive kann es nur Einheit geben. Wenn ihr sie von außen betrachtet, seht ihr sie, bevor ihr das kosmische Bewußtsein erlangt, als Brillanz in diesem oder jenem. Wenn die Trennung aber aufgehoben ist, dann seid ihr sie, dann gibt es nichts anderes. Dann ist das einfach die ganze Existenz, und das ist die Brillanz von Hu. Wenn sie im Kopf ist, ist man trunken von funkelnder Brillanz. Vollkommen trunken und vollkommen wach. Euer Herz kann nur singen, kann nur von der Leichtigkeit vollkommener Freude verzückt sein. Die Freude liegt im Preisen von Ihm. Wenn die Brillanz euch zu der Einheit bringt, die der Anfang von allem ist, dann merkt ihr, daß sie von Anfang an immer als ihr selbst, als eure tiefste Natur, da war. Auch wenn ihr euch aus der Perspektive der Evolution anschaut, auch als die Amöbe, ist eure innerste Natur Hu. Sie hat euch nicht nur transformiert, damit ihr sie kennt, sie hat euch auch geschaffen, damit ihr sie kennt. Sie hat euch so geschaffen, damit ihr ihr Lob singt. Sie liegt jenseits von Erfahrung und Nicht-Erfahrung. Es geht nicht mehr um Beobachter und Beobachtete. Es gibt nur Tanzen; das Universum als Ganzes, einschließlich seiner tiefsten Folter ist Tanzen. Diese Gedanken können sie nicht erreichen; sie zerschmettert Gedanken. Persönlichkeit ist zerschmettert. Leute werfen einen Blick auf sie und werden ohnmächtig, verschwinden. Diese innerste Natur sieht sich selbst nicht als innerste Natur. Sie ist das „Ganze“ und das „Alles“. Sie ist die Tatsache, die immer in uns da ist, die der Same in uns ist, uns auf sich zubewegt. Der Geist wird nicht ruhen, bis er sie kennt; das Herz sehnt sich danach, und seine Bewegung ist wahrer Wille. Es muß Einheit in euch geben, die sich auf Einheit zubewegt. Es kann keine Erfahrung von Einheit geben, wenn sie nicht schon da ist. Deshalb wird die vereinigende Wirkkraft „Same der Erleuchtung“ genannt. Jeder hat ihn. Wenn ihr ihn wirken laßt, wird er mit der Zeit diese vollkommene Einheit bringen.
Die Sufis benutzen die Bezeichnung Hu nicht genau im Sinne der Brillanz, sondern meinen das Absolute, den letzten Grund und die letzte Natur, die Leere, bevor sie als Leere oder Raum begrifflich gefaßt wird. Wir können also genauer sagen, daß das letzte Hu wirklich jenseits von Farbe und Bewußtsein liegt. Das Absolute ist die Einheit vor der Manifestation, während die Brillanz die manifeste Einheit ist. Wir können sagen, daß die erste Manifestation des Absoluten die Brillanz ist, die innere Intelligenz. Das Letzte ist so geheimnisvoll, daß wir nur eine Brillanz, ein Strahlen wahrnehmen können, wenn wir uns ihm nähern. Diese reine Brillanz ist die erste Intelligenz, die Einheit, aus der Differenzierung entsteht. Sie ist der Anfang.
Implizites Verstehen
Als jemand den Buddha fragte, was das Wichtigste wäre, das er aus seiner Erleuchtung gelernt hätte, antwortete er: „Ein implizites Verstehen.“ Heute wollen wir versuchen zu verstehen, was mit „implizitem Verstehen“ gemeint ist.
Wenn wir uns für innere Entwicklung oder Selbstverwirklichung interessieren, dann sind wir motiviert, an uns zu arbeiten, um Frustration und Leiden in unserem Leben zu beseitigen. Wir beginnen bei einem Zustand, in dem wir leiden, und wir glauben, daß es zu einer Lösung kommt, wenn wir nicht mehr leiden. „Ich komme hierher, um an mir zu arbeiten, weil es mir schlecht geht; wenn ich anfange, glücklich zu sein, dann heißt das offensichtlich, daß meine Probleme gelöst sind. Lehre mich also, wie ich immer glücklich sein kann, weil mich das dann dazu führen wird, daß ich bekomme, was ich will.“
Manche Menschen sind geradeheraus mit dem, was sie wollen, aber die meisten verstecken es. Sie sagen, sie möchten sich selbst besser kennenlernen und Essenz erfahren, damit sie dieses Verstehen benutzen können, um Glück zu finden. Aber was ist diese Entwicklung und dieses Glück, auf das sie aus sind? Was sie wirklich wollen, ist gewöhnlich in irgendeiner Weise besser werden, damit ihre Mutter sie liebt oder ihr Vater sie anerkennt oder jemand sie für toll hält und sich in sie verliebt. Ihr seht, daß die Grundmotivation hier immer noch darin besteht, Leiden loszuwerden, und zwar das Leiden daran, nicht geliebt zu werden, keine Anerkennung zu bekommen oder allein zu sein.
