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Die Zeit und die zahlreichen Fische der Saône arbeiteten für Muriel, ganz davon abgesehen, dass, selbst wenn ein Verdacht auf sie fallen sollte, es äußerst unwahrscheinlich wäre, dass die Polizei sie tatsächlich als Täterin in Betracht zog. Wo doch jeder wusste, dass sie nicht alle Tassen im Schrank hatte. Mit der praktischen Einkommensquelle dürfte dann allerdings Schluss sein. Und Muriel war auf keinen Fall bereit, wieder genau einteilen und manchmal sogar darben zu müssen, wenn der Preis für Kartoffeln im Frühling unerwartet um ein paar Cent anstieg.
***
Einige Tage später in Gray auf dem Pont de Pierre, dessen Bögen seit dem 16. Jahrhundert die Saône überspannen. Eine schmächtige junge Frau hatte die Gendarmen gerufen, weil sie in einem an der Flussschwelle hängen gebliebenen Bündel einen menschlichen Körper zu erkennen glaubte. Die Schwelle, die das Wasser der Saône einige Meter unterhalb der Brücke über die gesamte Breite des Flusses zurückhielt, ließ sich vom Brückengeländer aus, gut einsehen.
Mit einem durch eine Leine gesicherten Boot ließen sich die Gendarmen bis zur Schwelle treiben. Das Bündel, von dem die Frau gesprochen hatte, war deutlich zu erkennen. Beim Versuch, es zu bergen, glitt es allerdings über die Kante und verschwand in der tosenden Wasserwalze darunter. Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, konnten die Beamten nicht erkennen, dass ihnen gerade ein menschlicher Körper aus den Händen geglitten war, jedoch schon. Die Leiche befand sich im Stadium der Auflösung und zerfiel beim bloßen Anfassen in schleimige Einzelteile. Die Wasserwalze dürfte den Rest erkennbarer Konturen in wenigen Sekunden vollständig zerlegt haben, sodass sich eine Suche unterhalb der Schwelle erübrigte. Das Einzige, das sich noch erhoffen ließ, war, dass im Wehr bei Mantoche oder an der nächsten Schleuse bei Apremont einzelne Teile der Leiche auftauchten. Das Geschehen wurde selbstverständlich dokumentiert und als eigener Fall in einer Polizeiakte abgelegt.
Natürlich sprach sich die Sache unter den Anwohnern bald herum, besonders bei denen, die mit oder auf der Saône ihren Lebensunterhalt verdienten. Dazu gehörte auch Muriel, die sich als Einzige ziemlich genau vorstellen konnte, um wen es sich gehandelt hatte. Sie fand es ungemein beruhigend, dass nichts von ihrem letzten Opfer geborgen werden konnte. Leider hatte er kein richtig großes Vermögen mit sich geführt. Knapp zweitausend Euro in bar, und für seine Uhr hatte die Pfandleihe auch noch einen Tausender hingelegt. Ein willkommenes Zubrot für Muriel, aber zu wenig für einen ganzen Winter. Sie würde in diesem Sommer mindestens einen weiteren Spender brauchen.
***
Armin Giebisch spürte an der Angel den kräftigsten Ruck seines Lebens. Er saß am Heck des gemieteten Hausboots, das von seiner Frau mit kleinstmöglicher Fahrt flussaufwärts auf Kurs gehalten wurde, damit er in Ruhe seinem Hobby nachgehen konnte. Armin hatte sich einen Ferienangelschein besorgt, den er »mal richtig ausnutzen« wollte. Offenbar schien ihm das Anglerglück hold. Vor seinem geistigen Auge stieg einer dieser meterlangen Welse auf, die ab und zu die Zeitungen zierten. Vorsicht war geboten. Die Schnur sollte zwar angeblich fünfzig Kilo tragen können, dass man einen solchen Brocken nicht einfach rausziehen konnte, wusste jedoch sogar Armin. Er bedeutete seiner besseren Hälfte, dass sie ans Ufer steuern solle. Dort sollte sie die Angel übernehmen, während er in den Fluss steigen und den Fang mit dem Unterfangnetz sichern und schließlich überwältigen wollte. Der Wels hing zwar kräftig am Haken, ließ sich jedoch bisher ohne große Gegenwehr mitziehen. Armin rekapitulierte kurz sein Wissen über die Beute: Welse sind dumm und faul. Die liegen jahrelang in der gleichen Pfütze am Flussgrund. Solange genug zu fressen vorbei treibt, bewegen die sich nicht. Deshalb werden sie so groß und fett.
