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Das Hotel erinnerte ihn jedes Mal lebhaft ans ›Bellagio‹ in Las Vegas – das Einzige, was ihn am ›New Century‹ störte. Sonst war es ein Kasinokomplex wie jeder andere, mit dem Vorteil der Flughafennähe und des kostenlosen Frühstücksbüfetts. Auf die Erinnerung an die fünf Jahre in den Vereinigten Staaten hätte er liebend gerne verzichtet. Kalifornien war seither nichts anderes als das Symbol seiner zerstörten Träume. Er bezog sein Zimmer und bahnte sich wenig später den Weg durch das Volk zu den Spieltischen. Die meisten Besucher waren Festlandchinesen, darunter erstaunlich viele Frauen. Neureiche Geschäftsfrauen, wie er unschwer am kostbaren Goldschmuck erkannte, die hier an einem Abend soviel verzockten, wie er im ganzen Leben nicht. Anfangs konnte er sich nicht erklären, wie die Leute soviel Geld über die Grenze in die Sonderwirtschaftszone schleppten, bis ihm einer der Croupiers das Geheimnis verriet. ›Junket Operator‹ hieß das Zauberwort. Vergnügungsspezialisten, VIP-Betreuer, die für die Kasinos arbeiteten, in Wirklichkeit nichts anderes waren als Kredithaie. Sie versorgten die betuchten Festlandchinesen gegen fette Provision mit Tonnen von Spielchips auf Kredit und kassierten die Schulden über ihre Hintermänner jenseits der Grenze wieder ein. Ein Milliardengeschäft, an dem Danny bis anhin noch nicht beteiligt war. Ihn hatte noch niemand als VIP entdeckt. War wohl auch besser so.
Er beachtete die Mädchen mit den Drinks nicht, wie die meisten Spieler, und setzte sich an einen Tisch. ›Punto Banco‹ spielte er normalerweise, ein reines Glücksspiel, dessen Verlauf nur von den zufällig gezogenen Karten abhing. Er setzte 500 Pataca auf die Bank und zwang sich zur Ruhe.
»Sechs für den Spieler, drei für die Bank«, verkündete der Croupier, nachdem die ersten Karten ausgeteilt waren und offen auf dem Tisch lagen. Konzentriert und beinahe geräuschlos machten die Spieler ihre Züge, wie die Regeln vorschrieben. Die Atmosphäre an den Tischen erinnerte ihn manchmal an die angespannte Ruhe in einem Prüfungszimmer. Ebenso diszipliniert wie sie die Spielregeln befolgten, steckten die Zocker ihre Verluste weg. Das Glück war eben anderweitig beschäftigt. Nach ein, zwei Spielen nahm er selbst die Umgebung kaum mehr wahr. Einzig der Croupier mit seinem Kartenschlitten und der Holzpalette war wichtig. Und natürlich die Karten. Er interessierte sich nicht für die Gesichter um ihn herum. Es waren ohnehin immer dieselben, wie ihm schien.
