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Dass der Tote in diese Kategorie gehörte, glaubte Guerin jedoch nicht. Der Täter schon eher. Natürlich brauchte auch so jemand ab und zu Bargeld. Gelegenheiten, um einsame Wanderer oder Radfahrer auszurauben und im Fluss verschwinden zu lassen, gab es ohne Frage jede Menge. Der Täter könnte das spätere Opfer zur Übernachtung auf einem stillgelegten Boot in der Werft eingeladen haben – leichtes Spiel mit einem Schlafenden. Kurzer Weg ins Wasser. Einen an sich sinnlosen Kopfschuss, um eine falsche Spur zu legen. Genügend Zeug, um eine Leiche zu beschweren, lag auch herum, ohne dass sein Fehlen irgendjemandem auffiele. Je länger Guerin darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihm das Ganze. Er würde sich damit beschäftigen müssen, ob hier mehr Leute verschwanden als im landesüblichen Durchschnitt. Oder zumindest an anderen Flüssen in Frankreich.
***
Die Truppe rückte früh am nächsten Morgen in der Werft an. Guerin hatte zehn Beamte mitgebracht, die sich so auf dem Gelände verteilten, dass sich niemand ungesehen davonschleichen konnte. Er hielt die Augen offen, ob jemand auf einem der alten Boote übernachtet hatte. Systematisch durchsuchten sie eine Kajüte nach der anderen. Guerins Gefühl erwies sich als richtig. Insgesamt fünf Personen holten er und seine Gendarmen aus den Kojen, zwei Pärchen und einen einzelnen Mann, jeweils aus verschiedenen Booten. Die Pärchen, die sich ausweisen konnten und aus der Gegend stammten, ließ Guerin bald wieder laufen, den Mann ohne Papiere dagegen vorläufig festnehmen.
Der verhaftete Typ schwieg eisern. Guerin ließ ihn erst mal in einem Einsatzwagen schmoren, während seine Spurensicherer weiter das Boot durchsuchten. Eine alte Peniche, die man schon vor langer Zeit auf Holzbalken ans Ufer gestellt hatte. Sie stand ganz hinten am Waldrand, umgeben von niederem Gebüsch. Ein deutlich erkennbarer Trampelpfad führte zwischen den Sträuchern hindurch zum Steg am Heck. Dass dieser Kahn nie wieder schwimmen würde, konnte sich auch ein Laie leicht ausrechnen. Durch die Ritzen der vermoderten Planken sah man teilweise ins Innere des Rumpfes. Da und dort wuchsen Grasbüschel auf dem Deck. An Stellen, wo Wind und Regen genug Material abgelagert hatten, um Wurzeln einen Halt und etwas Feuchte zu bieten, standen sogar kleine Stauden.
Die Kabine hingegen hatte sich erstaunlich gut gehalten, auch wenn die Bettwäsche vor Dreck starrte und es nach altem Schweiß und Essensresten müffelte. Der Fußboden war bedeckt mit Wollmäusen, Papierfetzen und Styroporverpackungen, dazwischen leere Flaschen und offene Konservendosen. Guerin rümpfte die Nase. Ein echter Messie! Offenbar hauste er hier schon seit einiger Zeit. In den Schränken fanden sich tatsächlich Essensvorräte für mehrere Monate. Dass sich der Bewohner nicht bloß von Konserven ernährte, bewiesen die herumliegenden Fast-Food-Verpackungen und leeren Weinflaschen.
Falls der Kerl Wertsachen besaß, bewahrte er sie allerdings woanders auf als hier. Außer einigen Münzen fanden sich weder Geld noch Schmuck oder Dokumente in der Kabine. Auch seine Hosentaschen enthielten abgesehen von Unrat und Kleinkram nichts von Belang. Seine für einen Obdachlosen recht umfangreiche Garderobe fand sich über mehrere Räume im Boot verteilt. Als Guerin sich ein Hemd genauer besah, stutzte er. Das Etikett war sauber herausgetrennt, nicht bloß abgeschnitten. Oft ein Hinweis auf gestohlene Ware oder auf Leute, die ihren normalen Aufenthaltsort zu vertuschen suchten.