In aller Eile machte Armin das Boot verbotenerweise an einem massiven Stamm fest. Darauf war bei der Instruktion klar und deutlich hingewiesen worden. Keinesfalls an Bäumen festmachen! Genauso schlimm, wie im Fluss den Anker auszuwerfen. Einzige Ausnahme: ein treibendes Boot mit Motorschaden. Im Unterdeck lagen die vorgeschriebenen Erdanker, etwa einen Meter lange Steinmeißel mit geschmiedeter Spitze, die man zum Festmachen mit dem ebenfalls zur Verfügung gestellten Fäustel am Ufer in den Boden treiben sollte. Natürlich würde Armin das nachholen. Sobald der Wels überwältigt am Strand lag.
Inzwischen trieb der Fisch mit der Strömung hinter der Penichette ebenfalls langsam Richtung Ufer. Armin begann damit, die Angelschnur mit den Händen einzuholen, während seine Frau den losen Teil laufend aufwickelte. Ganz plötzlich stoppte die Leine. Offenbar hatte sich der Wels irgendwo verfangen. Armin blieb nichts anderes übrig, als sich ins Wasser zu bemühen.
Zuvor zeigte er seiner Frau, woran sie die Angelschnur zum Bremsen umschlagen konnte. Falls der Wels doch einen Ausbruchsversuch unternehmen sollte, während Armin in den Fluss stieg.
Mit dem vergleichsweise kleinen Fänger in der einen Hand watete Armin los. Den Fisch schien es nicht zu stören; er blieb völlig ruhig. Das Wasser floss zu trüb, um darin mehr als schwache Konturen zu erkennen, aber er sah trotzdem riesig aus. Mit einem Hechtsprung warf sich Armin auf den Körper und versuchte, mit dem Fänger den Kopf zu erwischen. Dabei geriet ihm allerdings die straff gespannte Angelschnur in den Weg. Er wollte den Fisch mit den Beinen in die Zange nehmen, als er mit den Knien unerwartet auf etwas Hartes traf. Hatte ein Wels richtige Knochen? Mit der leeren Hand tastete Armin seinen Fang ab.
Stoff.
Ein Fisch mit Kleidung und Schuhen. Entsetzt sprang Armin zurück, sobald er begriffen hatte, was da an seiner Angel hing.
***
Als Kommissar Guerin am Fundort eintraf, hatten die örtlichen Spurensicherer am Flussufer ein Schutzzelt aufgebaut, um ihm die Leiche so authentisch wie möglich vor Ort zu präsentieren. Auch der Rechtsmediziner stammte aus Vesoul, der hier zuständigen Justizdirektion. Doktor Roulin wäre ihm natürlich lieber gewesen, weil er sich mit Claude fast blind verstand und ihm auch Fragen stellen konnte, die sich nicht nur auf das Fachgebiet Rechtsmedizin bezogen. Mit ihm unterhielt er sich ebenso über Dinge, die ihn privat oder bloß im Zusammenhang mit dem jeweiligen Fall beschäftigten.