Um Mitternacht hatten sich seine Chips nahezu verdoppelt – ein ganz neues Gefühl für ihn. Ein Rausch, als hätte er all die Drinks in sich hineingeschüttet, die an ihm vorbeigezogen waren. Keine Spur vom Kater, der sich sonst um diese Zeit bemerkbar machte. Heute bezwang er die Spielbank. Er war stark wie ein Drache. Aufhören kam nicht infrage. Samstag war der übliche Tag fürs Roulette, aber warum sollte er warten? Schließlich war es seit zehn Minuten Samstag. Er näherte sich den langen, grünen Tischen, als ihn eine samtweiche Stimme in seinem Rücken ansprach:
»Sie haben großes Glück heute Abend, Dr. Chen.«
Verblüfft drehte er sich um. Die Stimme gehörte einer zierlichen jungen Frau, die ihn freudig und auffordernd anlächelte, als wären sie alte Bekannte. Ihr schlanker, betont sportlicher Körper steckte in einem hoch geschlitzten blutroten Seiden-Cheongsam mit aufgestickten goldenen Drachenmotiven. Das Kleid allein sah teurer aus als der ansehnliche Berg Chips den er in seiner Tasche trug. Ihr rabenschwarz glänzendes Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr bis fast zum Po hinunter reichte. Die Erscheinung verunsicherte ihn zutiefst. Er konnte sie nicht einordnen. Sie passte in keine seiner bekannten Kategorien. Garderobe und Goldschmuck deuteten auf eine der Neureichen, für die er nicht sonderlich viel übrig hatte. Der schlanke Körper aber entpuppte sich auf den zweiten Blick als raffiniert verhülltes Muskelpaket einer Spitzenturnerin. Vollends verwirrte ihn das Gesicht der Frau. Sanfte, sinnliche Lippen, tadellos geschminkt in der Farbe des Kleides, strahlend weiße Zähne, die nicht die kleinste Unregelmäßigkeit zeigten, aber nachtschwarze, undurchdringliche Augen, die ihn auf der Stelle festnagelten und beinahe in die Knie zwangen, als hätte sie ihn im Würgegriff. Er schnappte nach Luft, bevor er mit heiserer Stimme fragte:
»Entschuldigung, kennen wir uns?«
Sie lachte. Es war ein warmes, melodiöses Lachen, das gar nicht zu ihrem hypnotischen Blick passte. »Jetzt schon«, antwortete sie. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so überfalle. Mein Name ist Mei Tan.« Sie senkte ihre Stimme, dass die Umstehenden nicht zuhören konnten. »Herr Stanley Wu möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.«
Der Name elektrisierte ihn. Jeder Spieler kannte ihn. Er war beinahe so berühmt, oder besser berüchtigt, wie der Name des unbestrittenen Königs von Macao, Stanley Ho, dessen silbergrauen Rolls-Royce mit dem Kennzeichen ›HK 1‹ man früher oft in der Stadt gesehen hatte. Auch Wu sagte man unermesslichen Reichtum nach. Wenn Stanley Wu einen zu sprechen wünschte, lehnte man nicht ab. So einfach war das. Beinahe hätte er den Namen vor Überraschung laut ausgerufen. Im letzten Moment hielt er sich zurück, zwang sich innerlich zur Ruhe. Man redete nicht laut über Stanley Wu. Aber konnte er dieser Unbekannten trauen? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Einige Augenblicke versuchte er vergeblich, sich zu konzentrieren. Sie wusste seinen Namen. Hatte Stanley Wu ihn beobachten lassen, sich über den einfachen Elektronik-Ingenieur aus Taiwan erkundigt?
»Warum – was will Herr Wu von mir?«, stammelte er verlegen.
Ihr Mund lächelte. Die Augen hörten nicht auf, ihn zu hypnotisieren. »Folgen Sie mir bitte, Dr. Chen.«
Wie ein braves Schosshündchen trippelte er hinter ihr zum Ausgang. Er dachte nicht mehr an die Chips in seinem Jackett. Auch die appetitlichen Beine in den hochhackigen Stöckelschuhen vor ihm beschäftigten ihn nicht. Seine Gedanken waren bei Stanley Wu und seiner wundersamen Geldmaschine. Er konnte noch immer nicht fassen, dass ihn diese lebende Legende zur Audienz lud, als er bereits hinter dunklen Scheiben im Fond der Limousine saß. Die geheimnisvolle Chinesin neben ihm brauchte kein Wort mit dem Fahrer zu wechseln. Es war offensichtlich klar, wohin die Reise ging. Sie schwiegen auf der kurzen Fahrt. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber die Umstände der unerwarteten Begegnung schüchterten ihn ein. Hundert Fragen stauten sich in seinem Kopf, aber er wagte nicht, die seltsam vornehme Ruhe zu stören. Einmal, kurz bevor der Wagen anhielt, blitzte draußen der leuchtende, wässrig blaue Opal des ›Altira‹ auf. Er hatte das Luxushotel nur einmal zur Entspannung nach einem verlustreichen Tag betreten. Von der Lounge auf dem Dach hatte man den spektakulärsten Blick auf die Halbinsel Macao. Und der Nachtwind im 38. Stock eignete sich vorzüglich, den Kopf durchzulüften.
»Willkommen im Altira«, grüßte der Page, der ihnen die Tür aufhielt.