Dasselbe Bild bei den übrigen Kleidungsstücken, unter denen sich elegante Anzugshosen und derbe Jeans in diversen Größen mischten. Ein ähnliches Bild bot sich bei den Schuhen: fünf Paare, drei Schuhnummern. Offenbar stammte die Kleidung von verschiedenen Personen. Womöglich auf all den hier liegenden Booten zusammengesucht. Oder von diversen Wäscheleinen geklaut. Die einzige Gemeinsamkeit der Stücke, alle waren gleich dreckig. Unterwäsche hingegen, schien rar zu sein. Davon besaß der Clochard nur zwei Garnituren. Die eine Unterhose trug er, die andere hing schlaff an einer Schranktür.
Messer oder übrige Dinge, die man als Waffe bezeichnen konnte, fand Guerin nicht. Er vermutete jedoch, dass der Typ nicht so friedlich lebte, wie es den Anschein hatte. Die meisten dieser Kerle waren erfahren im Umgang mit Behörden und vorsichtig genug, sich nicht mit verdächtigen Gegenständen erwischen zu lassen. Dafür sprach auch, dass er absolut keinerlei Fragen beantwortete. Sprechen konnte er allerdings: »Lasst mich frei, ihr Schweine! Reine Willkür ist das! Ich hab nichts getan. Ihr Knechte eines faschistischen Polizeistaats, lasst mich frei!«
Der will sich als linker Spinner darstellen, vermutete Guerin, aber dem ging er nicht auf den Leim. Die fehlenden Etiketten gaben den Ausschlag. Zu typisch für Kriminelle. Solange die Spurensicherung zu keinem klaren Ergebnis gelangte, musste er den Kerl vermutlich trotzdem bald laufen lassen. Guerin brauchte eine Spur. Ein Indiz oder einen Gegenstand, die zu einem Haftbefehl führen konnten.
***
Muriel nutzte den späten Nachmittag für einen Besuch bei Meinrad Danner. Sie hatte kurz im Büro nachgesehen, wo seine Penichette, die Chantal lag. Immer noch bloß wenige Kilometer vom Bootsverleih entfernt. Danner schien keinen Ehrgeiz darauf zu verschwenden, möglichst weit zu kommen. Natürlich kannte Muriel die Stelle, an der er angelegt hatte. Ganz in der Nähe eines Restaurants, »dieses« Restaurants, aber das spielte für sie keine Rolle mehr. Inzwischen hatte das Haus täglich und fast rund um die Uhr geöffnet, ideal für Leute wie Meinrad, die sich gern kulinarisch verwöhnen ließen, ohne einen langen Weg nach Hause vor sich zu haben.
Auch Muriel selbst aß ab und zu dort. Man kannte sich schließlich und empfahl sich gegenseitig. So konnte sie Danner im Glauben lassen, dass sie einen Spaziergang mit anschließendem Bad geplant habe und bloß zufällig auf ihn gestoßen sei. Wie sie ihn einschätzte, würde er sie zum Essen einladen, sobald sie dieses Restaurant oder ein Hungergefühl auch nur erwähnte. Sie würde sich während des Besuchs entscheiden, wann es so weit war, auch darüber, wie der Abend enden sollte. Am Köder würde sie bei einem so dicken Fisch bestimmt nicht sparen.
Muriel stelle ihr Fahrrad beim Restaurant ab. Erst spazierte sie an Danners Penichette vorbei, die dieser vorschriftsgemäß am Ufer vertäut hatte.
Hohe Bäume beschatteten das Boot, sodass der Alte auf dem Oberdeck in einem Liegestuhl dösen konnte, ohne sich einen Sonnenbrand zu holen. Er reagierte nicht auf Muriel, die ihn aus den Augenwinkeln genau beobachtete, während sie vorbeischlenderte.
Ein kurzes Stück ging sie noch weiter, dann zog sie sich im Gebüsch um, also eigentlich aus. Den knappen Bikini hatte sie schon die ganze Zeit unter der Kleidung getragen. Sie gönnte sich ein ausgiebiges Bad, währenddessen sie immer wieder unauffällig zum Boot hinüberspähte. Danner regte sich die ganze Zeit über nicht.