Der fremde Doktor spulte für ihn seine bisherigen Erkenntnisse ab: »Leichnam, männlich. Größe und Gewicht in normalem Bereich. Alter: circa fünfzig bis sechzig. Allgemeinzustand eher unauffällig. Trägt einfache Straßenkleidung. Der Körper wurde durch das Gewicht eines um die Hüften geschlungenen Kettenstücks am Auftauchen oder Treiben an der Wasseroberfläche gehindert. Die Kette, möglicherweise Reste einer Ankerkette, wird von einem gewöhnlichen Vorhängeschloss zusammengehalten. Die Schussverletzung im oberen Schädelbereich war in jedem Fall tödlich. Ich sehe jedoch auch Hinweise, dass er zuvor bereits ertrunken sein könnte. Möglicherweise eine Art Fangschuss, oder um ganz sicher zu gehen? Man kennt das ja aus Filmen.«
Der Doktor zuckte mit den Schultern. »Das muss ich natürlich im Einzelnen im Institut genauer untersuchen. Hier vor Ort sind alle Angaben bloß vorläufig. Die Liegezeit im Wasser scheint nur ein bis zwei Tage gedauert zu haben. Wir können es als großes Glück betrachten, dass ihn ein Angler erwischt hat, bevor der Fluss alle Hinweise zerstören konnte.«
Guerin pflichtete ihm nickend bei. Der Mann lag mit aufgedunsenem Leib vor ihm auf einer Trage. Wohl deshalb saß die Kette absolut straff und schnitt deutlich in den Bauch ein. Guerin ließ sich Zeit, um sich das durch dunkelrote Flecken entstellte Gesicht einzuprägen. Das Einschussloch oben im Schädel verbargen die wirr abstehenden, schwarzen Haare fast vollständig. Deshalb veränderte es das Aussehen des Toten nicht wirklich. Zumindest nicht für jemanden wie Guerin, der sich längst an Leichen gewöhnt hatte. Ob der Mann nur unrasiert gewesen war oder einen sehr kurz geschnittenen Bart getragen hatte? Nicht einfach zu bestimmen. Auffällig der halb geöffnete Mund, in dem sich bloß noch einzelne Zähne erkennen ließen. Waren die Fehlenden früher durch eine Teilprothese ersetzt worden, oder hatte er sie erst im Zusammenhang mit der Ermordung verloren? Das spielte eine wichtige Rolle beim Erstellen eines Bildes, das sie eventuell für die Öffentlichkeit anfertigen mussten, um dem Mann einen Namen zu geben. Darüber würde der Rechtsmediziner Auskunft geben, ohne dass man ihn danach fragen musste. Hoffentlich.
Trotz allem sollte es möglich sein, den Toten anhand seines Aussehens zu identifizieren. Zumindest von jemandem, der ihn zu Lebzeiten gut gekannt hatte.
Der Angelhaken hatte sich im Kragen des robusten und doch nachgiebigen Jeanshemdes verfangen. Vermutlich der Grund, dass der Stoff der Zugbelastung überhaupt standhalten konnte. Bei bloßem Verhaken in einem Weichteil oder an einer Stelle in der Körpermitte hätte sich der Leichnam rasch losgerissen und wäre wieder im Fluss versunken. Also doppeltes Pech für den Mörder, der dies erst so spät wie möglich, erfahren sollte.
3. Kapitel
Man hatte Guerin in einem Stadthotel ganz in der Nähe des Justizpalastes untergebracht. Immerhin lag Vesoul hundertfünfzig Kilometer von seinem Heimatort Colmar entfernt, da konnte er schlecht jeden Abend nach Hause fahren. Das Hotelgebäude stammte aus dem 16. Jahrhundert, natürlich im Innern modernisiert, aber trotzdem ziemlich eng, mit winzigen Zimmern. Zum Glück musste er sich tagsüber nicht in dieser Bleibe aufhalten; ein Schreibtisch stand im Polizeikommissariat Vesoul für ihn bereit, und für Routinerecherchen konnte er auf die Mitarbeiter der Abteilung zurückgreifen.
Sozusagen als Sahnehäubchen erhielt er Megane Gadient als persönliche Assistentin zugeteilt. Sie war eine fröhliche Mittvierzigerin im Rang einer élève-officier (entspricht in etwa einer Kommissaranwärterin), welche die Leute und die Gegend kannte, und, wie ihr Name besagte, eine Perle. Guerin verdankte sie vermutlich dem Präfekten persönlich.
An Guerins zweitem Tag in Vesoul stand ein Besuch bei Doktor Pierre, wie man den Rechtsmediziner hier nannte, an. Der hatte den Mann aus der Saône inzwischen genauer untersucht und wollte heute seinen vorläufigen Bericht näher erläutern.