Die wirkliche Ursache des größten Teils eures Leidens und eures Schmerzes und Elends aber ist Unwissenheit. Ihr kennt die Natur der Emotionen und inneren Kräfte nicht und wißt nicht, wie eure Psyche funktioniert; ihr handelt aus einem Mangel an Wissen heraus.
Jetzt sagt ihr: „Gut, gebt mir dieses Wissen und dieses Verstehen!“ Aber ihr seht dieses Wissen als ein Mittel zu einem Zweck und glaubt, der Zweck bestehe darin, daß es einem gutgeht und daß ihr bekommt, was ihr wollt. Diese Haltung, unabhängig davon wieviel ihr von euch versteht, unabhängig davon wie verbindlich ihr an euch selbst arbeitet, wird nur euer Leiden vermehren, weil sie ein Ergebnis von Unwissenheit in bezug auf eure wahre Natur ist.
Es ist wahr, daß implizites Verstehen einen Menschen von Leiden befreit, aber das ist nur eine Nebenwirkung. Es ist nicht das Ziel unserer Erforschung. Solange eure Perspektive darin besteht, danach zu streben, daß es euch gutgeht und nicht schlecht, daß ihr Lust erfahrt und nicht Schmerz, werdet ihr euer Leiden vertiefen.
Jetzt fragen sich alle: „Gut, was machen wir dann?“ Aber diese Frage kommt aus der gleichen Perspektive, daß man eben will, daß es einem gut geht. Wer fragt diese Frage? Der, der leidet und nicht mehr unglücklich sein möchte! Ihr sitzt also in der Falle. Ihr könnt nichts tun, ihr könnt nichts sagen, ihr könnt nichts denken, ohne die grundlegende Perspektive zu verstärken, glücklich sein zu wollen, Lust zu wollen und Schmerz nicht zu wollen. Es ist ein ziemliches Dilemma: Indem ihr Glück begehrt, neigt ihr zugleich dazu, Leiden zu bewirken.
Betrachten wir weiter dieses „implizite Verstehen“. Der Ausweg aus unserem Dilemma liegt im Wort „implizit“. „Implizit“ hat nichts mit „Vordergrund“ zu tun, sondern liegt dem Vordergrund zugrunde. „Implizit“ ist nicht das, worüber ihr nachdenkt oder woraufhin ihr zu handeln versucht, sondern bezieht sich auf etwas in eurem Sein selbst. „Implizit“ bedeutet, daß das Verstehen so sehr ein Teil von euch ist, daß es im Mark eurer Knochen ist; es ist ein Teil eures Soseins, eures Wesens, dessen, wie ihr seid und wie ihr euch fühlt, wie ihr denkt, der Weise, wie ihr mit Menschen umgeht.
Bei der Arbeit hier beginnt ihr damit, daß ihr ein paar Grundlagen versteht – euren emotionalen Charakter, eure Muster und wie sie zusammenhängen. Ihr beginnt damit, daß ihr beobachtet und aufmerksam seid, und ihr findet bestimmte Dinge über euch heraus. Wie ihr wißt, ist das kein mentales Verstehen, sondern ein Verstehen, das auf Erfahrung beruht. Eure emotionale Struktur verstehen bedeutet nicht, eine mentale Beschreibung herzustellen, sondern ein tief gefühltes Verstehen zu erfahren. Ihr erfahrt, was da ist, und zugleich seht ihr die Zusammenhänge zwischen euren Emotionen und euren Einstellungen und euren Handlungen. Zu Beginn ist das notwendig. Aber an sich reicht das nicht. Aus der Perspektive impliziten Verstehens wird das reine Verstehen eurer Emotionen nicht genug sein.
Nehmen wir das Beispiel des Selbstbildes. Ihr entdeckt, daß ihr Schwierigkeiten und Konflikte habt, weil ihr ein bestimmtes inneres Bild oder ein Konzept von euch habt. Ihr seht euch vielleicht als einen schwachen oder einen häßlichen Menschen. Und wenn ihr glaubt, daß ihr ein schwacher Mensch seid, werdet ihr euch wie ein schwacher Mensch verhalten. Ihr werdet Dinge nicht tun, von denen ihr glaubt, daß nur starke Menschen sie tun.
Wenn wir also ein bisher für selbstverständlich gehaltenes Selbstbild erkennen, dann können wir sehen, daß es nur ein Bild ist, daß es nicht wahr ist. Manche Menschen glauben, daß sie in Wirklichkeit Versager sind. Sie glauben das so vollkommen, daß sie nichts tun, was erfolgreiche Menschen tun. In dem Moment, in dem sie einen gewissen Erfolg haben, erschrecken sie. Sie haben das Gefühl, daß das nicht sie sind; jemand anders hat plötzlich die Oberhand.