Schließlich legte Muriel sich unter die Bäume. Strandtuch und Kosmetikartikel hatte sie in einer voluminösen Tasche bei sich. Als sie auf dem Handtuch lag und die Augen ihr zuzufallen drohten, sah sie vorsichtshalber auf die Uhr. Schon bald Essenszeit, dann würde sie ihn aufscheuchen. Wem sollte es verdächtig vorkommen, wenn sie zufällig einen Kunden am Fluss traf und sich nach seinem Befinden erkundigte? Seltsam könnte es eher anmuten, wenn sie einfach achtlos vorbeiginge.
***
Kommissar Guerin stand kurz vor dem Feierabend, als Megane ihn anrief. Offenbar hatten die Techniker gerade die Schatzkiste des Clochards gefunden. Guerin bestand darauf, dass die Arbeit ruhen solle, bis er eingetroffen sei. Vielleicht bot der Inhalt eine Möglichkeit, sich dem Mann zu nähern, der weiterhin jede Auskunft verweigerte. Er machte sich eilends auf den Weg zur Werft.
Die Männer von der Spurensicherung machten ihm respektvoll Platz. Guerin fragte sich, ob die Leute hier einfach nur auf Zack waren, oder ob sich die Gerüchte über seine spektakulären Fälle und phänomenale Aufklärungsquote bereits bis zu ihnen herumgesprochen hatten. Er schickte bis auf zwei Kollegen alle nach Hause. Wie erwartet, hatte der »Schatz«, in diesem Fall ein Alukoffer, nicht einfach in der Kajüte gelegen. Das Schiff hatte einmal einen Innenbordmotor besessen, und daher lagen viele Teile der technischen Ausrüstung wie Tanks für Wasser oder Treibstoff unterhalb des Kajütenbodens. Zugang zu diesem etwa achtzig Zentimeter hohen Unterdeck boten einige Klappluken. Man konnte sich dort unten bewegen, jedoch nur auf allen vieren. Als Guerin sich selbst ein Bild vom Fundort des Koffers machte, entdeckte er zudem einen vergleichsweise sauberen Schlafsack unter einem der Lukendeckel, der sich von unten verriegeln ließ. Vermutlich die letzte Zuflucht des Obdachlosen, wenn er jemanden kommen hörte. Hinter der vorgebauten Wand am Rand des Rumpfes fand sich eine Stelle, an der ein Mensch auch auf diesem Deck aufrecht stehen konnte. In dieser schrankartigen Konstruktion befand sich auf Augenhöhe ein Türspion, durch den man die gesamte Kajüte überblicken konnte. Den Alukoffer hatten die Spurensicherungsbeamten eher zufällig darin entdeckt, weil sie das Glas des Spions von außen entdeckt hatten und ihm nachforschten. Das Versteck an sich dürfte schon länger bestanden haben. Neu wirkte nur dieser Spion. Guerin überlegte sich, ob all der Müll in der Kabine bloß davon abhalten sollte, genauer hinzusehen. Alles in allem ein guter Platz, um sich auch für längere Zeit zu verstecken.
Das Spurensicherungsteam hatte den Koffer für den Kommissar wieder zugeklappt und an die Fundstelle zurückgelegt. Guerin ließ ihn ungeöffnet zum Justizpalast schaffen, dann schickte er die letzten Kollegen nach Hause. Endlich allein! Er wollte den Ort auf sich wirken lassen, und dazu musste er ebenso verlassen sein, wie der Landstreicher ihn normalerweise erlebte.
5. Kapitel
Irgendwann hatte Muriel genug davon, auf Danners Erwachen zu warten. Sie schlüpfte in ihre Kleider und rückte ihr ausladendes Dekolleté zurecht. Auch der geschlitzte Rock ihres Kleides, der den Blick auf ihre gebräunten Schenkel freigab, sollte seine Wirkung nicht verfehlen. Sie stellte sich neben das Boot und warf einen Kieselstein ins Wasser, um auf sich aufmerksam zu machen. Danner hob den Kopf, sah sich um.
»Hallo!« Sie winkte ihm lächelnd zu.
Er wirkte verschlafen. »Hallo«, gab er kraftlos zurück. Erst als er erkannte, wer ihn da geweckt hatte, schob er sich die Brille auf die Nase. »Sie, Madame?«
»Ich wollte Sie nicht stören«, entschuldigte sie sich.