Megane fuhr, Guerin blätterte auf dem Beifahrersitz in den kargen Unterlagen. Der Hefter enthielt erst wenige Angaben über den Fall. Einzig, dass es sich um einen Mord handelte, stand mit ziemlicher Sicherheit fest. Einen Suizid auf diese Art zu bewerkstelligen – eigentlich unvorstellbar. Zur Identität des Mannes zeichnete sich noch nicht einmal eine vage Möglichkeit ab. In der Vermisstenkartei fand sich bisher kein passender Eintrag. Nicht besonders ungewöhnlich, wenn man die kurze Liegezeit im Wasser in Betracht zog. Möglicherweise wurde der Mann noch gar nicht vermisst, oder er stammte aus dem Ausland.
Die Spurensicherung hatte anhand der Fotos des Toten eine erste Liste von Gegenständen erstellt, die sich bei der Leiche gefunden hatten. Kleidung und eventuelle weitere Funde an oder auch in der Leiche ließen sich erst nach der Untersuchung durch Doktor Pierre asservieren. Von einem Fundort im Sinne des Wortes konnte man genau genommen ebenfalls nicht sprechen. Diese Liste und die fotografischen Aufnahmen der Leiche bildeten die dünne Grundlage zum Beginn der Ermittlung.
Guerin sah nur kurz hoch, als Megane beim Schalten mit dem abgespreizten kleinen Finger leicht sein Bein streifte. Bestimmt ein Versehen. Ihm fiel ein, wie er so eine Situation noch vor gar nicht allzu langer Zeit angegangen wäre. Natürlich wäre er selbst gefahren, den Beinstreifer hätte er sich allerdings verkniffen. Zu plump. Normalerweise reichten einige Komplimente und bewundernde Blicke, um einer Frau wie Megane näherzukommen. Schon deshalb, weil er deutlich jünger war als sie, und seine guten Manieren verfehlten ihren Eindruck selten. Auch sein »Teure-Schuhe-Tick«, stieß bei Damen meistens auf Interesse. Daraus ergab sich Gesprächsstoff, eins führte zum anderen, und nicht selten endete das Ganze in einem Bett. Jedoch – alles Schnee von gestern: Er hatte kürzlich sein Lotterleben beendet und die absolut bezaubernde Michélle geheiratet. Ob und wie lange ihn das gegen Avancen von Frauen wie seine aktuelle Begleiterin immun halten konnte, würde sich zeigen.
Megane parkte vor einer modernen Klinik. Sie ging voraus, er trottete hinterher. Eher zufällig stellte er fest, dass sie auch von hinten ziemlich interessant aussah, zumindest ihre untere Hälfte. Ihr Rock reichte immerhin fast bis zu den Knien, war jedoch so eng, dass es wenig Fantasie bedurfte, was der elastische Stoff verdeckte. Vor allem ihr Hinterteil, das man ohne Übertreibung als markant bezeichnen konnte, beschäftigte ihn. Denn es kreiste beim Gehen irgendwie um ein imaginäres Zentrum. Absolut verwirrend, fand Guerin.
Zum »Glück« blieb sie bald vor einem Lift stehen, bevor er sich näher in den Sachverhalt vertiefen konnte.
Einige Geschosse tiefer erwartete sie Doktor Pierre bereits mit einem schwarzen Klemmbrett in der Hand, das er beim Sprechen mitbewegte, als wäre es überhaupt nicht vorhanden. »Herzlich willkommen im Reich des Hades!«, begrüßte er sie. »Sie sehen jedes Mal jünger aus, Mademoiselle«, schleimte er in Richtung Megane.
Außer einem schwachen Grinsen erntete er nichts dafür, stellte Guerin schadenfroh fest. Der Gebrauch der Anrede Mademoiselle war auch in Frankreich längst passé, aber Rechtsmediziner ticken überall etwas eigen, das wusste Guerin. Außerdem kannten sich die beiden vermutlich schon länger. Vielleicht bloß ein altes Ritual, das sie pflegten.