Wenn ihr das Selbstbild erkennt und es versteht, erlangt ihr eine gewisse Freiheit von ihm. Angenommen euer Selbstbild ist zum Beispiel, daß ihr häßlich seid. Euer Therapeut sagt: „Schau in den Spiegel!“ Ihr schaut in den Spiegel, und ihr seid nicht ganz sicher. „Vielleicht ist es nicht ganz so schlimm, wie ich dachte. Wenn meine Nase vielleicht ein bißchen kürzer wäre, dann wäre ich nicht häßlich.“
Aber auch wenn ihr den Glauben an das Selbstbild sehen könnt, werdet ihr nicht frei von ihm sein, weil ihr auf der emotionalen Ebene wißt, daß das ein Selbstbild ist, weil ihr es mit etwas anderem, einem anderen Selbstbild verglichen habt. Was ist häßlich? Was ist schön? Ihr habt euren Maßstab von Schönheit, und nach diesem Maßstab seid ihr nicht schön. Euer Über-Ich sagt euch, daß eine schöne Frau eine Frau mit einer schmalen Nase ist, und so ist es eben. Wenn viele Menschen euch sagen, daß eure Nase schön ist, werdet ihr euch vielleicht nicht für so häßlich halten. Aber immer wenn es euch schlecht mit euch geht, erinnert ihr euch an diese Nase. Wenn jemand euch ablehnt, seid ihr sicher, daß es an eurer Nase liegt. Das Verständnis, das euch von diesem Selbstbild befreit, kommt von einem Ort, der nicht auf der emotionalen Ebene liegt. Ein gewisses Verständnis ist nötig, um diesen Glauben an ein Selbstbild auszuschalten. Dieses Wissen besteht darin, daß ihr letzlich nicht das Selbstbild, nicht ein Konzept oder Begriff seid; ihr seid etwas anderes. Und eure Nase – kurz oder groß, wie immer sie ist – hat nichts damit zu tun, wer ihr seid.
Das, worüber ich eben gesprochen habe, steht in allen Büchern, in denen es um das Thema „Selbstbild“ geht. Buddha sagt: „Ihr seid nicht euer Selbstbild.“ „Wunderbar“, denkt ihr, „das ist wahr, ich bin nicht mein Selbstbild. Meine große Nase hat also wirklich nicht viel damit tun, wer ich bin. Gut. Von jetzt an denke ich nicht mehr an meine Nase!“ Zwei Stunden lang denkt ihr nicht daran. Wenn euch dann jemand anschaut, ist das einzige, woran ihr denken könnt: „ Mein Gott, er denkt, meine Nase sei zu groß!“ Dieser Mensch ist vielleicht in euch verliebt und hält euch für schön, aber ihr könnt nur an eure Nase denken. Es spielt also keine Rolle, was ihr lest oder was Buddha sagt oder was irgend jemand sagt, wenn ihr nicht das Verständnis habt, daß die Beschäftigung mit eurem Selbstbild aufhebt. Das wirkliche Verstehen ist etwas, das ihr nicht von außen bekommen könnt. Niemand kann es euch geben.
Hier ist Essenz wertvoll; sie gibt euch das Wissen und Verstehen, das euch niemand sonst geben kann. Wenn ihr das Thema „Selbstbild“ gründlich erforscht, gelangt ihr zu dem essentiellen Aspekt, der dem Selbstbild entspricht. Wenn das geschieht, werdet ihr Essenz auf eine Art und Weise erfahren, die kein Selbstbild hat; statt eines Selbstbildes werden Raum, Offenheit und innere Geräumigkeit dasein. Das ist der essentielle Aspekt, der verlorenging, als ihr ein Selbstbild entwickelt habt und anfingt zu glauben, daß das Selbstbild das ist, was ihr wirklich seid. Das Selbstbild hat immer eine Grenze – physisch, emotional oder begrifflich. Wenn ihr Raum erfahrt, erfahrt ihr euch als Sein ohne Grenzen, ohne Definition, einfach als Offenheit.
Dieser essentielle Aspekt ist selbst das Wissen, ist selbst die Einsicht, daß ihr nicht wirklich euer Selbstbild seid. Aber bevor es soweit ist, daß ihr euch ohne Selbstbild erfahren könnt, könnt ihr gar nicht wissen, daß so eine Möglichkeit existiert, und werdet euch selbst weiter so sehen, wie es euer Selbstbild vorgibt.
Wir sehen, daß das Wissen, das letztlich gebraucht wird, um dieses psychologische Problem zu lösen, Essenz ist. Auf der emotionalen Ebene kann es nicht gelöst werden. Auf dieser Ebene fehlt ein Stück des Puzzles, und dieses fehlende Stück ist Essenz. Der essentielle Aspekt ist das, was das für dieses Thema notwendige Wissen bringen wird, und er wird auch seine Lösung sein.