»Aber nicht doch. Welch eine angenehme Überraschung. Kommen Sie bitte an Bord, Madame!« Er schien leicht verwirrt, aber auch sehr erfreut.
Gespielt zögerlich balancierte Muriel über das angelegte Landungsbrett. Danner hatte sich inzwischen erhoben, war vom Oberdeck heruntergestiegen und bot ihr seine Hand an. »Bitte, Madame!«
Sie griff beherzt zu und ließ sich an Deck ziehen, wobei sie den Rock etwas raffte und ihm viel Bein zeigte. Als sie sich extra weit vorbeugte, um ihre Tasche abzustellen, spürte sie seine Blicke auf ihrem Busen fast körperlich. Meinrad hatte ja keine Ahnung, dass er genau das tat, was sie bezweckte.
Mit leicht belegter Stimme sagte er: »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wein, vielleicht?«
Sie gab sich verlegen. »Ich vertrage Alkohol nicht besonders gut auf leeren Magen.«
Er reagierte sofort. »Aber natürlich, Madame. Das hätte mir auch direkt einfallen können. Ich esse jeden Abend in diesem ausgezeichneten Restaurant da oben!«
Er deutete eifrig flussaufwärts. »Es wäre mir eine Riesenfreude, wenn Sie mich heute begleiten würden!«
Sie wand sich kokett. »Wie nett von Ihnen. Aber das kann ich doch nicht annehmen. Einfach so?«
»Aber weshalb denn nicht? Ich würde mich unbeschreiblich darüber freuen. Es ist so schön hier. Auch das Boot ist perfekt. Jedoch so ganz allein? Ihre Gesellschaft würde meinen Aufenthalt endgültig unvergesslich machen.«
Muriel gab sich geschlagen. »Wenn Ihnen so viel daran liegt. Hungrig bin ich tatsächlich.«
Danner blühte richtiggehend auf. »Nehmen Sie doch bitte kurz Platz. Ich ziehe mich rasch um.«
Muriel setzte sich brav hin. Er verschwand in der Kabine. Deutlich zu hören, dass er sich duschte. Sie nickte zufrieden. Er schien zu wissen, was sich gehörte. Sie würde zwar einiges in Kauf nehmen, um an sein Vermögen zu gelangen, aber wenn sie sich dabei nicht ekeln musste, umso besser. Wenn er sich Mühe gab, würde sie ihm seine letzten Monate genau so versüßen, wie er es verdiente und danach seine hingebungsvoll trauernde Witwe geben. Zumindest so lange, bis alles geregelt sein würde.
***
Guerin ließ es sich nicht nehmen, bei der Sichtung des Kofferinhalts von Anfang an dabei zu sein. Ähnlich wie ein Rechtsmediziner diktierte der Leiter der Abteilung Spuren seine Eindrücke in ein Aufnahmegerät: »Koffer der Marke Del Sey, Paris. Graue Hartschale, Kanten aus eloxiertem Aluminium. Größe 70 x 55 x 13 Zentimeter. Schlösser nicht verriegelt.«
Der Techniker sah kurz hoch. »Kann ich öffnen, Herr Kommissar?«
Guerin nickte zustimmend. »Bitte!«
Der Techniker rollte mit den Augen, als der Deckel aufsprang. »Das dürfte einige Zeit dauern, Herr Kommissar, bis wir damit durch sind. Wollen Sie wirklich so lange warten?«
Guerin zuckte mit den Schultern. »Bis Sie eine grobe Übersicht haben, bleibe ich.«
»Ok.« Der Techniker griff zu einer Kamera und knipste etliche Bilder. Danach klaubte er eine schwarze Brieftasche aus dem Sammelsurium im Innern des Koffers und begann, die einzelnen Fächer zu leeren und auf dem Tisch auszubreiten. Auch davon machte er Fotos. Danach beschriftete er Zettel, die den Gegenständen beigefügt wurden.
Guerin räusperte sich. »Irgendwas, womit sich der Kerl auf dem Boot identifizieren ließe oder uns sonst weiterhilft?«
Der Techniker grinste. »Zaubern kann ich nicht, Herr Kommissar! Das dauert nun mal.«
Guerin gab nach. »Ich genehmige mir einen Kaffee, dann komme ich wieder.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Herr Kommissar«, empfahl der Mann.