Der Doktor setzte eine ernste Miene auf. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen!«
Nachdem sie in einem nüchternen Raum Platz genommen hatten, legte der Doktor eine Skizze auf den Tisch, die Zeichnung eines stark stilisierten Menschen. Unzählige Kreuzmarkierungen bedeckten das Blatt. »Alles kleinere und mittlere Verletzungen. Keine Brüche, jedoch eingeschlagene Zähne und zerquetschte Finger. Der Mann wurde über längere Zeit misshandelt, bevor man ihn erst ertränkt und danach auf ihn geschossen hat. Todesursache war Ertrinken«, bekräftigte er.
Megane verzog angewidert das Gesicht. »Erschossen? Wozu? Ohne die sinnlose Schussverletzung wäre der Tod vielleicht als Unfall oder Selbstmord eingestuft worden.«
Guerin musterte sie kurz. »Sinnlos?«, wiederholte er. »Muss nicht sein. Vielleicht ein Racheakt. Ein Exempel?«
»Der Mörder konnte doch nicht damit rechnen, dass die Leiche wieder auftaucht«, warf Megane ein. »An wen sollte die Botschaft denn gehen?«
»Vielleicht an jemanden der schon im Fluss liegt«, meldete sich der Doktor.
Megane sah ihn entgeistert an. »Botschaften an andere Leichen, na klar! Sie hatten schon immer eine blühende Fantasie, Herr Doktor«, stichelte sie.
Guerin schüttelte den Kopf. »So abwegig finde ich das jetzt auch wieder nicht. Pflegen Sie denn keine Rituale, Madame, die an sich sinnlos sind?«
Megane schien skeptisch. »Geben Sie mir ein Beispiel, Herr Kommissar.«
»Salz über die Schulter werfen, Holz anfassen, darauf achten, mit welchem Bein Sie zuerst aufstehen …« Er stockte kurz. Seine Fantasie hatte ihm umgehend ein passendes Bild geliefert.
Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre doch Blödsinn! Hier geht es darum, einen Mord zu vertuschen. Der Täter hat es uns leicht gemacht, seine Tat als solches zu erkennen. Ohne Not!«
»Das wird uns bestimmt noch eine ganze Weile beschäftigen«, sinnierte Guerin. »Weitere Auffälligkeiten?«, fragte er den Pathologen. »Gegenstände in den Taschen?«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Absolut nichts. Außer der Kette, natürlich.«
»Lassen sich Rückschlüsse aus den übrigen Verletzungen ziehen?«
»Hier, die kreisrunden Hämatome auf der Brust.« Er zeigte auf einige Kreuze auf der Skizze. »Scheint so, als wurde er mit einem harten Gegenstand unter Wasser gedrückt. Bestimmt kein Ruder oder ein Bootshaken. Eine kurze Eisenstange möglicherweise.«
»Sie haben doch bestimmt Fotos von den Abdrücken?«, fragte Guerin.
Doktor Pierre nickte. »Alles im Hefter, den ich für Sie zusammengestellt habe. Auch Röntgenbilder der paar Zähne, die man ihm noch gelassen hat.«
Guerin erhob sich. »Danke, Herr Doktor!«
***
Le tour lief in der letzten Woche. Guerin hatte inzwischen mit Megane unzählige Plätze am Oberlauf der Saône besucht, stets mit dem Foto des Toten und einem Muster der Ankerkette ausgestattet. Sie hatten Bootsbauer und Ladenbesitzer genauso befragt wie Hafenmeister und Gemeindeangestellte, Anwohner sowie Personal der Restaurants am Fluss und in der näheren Umgebung. Das Resultat: Keiner wollte den Mann jemals gesehen haben. So eine Kette dagegen hatte fast jeder schon einmal irgendwo bemerkt. Natürlich hatte Guerin den Hersteller gleich zu Anfang gesucht und auch gefunden. Diese Ketten wurden im ganzen Land überall verkauft; völlig illusorisch, damit auf irgendwelche brauchbaren Hinweise zu hoffen. Guerin vermutete, dass das gefundene Kettenstück irgendwo herumgelegen hatte und vom Täter entwendet worden war. Da es mit einem Schweißbrenner abgetrennt worden war, lag der Verdacht nahe, dass es sich um einen Zufallsfund des Mörders handelte. Schweißbrenner standen schließlich nicht an jeder Ecke herum und konnten auch nicht von jedermann ohne Fachkenntnisse benutzt werden. Guerin hoffte, dass jemand genau so ein Stück Kette vermisste. Dann hätte er schon mal einen Ort.