Mei Tan ging achtlos an ihm vorbei zu den Aufzügen. Danny erwartete, dass die Besprechung in einer der Villen in den obersten Stockwerken stattfinden würde. Dort, wo normal Sterbliche keinen Zutritt hatten, es sei denn, sie wischten den Dreck der Reichen weg. Er war fast ein wenig enttäuscht, als sie nach einer Odyssee durch die parfümierten Kühlschlangen der Hotelkorridore eine unscheinbare Tür ohne jedes Kennzeichen öffnete. Sie betraten einen geräumigen Saal. Elegante Lüster an der Stuckdecke tauchten den Raum in weiches, weißes Licht. Den Wänden entlang standen mächtige vergoldete Marmorsäulen, als müssten sie die schwere Deckenkonstruktion tragen. Mäander aus exotischen Hölzern bildeten das exklusive Parkett. Kitschiger Pomp zwar, aber alles aus erlesenem Material und mit Sicherheit schweineteuer. Sein Puls schlug unwillkürlich schneller, als er die vier schweren Tische erblickte. Sie waren mit grünem Filz bespannt – Spieltische. Nur an einem saßen drei Männer in schwarzen Lederpolstern. Sie kehrten ihm den Rücken, schienen sich nicht um die Eindringlinge zu kümmern.
Mei machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Tisches und sagte: »Herr Wu erwartet Sie.« Dann zog sie sich mit einer angedeuteten Verbeugung zurück und stellte sich als stumme Wächterin neben die Tür.
Der kleine grauhaarige Mann in der Mitte erhob sich. Er drehte sich um und winkte Danny wie einen alten Bekannten herbei. »Setzen Sie sich, Dr. Chen«, forderte er ihn lächelnd auf. »Leisten Sie uns Gesellschaft bei einem Spielchen.«
Stanley Wu sah zwar älter aus als auf den Fotos in den Zeitungen, aber sein rundes, glänzendes Gesicht, das leuchtete wie der Vollmond, war nicht zu verkennen. Ein Kartenspiel mit Stanley Wu war etwa das Allerletzte, was er erwartet hatte. Erst jetzt erinnerte er sich, dass praktisch seine ganze Barschaft aus nutzlosen New-Century-Chips bestand. Zum ersten Mal seit ihn die Schlange hypnotisiert hatte, machte er den Mund auf:
»Herr Wu – ich – bin geehrt – ich fürchte …« Mit jedem Wort stotterte er mehr, sodass er verlegen die Lippen zusammenpresste und mit gequältem Lächeln Wus ausgestreckte Hand ergriff.
»Machen Sie sich keine Sorgen um den Einsatz. Wir spielen hier nur zum Vergnügen«, sagte Wu freundlich und forderte ihn auf, sich zu setzen. Die anderen beiden Herren nickten dem Neuen höflich zu und schwiegen weiter. Wu warf ihm einen fragenden Blick zu. »Hundert, ist das in Ordnung?«
»Hundert – ja – klar«, stammelte Danny. Hundert Pataca waren selbst für ihn ein lächerlich geringer Einsatz.
Aus dem Nichts tauchte eine Croupière in schwarzem Frack auf. Wu nickte ihr zu mit der Bemerkung: »Dr. Chen setzt 100’000.«
Danny verschluckte sich, hustete. Mühsam unterdrückte er einen Schreckensruf. Er fürchtete, sein Kopf würde explodieren. Um 100’000 hatte er in seinem Leben noch nicht gespielt. Wenn er dieses Spiel in den Sand setzte, war er nicht nur seinen schönen Gewinn los, sondern konnte gleich noch 50’000 Schulden anschreiben lassen. Er wollte sich nicht ausmalen, was das bedeutete. Es dauerte eine Weile, bis er wieder ruhig atmete. Kreidebleich nahm er die Karten entgegen. Wieder spielte er auf Bank. Die andern drei wetteten wie auf ein geheimes Kommando gegen die Bank. Die Runde war schnell zu Ende. Bank: er gewann den ganzen Einsatz, war um 300’000 Pataca reicher als zwei Minuten zuvor. Bargeld. Hier spielte man nicht mit Chips. Wus großzügigen Kredit brauchte er nicht in Anspruch zu nehmen.
