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»Es müsste doch, verdammt noch mal, möglich sein, Zeitintervalle und Messpunkte automatisch festzulegen«, warf er der Hieroglyphenwand vor. Er schloss die Augen. Jessies verträumter Blick überstrahlte kurz die vielen x, i, j, Gammas und Thetas, dann schlug er sich unvermittelt an die Stirn. »Trottel«, schalt er sich. Es war so offensichtlich. Er brauchte seine Zeit nicht mit den Formeln für die Berechnung der Resultate zu verschwenden. Die Eingabefilter musste er sich vornehmen. Es lief genau auf das hinaus, was er leichthin zur Wand gesagt hatte. Wenn er es schaffte, die Eingabefilter automatisch zu konfigurieren, dann würde sein Modell nicht nur die Finanztitel automatisch finden, die für eine Blase infrage kämen, es würde ihm auch gleich beantworten, für welche Kategorien von Titeln sein Modell taugte. Er rannte hinaus, den Korridor hinunter zur Kaffeeküche, schenkte sich einen Becher der siedend heißen, sauren Brühe ein, eilte an den Schreibtisch zurück und begann, die Filter umzubauen.
Dutzende zerknüllte Seiten weiter, sechs Stunden später, mit einem knurrenden Magen, den man bis in Irwyns Büro am andern Ende des Flurs hören musste, glaubte er soweit zu sein. Es blieb lediglich noch, die Software an die modifizierten Formeln anpassen, eine vergleichsweise kinderleichte Übung. Der Zeitpunkt für den Testlauf war gut. Abends um acht war nicht mehr viel los auf der Serverfarm. Er startete seine neue Modellrechnung mit der vollständigen Datenbasis als Eingabe. Ein Datenchaos aus Text und Zahlen von nahezu tausend Gigabytes. Die Rechnerei würde die ganze Nacht dauern. Mit ein wenig Glück erwartete ihn am nächsten Morgen ein Resultat, wie er es noch nie gesehen hatte. Etwas weniger Glück, und einmal mehr würde ihn nur die Fehlermeldung Abort xyz begrüßen.
Mr. Meriwether begriff nichts von seiner Arbeit. Er hatte nicht das geringste Verständnis dafür, dass Ryan ihm am nächsten Morgen nur ein Tellerchen mit etwas Milch hinstellte. Er drückte sich so lange jammernd zwischen seinen Beinen herum, bis er den vertrockneten Rest seines Sandwichs holte und ihm ein paar Krümel der Füllung hinstreute, die einmal Schinken gewesen war. Mr. Meriwether machte einen Bogen um die Katastrophe, leckte seine Milch auf und ließ ihn stehen.
An diesem Morgen rannte er ins Institut. Atemlos drückte er auf die Leertaste, um den Bildschirm aufzuwecken. Er wagte kaum hinzusehen. Keine Fehlermeldung. Seine Hand zitterte leicht, als er mit der Maustaste durch die Tabellen und Grafiken blätterte, die sein Programm erstellt hatte. Ein Wonnegefühl durchrieselte ihn, durchaus vergleichbar mit dem Augenblick, als Jessie ihn zum ersten Mal mit einer Leidenschaft auf den Mund küsste, dass er sich auf der Stelle in reine Energie auflöste. Hastig druckte er einige Seiten aus und rannte damit zu seinem Professor.
»Heureka!«, rief er lauthals, während er ins Büro stürzte.
»Auch einen guten Morgen wünsche ich dir«, brummte Irwyn verschlafen, ohne aufzuschauen. »Komm doch herein.«
»Sorry – aber – hast du einen Moment Zeit?«
Als Irwyn das verschmitzte Grinsen im Gesicht seines Doktoranden bemerkte, lächelte auch er. »Her mit dem Wisch«, befahl er mit einer fordernden Handbewegung. Er studierte die neuen Resultate eingehend. Das war so üblich. Erst machte er sich selbst ein Bild, bevor er etwas hören wollte. »Nicht schlecht«, sagte er schließlich mit undurchdringlicher Miene. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete auf den etwas längeren Kommentar seines Schülers.