Vergeblich. Guerins Enttäuschung wurde durch die Umstände der Untersuchung gedämpft. Prachtvolles Wetter, jeden Tag im Freien und am Fluss. Er genoss es, die leicht bekleideten Urlauberinnen zu befragen. Wer konnte es ihm verdenken, dass er seinen Charme einsetzte, solange es der Wahrheitsfindung diente? Ohne, dass sie es abgesprochen hätten, übernahm Megane die Herren, bei denen sie mit ihrer einnehmenden Art meistens genauso gut ankam wie er bei den Damen. Außerdem wirkten sie in zivil und als Paar offenbar weniger wie Polizisten, eher wie Urlaubsbekanntschaften, mit denen sich die Touristen ganz locker unterhielten.
Trotzdem brauchte Guerin bald einen Fortschritt, sonst blieb der Fall unlösbar. Immer noch keine Anhaltspunkte, um wen es sich bei dem Toten handelte. Keine weiteren Erkenntnisse oder auch nur der vageste Hinweis, dass jemand glaubte, dem Opfer einmal begegnet zu sein. Sobald der Sommer zu Ende ginge, würde sich die gesamte auf den Tourismus ausgelegte Lebensweise entlang des Flusses verändern. Es war schon möglich, dass ein Zeuge sich später an etwas erinnerte, dem er heute keine Bedeutung beimaß. Ein Name zum Beispiel, oder einer dieser Zufälle, die ab und zu weiterhalfen.
Auch Megane blieb ihm ein Rätsel. Sie behandelte ihn, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Binnen Kurzem hatte sie seine Gewohnheiten und Vorlieben herausgefunden und sich darauf eingestellt, an sich nichts Ungewöhnliches – für eine verliebte Frau. Doch Gefühle schien sie nicht für ihn zu hegen. Ihr lasziver Gang, die zur Schau gestellten Reize, ihre Liebenswürdigkeit galten allen gleichermaßen, ohne dass er dabei besondere Absichten erkennen konnte. Dass sie eine Lesbe sein könnte, hatte Guerin rasch verworfen. Es knisterte durchaus manchmal, wenn eine zweite attraktive Frau erschien, allerdings nicht zwischen den Frauen. Nur eines fiel ihm auf: Megane schien es nicht zu mögen, wenn eine ihr möglicherweise ebenbürtige Konkurrenz auftauchte. Ein eher männliches Verhalten, fand Guerin, nur ohne das übliche Gehabe. Es gab auch weder Gehässigkeiten noch Sticheleien; Megane legte sich höchstens noch mehr ins Zeug.
4. Kapitel
Muriel saß an der Rezeption und sah nachdenklich dem Rentner Meinrad Danner hinterher, der sich gerade verabschiedet hatte. Der Mann schien das ideale Opfer zu sein. Er hatte letztes Jahr schon ein Boot gemietet und kannte den Fluss und die Penichette.
Tatsächlich war er in diesem Jahr ohne die nervige Begleiterin erschienen, die Muriel damals davon abgehalten hatte, sich ihm zu nähern. Auf sanftes Nachfragen hin hatte der Alte durchblicken lassen, dass sich seine Lebensgefährtin aus dem Staub gemacht habe. Dämliche Kuh! Aber um so besser für Muriel. Nur eins ließ sie zögern: Der Mann stammte aus dem knapp hundert Kilometer entfernten Basel. So kurz nach der Polizeiaktion, die sie mit ihrer letzten »Sichtung« ausgelöst hatte, schien ohnehin erhöhte Vorsicht geboten. Normalerweise bevorzugte sie Herren aus Norddeutschland oder wenigstens aus dem Osten der Republik. Allerdings lief ihr die Zeit davon. In sechs Wochen würde der Tourismus an der Saône deutlich abflauen. Dann sanken nicht nur die Temperaturen, sondern auch die Preise. Mit armen Schluckern, die sich die Hauptsaison nicht leisten konnten, wollte sie sich nicht abgeben. Im Fluss mochte man dann auch nicht mehr baden, geschweige denn die Nächte draußen verbringen.