»Gratuliere, Dr. Chen. Das Glück bleibt Ihnen heute treu, wie es scheint«, lachte Wu. Er gönnte ihm die bescheidene Freude von Herzen.
Danny fühlte sich, als tauchte er nach eiskalter Dusche in ein warmes Sprudelbad. Die Glückssträhne hielt an. Dank dem unverschämten Einsatz hatte er in einem Spiel mehr gewonnen als je zuvor. Mit 300’000 Pataca konnte man schon eine ganze Menge verrückter Dinge anstellen, aber seine Sucht ließ ihm gar keine Wahl, als weiter zu spielen. Insgeheim hoffte er, Wu würde das Spektakel hier im VIP Zimmer abbrechen und endlich mit ihm besprechen, was so wichtig sein musste. Im selben Atemzug verfluchte er die Besprechung, wartete gierig auf das Zeichen, erneut zu setzen. Nochmals 100’000 war er im Grunde seinem Glück schuldig.
Wu machte keine Anstalten, das Spiel abzubrechen. Gleichmütig gab er der Croupière wieder ein Zeichen und sagte, als erwartete jedermann nichts anderes: »Spielen wir um 500.«
Es war keine Frage, nur eine Feststellung. Niemand regte sich auf. Der Verstand sagte Danny, dass jetzt der Augenblick gekommen war, schleunigst das Weite zu suchen, aber er sprach so leise, dass er ihn nicht hörte. Er verließ sich wie bisher auf sein Bauchgefühl, setzte wieder auf Bank gegen alle andern und – verlor. Er schnappte hörbar nach Luft. Verschwommen nahm er wahr, wie die drei älteren Herren das Notenbündel auf dem Tisch untereinander aufteilten. Seine leicht verdienten 300’000 verschwanden im Nu in den fremden Taschen. Dann warteten die drei geduldig auf seine Reaktion, genauer: auf seine restlichen 200’000 Pataca, die er nicht besaß, aber verloren hatte.
»Es tut mir leid – ich…«
Wu lächelte wie ein Vater, der seinem Sohn eine kleine Dummheit verzeiht. »Ich denke, wir haben uns genügend amüsiert, meine Herren«, sagte er, ohne Danny aus den Augen zu lassen. Die beiden Unbekannten erhoben sich und verließen den Saal zusammen mit der Croupière nach einer stummen Verbeugung. Er saß allein am Tisch mit einem der mächtigsten Männer von Macao, der lebenden Legende Stanley Wu, der schwarzen Kasse manch hohen Politikers, wie man munkelte. Nur die Schlange mit dem hypnotischen Blick stand noch neben der Tür, aber die hatten beide längst vergessen.
Wu drehte den Sessel so, dass er ihm bequem ins Gesicht schauen konnte. »Wie gesagt, Dr. Chen. Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Einsatzes«, begann er.
Danny senkte den Blick. Seine Finger krallten sich um die Sessellehne, als erwarte er den Bohrer des Zahnarztes.
»Entspannen Sie sich«, lächelte Wu väterlich. »Vergessen Sie das Spiel. Ich habe Sie hergebeten, um Ihnen ein Angebot zu machen.«
Ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte, schoss ihm durch den Kopf. Dennoch versuchte er wenigstens den Anschein zu wahren, ruhig zuzuhören.