»Nicht schlecht«, äffte Ryan nach. »Du bist gut. Deine Nerven müsste man haben. »Hast du die Breite der Analyse gesehen? Das Modell wählt jetzt automatisch Kandidaten für Blasen aus praktisch dem ganzen Spektrum von Finanzinstrumenten. Inklusive Titel, für die es nur einen dünnen Markt gibt wie Rohstoffe, die nur von wenigen spezialisierten Firmen gehandelt werden. Seltene Erden zum Beispiel.«
Das Lächeln kehrte auf Irwyns Gesicht zurück. »Beruhige dich. Das habe ich sehr wohl bemerkt. Mir scheint, das ist der Durchbruch, von dem ich neulich gesprochen habe. Wir werden das gründlich miteinander verifizieren und so schnell wie möglich publizieren, als Vorabdruck deiner Dissertation. Dieses Ergebnis muss in die Fachpresse.«
Fort Meade, Maryland
Alex wuchtete die Kiste mit ihrem persönlichen Kram und dem Büromaterial auf ihren neuen Schreibtisch. In den vier Jahren im Innern des Allerheiligsten der NSA war dies der dritte Umzug. Fast wie in der Redaktion. Sie schaute sich um, schnupperte die Luft im Zimmer, das nun für ein paar Monate, vielleicht ein Jahr ihr neuer Arbeitsplatz war. Eine substantielle Verbesserung allerdings, das musste sie sich eingestehen. Trotzdem rümpfte sie die Nase. Die Luft im Einzelbüro wirkte seltsam tot. Das gewohnte Aroma aus Körpergerüchen, Rasierwasser und heiß laufenden Computern wie in andern Büros fehlte. Hier war sie das einzig Lebendige. Aber Einzelbüro, fast Eckbüro, und ihr ›f2b‹ war auf lächerliche zwanzig geschrumpft. Besser ging nicht. Wenn nichts anderes, dann sagte der ›f2b‹ als zuverlässigstes, allgemein anerkanntes Maß, wie es um die Karriere eines Mitarbeiters stand. Sie hatte nie herausgefunden, ob das Kürzel als ›feet from Bob‹ oder, eher unwahrscheinlich, ›feet to Bob‹ zu lesen war. Auf jeden Fall bezeichnete es den Abstand von ihrer Bürotür zu Bobs Tür. Mit zwanzig Fuß waren sie und ihr allseits gefürchteter und bewunderter Chef nun also Nachbarn. Grund genug, ein wenig stolz zu sein. Und ein bisschen bereute sie, das Gefühl mit niemandem teilen zu können. Sie verscheuchte den Gedanken schnell wieder und begann, die wenigen Sachen einzuräumen. Sie musste sich nicht über Einsamkeit beklagen. Sie hatte es so gewollt. Im Allgemeinen lebte sie ganz gut damit.
Zehn Minuten nach ihrem Einzug arbeitete sie am Bildschirm, als hätte sie nie anderswo gesessen. Beim Kontrollblick auf die im Hintergrund laufenden Nachrichtenfilter stutzte sie. Ein Fenster, das seit Jahren keine Aktivität mehr anzeigte, erwachte plötzlich zum Leben. Der rote Balken am oberen Rand deutete auf mindestens 90% Relevanz. Das Programm, das den unablässigen Strom der Nachrichten und Hinweise aus allen möglichen Quellen für dieses Fenster analysierte, hatte ihr etwas Wichtiges zu sagen. Es hatte einen Beitrag in der britischen Fachzeitschrift ›Journal of Computational Finance‹ entdeckt:
Die Topologie von Regime-shifts
Ein erweitertes Modell zur Prognose von Finanzblasen
Nicht der verwirrende Titel des Artikels erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war die kurze, hervorgehobene Passage aus der Zusammenfassung, die sie sofort ihre eigentliche Aufgabe vergessen ließ:
Der breite theoretische Definitionsbereich des Modells wird eindrücklich demonstriert durch die ex post Analyse bekannter Preisblasen liquider Commodities, Aktien und illiquider Unternehmensanleihen aus den Jahren 2009 und 2010, sowie eines älteren Niveau-Übergangs des REE Neodym.