Muriel straffte sich. Sie vermochte sich durchaus eine Ehe mit einem vermögenden Herrn vorzustellen – wenn sie nicht zu lange dauerte und er sie dafür mit einem ansehnlichen Erbe entschädigte. Allerdings hatte sie diese Möglichkeit eher für später vorgesehen, wenn ihre Reize langsam zu schwinden begannen. Jetzt wollte sie ihren Winterwohnsitz im Elsass noch nicht aufgeben. Andererseits, vornehm in Basel leben? Sie nahm sich vor, an einem freien Tag einmal hinzufahren und sich anzusehen, wo und wie der alte Danner wohnte. Die Adresse hatte er natürlich angegeben, wie alle, die bei ihr ein Hausboot mieteten. Besser einen alten Mann erdulden als einen kargen Winter, dachte sie. Immerhin wusste sie schon ziemlich viel über ihn. Auf jeden Fall ein großzügiger Typ. Seine Verflossene hatte vor Schmuck und teuren Kleidern nur so gestrotzt, und er hatte Muriel bei der Schlüsselübergabe eben mehr als deutlich gezeigt, dass er ihren Verlockungen keineswegs abgeneigt gegenüberstand. Außerdem hatte er zuvor mehr über sich preisgegeben, als klug für ihn gewesen wäre. Auch das es keine lästigen Nachkommen gab, die einer Lebensgefährtin das Erbe streitig machen konnten.
***
Guerin schlenderte durch eine Bootswerft, die er sich früher schon mal kurz angesehen hatte. Sie lag neben einem Jachthafen, der über rund vierzig moderne Anleger für Haus- und Sportboote verfügte. Das Areal der Werft wirkte ziemlich überfüllt. An Wasser wie an Land lagen alte Lastkähne in diversen Stadien des Verfalls herum. Das Gelände erinnerte Guerin mehr an einen Schrottplatz als an eine Werft. Das Geschäft mit den Flusstransporten lag schließlich schon längst darnieder. Wenigstens sorgte der Hausboottrend für neues Einkommen in der Gegend. Gearbeitet wurde in den Hallen der Werft ausschließlich an eleganten, teuren Booten; die alten Frachtkähne lagen nicht nur sinnbildlich auf Halde. Der ideale Ort, um über ein herumliegendes Stück Ankerkette zu stolpern, deswegen war Guerin hier.
Außerdem hatten sich bei seinem letzten Besuch kaum alle Angestellten im Werk aufgehalten. Und obwohl er und Megane ein Foto des Toten ans Schwarze Brett der Firma genagelt hatten, bedeutete dies nicht, dass es sich jeder Mitarbeiter auch genauer angesehen hatte. Er hatte sich beim Besitzer angemeldet, aber darum gebeten, das Personal nicht über den Grund seines Besuchs zu informieren.
»Schauen Sie sich ruhig um. Ich hab nichts zu verbergen, und meine Leute auch nicht«, sagte der Mann, noch bevor er Guerin die Hand geschüttelt hatte.
Guerin nickte erfreut. Kein richterlicher Beschluss nötig, das fand er sehr anständig. Er schätzte, dass die Beamten, um alle Räume und Boote zu durchsuchen, mehrere Tage bräuchten. Nun, wenn er eines hatte, dann Zeit, und eine angenehme Beschäftigung war besser, als bloß Däumchen zu drehen. Hauptsache, die Gedanken blieben am Ball beziehungsweise am Fall. Schon oft hatte sich bei solchen scheinbaren Routinedurchsuchungen etwas ergeben, das seinen Gedanken eine neue Richtung gab.
Bald stellte Guerin fest, dass längst nicht alle auf dem Gelände herumstehenden Boote vor dem Verlassen geräumt worden waren. Unmengen von persönlichen Dingen wie Kleidung, Bücher, Kosmetikartikel und alte Lebensmittelkonserven füllten Regale und Schränke. Ein ausgezeichneter Platz für einen Clochard oder einen gesuchten Kriminellen, ging Guerin durch den Kopf. Was hier lagerte, reichte Monate oder sogar Jahre zum Überleben, inklusive Wohnen und Schlafen.