Wu fuhr weiter: »Sie sind ein ausgezeichneter Elektronik-Ingenieur, Dr. Chen.« Er hielt einen Augenblick inne, betrachtete Danny beinahe mitleidig. »Ein Jammer, dass die Dummköpfe im Silicon Valley sie ziehen ließen.« Wieder beobachtete er seine Reaktion. Danny hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Wu war ausgezeichnet informiert. Er drückte sich höflich aus, aber Wu wusste bestimmt, dass er damals nach dem Studium Kalifornien nicht freiwillig verlassen hatte. Ein Job in der Forschung und Entwicklung im verheißungsvollen Silicon Valley wäre ihm hundertmal lieber gewesen, als die Routinearbeit auf Taiwan. An seinen Zensuren konnte es nicht gelegen haben. Die waren samt und sonders erstklassig. Die Absagen waren rein politisch motiviert, keine Frage. Er war kein Amerikaner, schlimmer: er war Chinese wie Stanley Wu, wenn er auch nicht aus der Volksrepublik stammte. Die Filter der arroganten Amis waren sehr grob eingestellt. Danny versuchte so gut es ging, dieses leidige Thema zu verdrängen. Umso mehr erschütterte Wus Bemerkung sein Selbstvertrauen. Sein Gegenüber hatte ihn die ganze Zeit forschend angesehen. Er schien in seinem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Schließlich sagte er:
»Für uns ist es natürlich ein Glück, dass Sie nach Taiwan zurückgekehrt sind, Dr. Chen. Ich verstehe leider nichts von Ihrer Arbeit, aber meine Berater sagen mir, dass Sie einer der führenden Spezialisten für hoch integrierte CMOS Schaltkreise sind. Das ist genau was wir brauchen für unser Entwicklungsprojekt. Sagen die Berater.«
Die einseitige Konversation drehte sich plötzlich um ein Thema, in dem sich Danny auskannte. Er fühlte sich augenblicklich auf sicherem Boden, vergaß die latente Bedrohung, die ihn bisher gelähmt hatte. »Worum geht es bei dieser Entwicklung?«, fragte er interessiert.
Wus Mondgesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Eine sehr heikle Spezialanfertigung für einen wichtigen Kunden. Mehr darf ich Ihnen nicht verraten. Das Projekt läuft unter höchster Geheimhaltung. Wie gesagt, ich verstehe ohnehin nichts von Ihrer Arbeit. Ich weiß nur, dass Sie der richtige Mann dafür wären, der uns noch fehlt.« Er griff in sein Jackett, zog einen Briefumschlag heraus und reichte ihn Danny. »Lesen Sie. Hier steht alles Wichtige drin. Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Er erhob sich unvermittelt und entschuldigte sich: »Ich muss einen dringenden Anruf erledigen. Bitte bleiben Sie sitzen, ich bin gleich zurück.«
Verwirrt öffnete Danny den Umschlag. Die Schlange an der Tür beobachtete ihn lauernd, doch je weiter er las, desto unbedeutender wurde die unheimliche Frau, die ihn hierher gelockt hatte. Von einem solchen Angebot hatte er stets geträumt. Entwicklungsleiter bei einem der größten Hersteller von integrierten Schaltkreisen und Platinen für Computer. Nicht im Silicon Valley zwar, in Hsinchu auf Taiwan, wo die meisten großen Konzerne ihren Sitz hatten. Aber mit durchaus vergleichbarem Salär, geradezu unverschämt für taiwanische Verhältnisse. Im Geiste sprang er auf die Tischplatte, führte er einen ausgelassenen Freudentanz auf und brüllte mit jedem Abschnitt lauter: »Ja – ja – ja!« Er hätte den Vertrag auf der Stelle mit seinem Blut unterschrieben, auch ohne den letzten Absatz, der ihm eine ständige Kreditlimite für Wus Kasinos über 500’000 Pataca garantierte. Als Wu zurückkehrte, lächelte auch Danny zum ersten Mal entspannt, seit er diesen Saal betreten hatte.
Weymouth, Dorset, Uk
Das viktorianische Haus mit den übermächtigen Erkern und den verspielten Dachgiebeln thronte auf der kleinen Anhöhe am Greenhill über dem Sandstrand von Weymouth wie ein in Stein gemeißelter Muskelprotz. Jedes Mal ging Ryan dieser Gedanke durch den Kopf, wenn er hier aufkreuzte. Vielleicht regten ihn die hautfarbenen Backsteine zu diesem Gleichnis an. Jedenfalls strahlte das prachtvolle Bed & Breakfast der Whites auch an diesem Morgen wieder die heitere Wonne eines frisch geduschten Bademeisters aus. Auch wenn er sich nicht für das biedere Kleingewerbe von Jessies Mutter erwärmen konnte, das Haus und seine traumhafte Lage mit unverbaubarem Blick aufs offene Meer weckten schon manchmal echten Neid in ihm. Dagegen war das bescheidene Reihenhaus seiner Eltern an der Kirkleton, wo es Parkplätze statt Vorgärten gab, der reine Mief. Bisher hatte er nur einen Vorteil seiner Straße gegenüber Greenhill entdeckt: sein Haus lag näher am ›Tesco‹. Nicht zu unterschätzen für einen Jungen, der nichts so sehr verabscheute wie Zeit zu verlieren beim Einkaufen.