Alex traute ihren Augen nicht. Sie hatte dieses Fenster sicher drei Jahre lang nicht mehr beachtet. Ihre hektischen ersten Monate in Crypto City waren von den Nachbeben der Katastrophe in der kalifornischen Mine geprägt. Der Aktionismus des DHS, FBI und der sonst kühlen Köpfe bei der NSA führte damals zu nichts. Einmal abgesehen davon, dass der Verdacht Richtung China noch immer wie ein übler Verwesungsgeruch in der Luft hing. Die Untersuchung verlief stillschweigend im Sand. Unbeachtet und bald vergessen schnüffelten nur ein paar Programmroboter permanent nach weiteren Informationen, die Hinweise auf jenes Ereignis enthielten. Und nun hatte einer Alarm geschlagen.
Aufgeregt las sie die ganze Zusammenfassung und den Anfang des Berichts. Je weiter sie in den mathematischen Fachjargon eintauchte, desto weniger verstand sie. Bald kam der Punkt, wo sie denselben kurzen Satz dreimal gelesen hatte und noch immer nicht kapierte. Ernüchtert griff sie zum Pappbecher, der noch in der Transportkiste stand, führte ihn an den Mund und stieß ihn gleich wieder angewidert von sich. Kalter Kaffee machte die Sache auch nicht besser. Angesichts der vielen englischen Fremdwörter und Formeln im Fachartikel dieses Ryan Cole aus Bristol kam sie sich reichlich blöd vor. Nur soviel war klar: das Modell des Briten konnte den Zeitpunkt der Mountain Pass Katastrophe beklemmend genau vorhersagen. Leute, die dieses Papier verstehen würden, Mathematiker, Physiker, Quants, gab es genug in Fort Meade. Das Problem war nur, dass die alle andere Aufgaben hatten. Ohne Bobs Machtwort durfte sie keine Hilfe erwarten. Sie griff zum Hörer des grauen Telefons und drückte Bobs Kurzwahltaste. Den gefährlichen schwarzen Apparat daneben benutzte sie höchst selten, nur für harmlose externe Anrufe, wenn sie sich als Journalistin ausgab. Jeder bei der NSA wusste: schwarze Telefone waren nicht abhörsicher.
Er antwortete augenblicklich: »Alex, was gibt’s?«
»Hast du fünf Minuten?«
»Nein, wozu?«
»Mountain Pass. Ein neuer Lead.«
Es blieb eine Weile still in der Leitung. Eine lange Zeit, für Bobs Verhältnisse. Dann sagte er leise, als fürchtete er, belauscht zu werden: »Komm rüber.«
Sie druckte hastig die paar Seiten aus, die sie zu lesen versucht hatte und eilte damit ins Büro nebenan.
»Ich hoffte, nie mehr etwas von diesem verfluchten Dreckloch zu hören«, schimpfte Bob zur Begrüßung. »Ein Lead?«
»Ja – nicht direkt. Aber ich denke, es könnte sich zu einem soliden Hinweis auf die Verantwortlichen entwickeln.«
Seine Blicke durchbohrten sie wie glühende Spieße. »Sei froh, dass ich dich besser kenne, sonst …« Er ließ die Alternative offen, forderte sie mit dem Kinn auf, sich zu setzen und wartete.
Sie kannte Bob lange genug, ignorierte die unausgesprochene Drohung. Ruhig und sachlich antwortete sie: »Vor einer Stunde wechselte einer meiner REE Filter auf rot. Ich hab’s kurz analysiert und meine, dass es kein falscher Alarm ist.«
»Will ich hoffen.«
Sie breitete die Unterlagen vor ihm aus. »Dieser Ryan Cole ist ein Mathematiker aus Bristol, UK. Soweit ich mitbekommen habe, entwickeln sie dort ein Modell, mit dem sie alle möglichen Finanzblasen ziemlich präzise voraussagen und eingrenzen können. Die Publikation ist eine seriöse Fachzeitschrift, also nehme ich nicht an, dass es sich um irgendeinen Hokuspokus handelt. Was die Sache für uns interessant macht, ist dieser Abschnitt in der Zusammenfassung.« Sie zeigte auf die Stelle, wo die Seltenen Erden erwähnt waren. Während er las, ergänzte sie beiläufig: »Der vorausgesagte Neodym Preissprung deckt sich genau mit dem Zeitpunkt der Minenkatastrophe.«
»Was?«, fuhr er sie an. »Das sagst du mir erst jetzt?«
Sie verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. Ausgezeichnet, sie war im Geschäft.