Als Guerin eine halbe Stunde später den Raum wieder betrat, hatte der Techniker bereits eine respektable Liste verfasst. Unter anderem war eine eckige Blechdose mit Deckel aufgeführt. Ihr Inhalt interessierte Guerin: mehrere Portemonnaies und Brieftaschen. Alle enthielten Kleingeld und weitere übliche Dinge wie Quittungen, Fotos, Heiligenbildchen und so weiter, die im Einzelnen noch nicht erfasst waren. Keine Ausweise oder Bankkarten. Gesamtbetrag aller Börsen etwa fünfundzwanzig Euro. Lose im Koffer: ein lädiertes Jagdmesser mit Horngriff, ein Medaillon mit Silberkette, ein zerfleddertes Pornoheft, mehrere Kugelschreiber, ein Notizbuch, schwarz, kaum Einträge. Eine Papierschere, Büroklammern und Gummibänder. Ein Umschlag mit einigen schwarz-weißen Fotos. Kulturbeutel eines Mannes, darin: gebrauchte Rasierklingen, Nagelpflegewerkzeug, zwei Pinzetten, Rasierwasser und ein Parfum, frische und gebrauchte Papiertaschentücher, Zahnstocher, ein Streifen Tabletten mit der Aufschrift Ibuprofen, also ein Schmerzmittel.
Der Techniker winkte ihn heran. »Das hier könnte vielleicht doch interessant sein. Eine evangelische Taufurkunde. Name des Kindes: Georg Wetzel, geboren am 26. Mai 1949, getauft am 21. August 49. Die Taufpatin hieß Dora Müller.«
Guerin runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob das was mit unserem Mann zu tun hat. Eigentlich passt der Koffer nicht zu ihm, eher die Blechdose.«
»Das ist auch mein Eindruck«, bestätigte der Techniker. »Womöglich hat er den Koffer gefunden«, er stockte. »Oder entwendet.«
»Könnte passen«, bestätigte Guerin. »Aber einige der Dinge dürften doch von ihm selbst stammen. Welcher normale Reisende würde ein solches Konvolut an unpraktischen Dingen mit sich herumschleppen?«
»Es erinnert mich an Kram, den jeder irgendwo lagert. Bloß, dass er hier in einem Koffer liegt anstatt in diversen Schubladen«, wandte der Techniker ein. »Bei Durchsuchungen finden Sie oft genau solche Mischungen.«
Guerin musste ihm Recht geben. Damit verdichteten sich die Hinweise, dass der Mann tatsächlich schon seit einiger Zeit in der Peniche hauste, offenbar unbemerkt von den Werftarbeitern.
***
Muriel schlich sich aus dem Salon der Chantal, ohne Meinrad aufzuwecken. Sie hatten nach dem Essen auf dem Boot eine Flasche Wein getrunken und locker geplaudert, bis er schließlich eingenickt war. Sie regte sich nicht darüber auf, dass ihre weiblichen Reize ihn nicht wachzuhalten vermocht hatten. Das hatte sie gar nicht beabsichtigt, und eigentlich fühlte sie sich eher erleichtert. Ob er überhaupt noch imstande war, mit einer Frau zu schlafen, würde sich bei Gelegenheit erweisen.
Für Muriel spielte es keine große Rolle. Aber es fiel natürlich leichter, einen Mann durch gelegentlichen Sex bei Laune zu halten, als durch bloße Sympathie und ihn schließlich dazu zu bringen, sie zu heiraten. Egal. Sie würde sich dem einen wie dem anderen stellen.
Er hatte auf jeden Fall durchblicken lassen, dass er nicht gern allein weiterleben wollte, ohne sie dabei ins Auge zu fassen. Er schien nicht zu erwarten, bei einer Frau wie Muriel überhaupt eine Chance zu haben. Das gab ihr Zeit, ihre Strategie genau auf ihn auszurichten, damit sie ihn perfekt vorbereitet an Land ziehen konnte. Ihn zu heiraten, wäre nur das nächste Etappenziel. Danach gälte es, ihn so schnell wie möglich unter die Erde zu bringen. Warum sich länger als nötig mit einem Kerl abgeben, der ihr außer Geld nichts zu bieten hatte? Dass sie das schaffen würde, daran zweifelte sie nicht, aber noch wusste sie nicht, wie sie es anstellen wollte. Ihr würde bestimmt etwas einfallen; wie immer. Und am Ende winkte eine deutlich fettere Beute als üblich. Muriel sah sich schon als Hausherrin durch Danners nobles Anwesen schlendern. Sie musste sich allerdings auch weitaus mehr vorsehen, denn als reiche Witwe würde sie automatisch zur ersten Verdächtigen.