Der milde Frühling war zurückgekehrt. Jessies Mutter kniete neben der Treppe vor dem Haus und setzte die ersten Primeln.
»Morgen Hazel«, grüsste er sie. »Geht’s endlich los mit der Blütenpracht?«
»Sieht man das?«, gab sie kühl zurück, ohne von ihrer Arbeit abzulassen.
Charmant wie immer, dachte er. Hazels ironische Kommentare störten ihn nicht mehr. Schon eher, dass sie sich vorwiegend gegen ihn richteten. »Oder gibt das Gemüse?«, fragte er laut. Er konnte auch.
Wenigstens erreichte er damit, dass sie ihn ansah. »Sehr witzig, du Zahlenkünstler. Lernt man das in diesem Bristol?«
Wie viel Abscheu doch in einem Wörtchen wie diesem liegen konnte. Sie vergaß das hässliche Demonstrativpronomen nie, wenn sie von der ›Industriestadt im Norden‹ sprach.
»Lass das, Ma.«, rief Jessie durch die Türöffnung. »Du bringst den armen Ryan ganz durcheinander.« Mit zwei Sprüngen war sie bei ihm, den Picknickkorb am Arm, die rote Windjacke offen über die Schulter geschlungen. Sie gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, dann hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn weg. »Danke fürs Boot«, rief sie nach hinten, als sie schon auf der Straße waren.
»Ich muss schon sagen: Hazel hat ihre Zähne noch nicht verloren«, grinste er, während er leichtfüßig neben ihr auf der Strandpromenade dem Hafen zustrebte. Ihr zartes Parfüm und alles, was seine lebhafte Fantasie damit verband, schien die Schwere aus seinem Körper zu ziehen. Hätten sie beide plötzlich abgehoben, er hätte sich nicht im Geringsten gewundert.
»Sie hat manchmal Haare auf den Zähnen, aber das weißt du ja«, gab sie zu.
»Allerdings. Ist aber nett, dass sie uns die ›Schöne Matilda‹ überlässt. Wie hast du das nur geschafft?«
»Ich habe gar nichts getan. Dein Hochsee-Segelschein hat sie überzeugt.«
Sie flunkerte, das war nicht zu übersehen. Wahrscheinlich musste Jessie ihrer Mutter wer weiß was versprechen, bis sie den Schlüssel zum Liebling ihres verstorbenen Gatten herausrückte. Das hervorragend unterhaltene fünfzigjährige Segelboot hieß tatsächlich nicht einfach Matilda. Es war die schöne Matilda, und das Schiff trug den Namen mit vollem Recht: Hülle und Aufbauten aus massiver Eiche, das Deck und die Kabineneinrichtung aus poliertem Teakholz. Die Schöne war mit ihren neun Metern Länge zwar klein aber eine Augenweide für jeden Betrachter. Und, nicht zu vergessen, die Kabine war groß genug für zwei Erwachsene.
Mit eingerolltem Segel tuckerten sie unter der Hafenbrücke hindurch, an den Fischerbooten und historischen Backsteinhäusern des äußeren Hafens vorbei aufs offene Wasser des Ärmelkanals. Auf den ersten Blick sah die bunte Häuserzeile wohl heute noch aus wie zur Zeit, als Sir Christopher Wren hier den Portland-Stein für die Saint Paul’s Kathedrale verschiffte.
Trotz des fast wolkenlosen Himmels kroch die Kälte schnell durch die Kleider, nachdem sie den Hafen verlassen hatten. Ihn störte das nicht, Jessie ebenso wenig. Es war Wochenende, die Sonne schien, also verbrachte man den Tag draußen. Alle hielten sich an diese einfache Regel. Gut verpackt in ihrer Jacke reichte sie ihm einen Becher dampfenden Kaffee aus dem Thermoskrug. Die frische Brise hatte ihre Wangen und die Nasenspitze gerötet, ein wunderbarer Kontrast zu den himmelblauen Augen. Mit den frech aus der roten Kapuze guckenden goldenen Haarstränen glich sie einem freundlichen Kobold. Und dieser unvergleichliche Schlafzimmerblick, der einem auf der Stelle den Verstand raubte. Vergessen waren Asymptoten, Gammafunktion und partielle Differenzialgleichungen. Gegen diesen Blick hatte nicht einmal ein Carl Friedrich Gauß den Hauch einer Chance. Und der war immerhin der größte Mathematiker aller Zeiten. So war das, und deshalb stand er an diesem Samstagmorgen frierend auf dem polierten Deck der ›Schönen Matilda‹.
Sie waren beide geübte Segler, also setzten sie die Fock und das Großsegel, steuerten härter an den Wind und führten ein paar Alibi-Wendemanöver durch. In der Mitte der Bucht holten sie die Segel wieder ein. Sanfte Wellen brachen sich am Rumpf, wiegten die Passagiere der kleinen Matilda mit gleichmäßigem Plätschern und zahmen Stößen in einen Dämmerzustand. In der Ferne zog der weiße Katamaran der Fähre nach Guernsey an ihnen vorbei. Sie saßen im Windschatten an der Kajütenwand. Eine Weile schwiegen sie sich an, griffen abwechselnd in den Picknickkorb und ließen sich von der Sonne wärmen. Hin und wieder wagte eine verirrte Möwe eine Landung auf ihrem Baum, machte ein paar vorsichtige Schritte auf sie zu, um ihnen beim Kauen zuzuschauen.
»Ich verstehe nicht, wie George von hier wegziehen konnte«, sagte Jessie plötzlich zur Möwe, die erschrocken wegflatterte.
»George?«
»Ma’s kleiner Bruder, du weißt schon.«
»Ach so, der Unfall im Bergwerk.«
»Es war kein Unfall. Ein Anschlag auf die Mine soll es gewesen sein. Terroristen.«
Er schaute sie ungläubig an. »Terroristen«, wiederholte er verächtlich. »Typisch Amerikaner. Wenn sie sich etwas nicht gleich erklären können, steckt al-Qaida dahinter.«
»Ist aber so«, meinte sie trotzig. »Die Mine wurde richtiggehend in die Luft gesprengt.«
»Er wurde verschüttet?«
Sie nickte und murmelte: »Wenigstens musste er nicht leiden, sagt Ma.«
»Was bauten sie denn ab in dieser Mine?«
»Weiß nicht. Irgendwelche Metalle halt. Was hat ihn nur an dieser gottverlassenen Gegend gereizt? Ich glaube, ich bleibe mein ganzes Leben hier in Weymouth. Gibt nichts Schöneres.«
»Na ja, ich lebe jetzt auch in Bristol.« Es war ihm herausgerutscht, und er bereute die Bemerkung augenblicklich.
»Eben«, sagte sie nur.
Wieder der Schlafzimmerblick. Es war nicht zum Aushalten. Heute musste er den Durchbruch schaffen, den gewagten Schritt von der Freundschaft zur Liebschaft, sonst würde er elend krepieren. Aber seine alberne Bemerkung machte die Sache nicht einfacher. Sein Telefon klingelte, bevor er dem Schlachtplan einen weiteren Gedanken widmen konnte.
»Wusste gar nicht, dass man hier Empfang hat«, brummte er unwirsch und drückte die Empfangstaste.
»Ryan?«, rief eine aufgeregte Stimme aus dem Hörer. Ohne auf seine Antwort zu warten, schwatzte die Anruferin atemlos weiter: »Ich bin’s, Mrs. Pendergast, die Nachbarin. Deine Mutter ist von der Treppe gestürzt. Sie ist im Krankenhaus, hat den Knöchel gebrochen. Es geht ihr gut, aber du solltest sofort herkommen. Hallo?«
Er unterdrückte einen Fluch. »Ich fahre so schnell es geht ins Krankenhaus, Mrs. Pendergast«, murmelte er. »Vielen Dank für den Anruf.« Er legte schnell auf, bevor die berüchtigte Quelle weitersprudelte.
Jessie war aufgesprungen. »Krankenhaus?«, rief sie betroffen. »Was ist passiert, um Himmels willen?«