***
Guerin konfrontierte den Clochard am nächsten Morgen mit den gefundenen Fotos und den Aufnahmen vom Inhalt des Koffers. Der Mann schnaubte verächtlich. »Das habt ihr mir doch untergeschoben, ihr Faschos!«
Den Taufschein hielt Guerin daraufhin noch zurück, obwohl er nicht einmal glaubte, dass das Dokument etwas mit dem Unbekannten zu tun hatte. Die Reaktion des Clochards auf den Anblick wollte er gern unverfälscht bekommen: Er musste den Kerl überraschen, und zwar bald. Allzu lange würde Guerin ihn nicht mehr festhalten können. Einzig, dass der Clochard seinen Namen nicht nennen wollte, ließ noch etwas Spielraum zu.
Guerin unterdrückte seinen Ärger darüber, dass der Typ so hartnäckig schwieg. Aber sie konnten ihm nichts nachweisen, und nicht einmal die gehorteten Portemonnaies waren ein Grund, ihn anzuklagen. Einen echten Bezug zu der gefundenen Leiche konnte Guerin daraus nicht konstruieren. Dazu benötigte er ein klares Indiz, einen Gegenstand nachweislich aus dem Besitz des Toten oder eine ihm zuzuordnende Blutspur. Auf das absolute Nonplusultra zu hoffen, die bei der Tat verwendete Pistole, erschien müßig. Aber Guerin hatte schon zuviel erlebt, um es grundsätzlich auszuschließen.
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Meinrad Danner erwachte erst gegen zehn Uhr am nächsten Vormittag. Er trank zwar ab und zu ein Glas Rotwein, jedoch nicht den größeren Teil von zwei Flaschen. Er erinnerte sich daran, dass er mit der Dame vom Bootsverleih, Madame Muriel, zurück aufs Boot geschlendert war.
Eine fast leere Weinflasche stand immer noch auf dem Tisch in der Kajüte. Eine aus seinem Vorrat. Die musste ihm den Rest gegeben haben, ausgerechnet an diesem Abend! Nie hätte er erwartet, dass diese aufregende Frau sich mit ihm abgeben würde. Dass sie mit zurück zum Boot gekommen war … Diese Haut, die wunderbar geformten Brüste, die unglaublich schönen Beine … Und was machte er daraus? Neben ihr eingepennt. Super!
Bisher hatte er immer gedacht, solange man sich im Geist jung fühlt, ist man nicht alt. Seine Schwäche der letzten Nacht verwies auf das Gegenteil. Fehlte bloß noch, dass er mit offenem Mund geschnarcht hatte. Stirnrunzelnd betrachtete er sich im Spiegel. Eigentlich doch ganz passabel, für seinen Jahrgang. Sie hatte ihm immerhin ebenfalls ab und zu nachgeschenkt. In ihrem Alter sollte man doch eigentlich wissen, ab wann es prekär werden konnte. Trotzdem würde er sich bei ihr mit einem riesigen Blumenstrauß entschuldigen. Schließlich hatte er ihr einen schönen Sommerabend gestohlen, den sie sicher viel lieber anders verbracht hätte.
***
Heute sollte die Bestandsaufnahme auf dem Bootswrack des Clochards zu Ende gehen. Megane hatte geduldig gewartet, bis sich der Letzte der Spurensicherer verabschiedete. Erst danach sah sie sich die Bleibe dieses Mannes noch mal in Ruhe an. Sie musste ein paar Mal tief durchatmen, um sich mit dem Geruch zu versöhnen, der ihr Übelkeit bereitete und sich wie ein Film über ihre Gedanken legte. Sie stand nicht zum ersten Mal in einer zugemüllten Wohnung, deshalb kannte sie den Gestank, der aus der Mischung von ungewaschenen Kleidern, vergammeltem Essen und Schimmel resultierte. Hier jedoch fehlte etwas. Zu eintönig, irgendwie flacher, als er sein sollte.
Sie betrachtete den Müll zu ihren Füßen. Leere Lebensmittelverpackungen jeder Art, aber außer einigen dunklen Rückständen in Pizzaschachteln keinerlei Essensreste. Die müsste man in allen Stadien der Verwesung erwarten bei jemandem, der kein fließendes Wasser zur Verfügung hatte. Ob sich ein Messie die Mühe machte, die Sachen im Fluss zu waschen, um sie danach zurück zum übrigen Müll zu legen? Ausschließen konnte man bei solchen »Sammlern« kaum etwas, aber realistisch erschien ihr das nicht.
Überhaupt schien die Zusammensetzung der Abfälle kurios. Wenn ein Mensch aufgrund einer psychischen Störung Müll hortete, bezog sich das anfangs auf Dinge von Wert – Gebrauchswert in erster Linie. Einen Stuhl, den er jahrelang benutzt hatte, den konnte so jemand nicht einfach wegschmeißen. Megane grinste. Fast so, als hätte er eine Art Gnadenbrot verdient. Genauso Bücher, die man liebte. Danach zum Beispiel Zeitschriften mit interessanten Inhalten. So entwickelte sich das weiter. Das Sammeln von richtigem Müll stand am Schluss einer Messie-Karriere. Wenn sich die Person sozusagen ergeben hatte.
Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Aber hier war niemand, sie hatte alle fortgeschickt. Und wenn jemand gekommen wäre, sie hätte ihn auf jeden Fall gehört. Trotzdem, auch der Geruch wirkte unvermittelt wieder intensiver. Schweiß, dachte sie. Abgestandener Männerschweiß. Die Schwaden schienen nach ihr zu greifen. Unaufhaltsam krochen sie in ihre Kleider, fluteten ihre Nase.
Er konnte seit der Festnahme nicht mehr hier gewesen sein. Außerdem hatte man ihm frische Kleidung gegeben. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Kein Gedanke mehr an sorgfältiges Nachdenken vor Ort.
So schnell wie möglich kletterte Megane nach draußen.
***
Muriel feilte den ganzen Tag über an ihrer Strategie. Sie musste die Zeit nutzen, die Meinrad Danner vor Ort blieb. Er hatte seine Penichette seit gestern nicht weiterbewegt, das zeigte das GPS. Sollte sie die Gelegenheit nutzen, oder würde ihm das auffallen? Gut, eigentlich wollte sie ihm auffallen. Allerdings konnte sie heute nicht früher Feierabend machen. Wahrscheinlich würde sie zum gemeinsamen Abendessen zu spät eintreffen. Aber egal. Mit Zaudern ließ sich nichts gewinnen.
Gegen acht am Abend rollte Muriel auf dem Treidelpfad an Danners Hausboot, der Chantal, vorbei. Alles dunkel. Er schien nicht an Bord zu sein. Sie drehte das Fahrrad um und radelte zum Restaurant. Dort wollte sie aus einiger Entfernung einen Blick durchs Fenster werfen. Wenn er wieder am gleichen Tisch saß wie mit ihr gestern, konnte sie ihn sehen, bevor sie das Lokal betrat.
Er lehnte tatsächlich lässig am Fenster und genoss offenbar eine Crème brûlée. Muriel durchfuhr es heiß, denn ihm gegenüber saß eine alte Schlampe mit großzügigem Ausschnitt. Selbst auf die Entfernung ließen sich die tiefen Falten in den Brustansätzen deutlich erkennen. Und erst der Hals … Muriel entfuhr ein leises »merde«.
Warum bloß hatte sie ihm gestern nicht sofort alles klargemacht? Natürlich wusste sie genau, warum. Er sollte sie nicht für eine Hure halten, die sich gleich von jedem bespringen ließ. Das wären ganz schlechte Voraussetzungen für ihr Vorhaben. Aber diese vulgäre Hexe, die sich ihm jetzt so offensichtlich anbot, würde sich bestimmt nicht vornehm zurückhalten. Das erkannte Muriel auf den ersten Blick.