Bob schüttelte ungläubig den Kopf und brummte: »Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass diese Brits die Katastrophe kommen sahen?«
»Das glaube ich nicht, aber hätte ihr Modell damals schon existiert, hätte es auf einen Preissprung hingedeutet. Sie nennen das Regime-shift.«
»Und wenn schon«, entgegnete er ärgerlich. »Das hätten auch normale Marktturbulenzen sein können. Das Wundermodell hätte die Katastrophe auch nicht vorausgesehen.«
»Klar, aber darum geht es mir nicht. Ich will auf etwas anderes hinaus. Dieser Cole und seine Leute behaupten, die finanziellen Auswirkungen des Attentats im Voraus ziemlich genau berechnen zu können. Und das einzig und allein aufgrund öffentlich zugänglicher Daten. Da frage ich mich, was das Modell wohl leisten würde, wenn es unsere Daten zur Verfügung hätte. Gut möglich, dass wir damit den Urhebern des Anschlags doch noch auf die Schliche kommen.«
Er schaute sie nachdenklich an. Die Skepsis wich allmählich aus seinem Blick, machte einer Mischung aus Neugier und Jagdlust Platz. Ein sicheres Zeichen, dass er begann, einen Schlachtplan auszuhecken. »Mit Daten meinst du wohl SWIFT«, murmelte er.
»Unter anderen«, nickte sie. Praktisch alle Geldströme zwischen Banken und Firmen, sogar Einzelpersonen, liefen als Meldungen über das weltweite Netzwerk der ›Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication‹, SWIFT, mit Sitz in Belgien. Wollte man herausfinden, wann wer wem wie viel und wofür bezahlt hatte, gab es keine bessere Datenquelle.
»Wie kommen wir an die Archive?«
Sie lächelte, vielleicht ein wenig zu selbstzufrieden. Aber sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. »Wir haben Glück«, sagte sie. »Mountain Pass fällt in die Zeit, als noch der ganze SWIFT-Verkehr auf unsere Server gespiegelt wurde. Wir haben alles in unseren Archiven, brauchen keinen Antrag zu stellen.«
»Zufälle gibt’s«, grinste er.
Bob wusste genauso gut wie sie, dass sie die SWIFT-Meldungen auch unter den neuen, strikteren europäischen Datenschutz-Bestimmungen erhalten hätten. Dauerte bloß etwas länger.
Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er sagte entschlossen: »Wir haben die Daten, ich organisiere die Einsteins, du das Modell. Inkognito.«
»Funktioniert nicht, fürchte ich. Nichts gegen unsere Eierköpfe, aber wie ich es sehe, geht es bei diesem Modell um Spitzenforschung. Bis sich unsere Jungs eingearbeitet haben, verlieren wir wertvolle Zeit. Wäre es nicht viel einfacher, diesen Cole die Arbeit machen zu lassen? Wir haben noch genug damit zu tun, die Daten für sein Modell aufzubereiten.«
»Wie stellst du dir das vor? Wir geben keine Daten heraus, basta.« Leise fügte er hinzu: »Auch wenn sie uns nicht gehören.«
Das war das Hauptproblem. Sie überlegte schon die ganze Zeit, wie sie das Dilemma lösen könnten. Es half nichts. Die NSA musste in der einen oder anderen Richtung über ihren Schatten springen. Entweder gingen ihre Daten an die Forschergruppe in England, oder die englischen Forscher brachten ihr Modell und das nötige Wissen dazu nach Fort Meade. Eine vernünftige dritte Lösung sah sie nicht. Das sagte sie ihm auch.
»Unmöglich«, war Bobs erste Reaktion.
Sie hatte nichts anderes erwartet, schwieg jedoch. Sie musste ihm Zeit lassen, sich an den furchtbaren Gedanken zu gewöhnen. Er runzelte die Stirn, während er die zwei unmöglichen Varianten gegeneinander abwog. Plötzlich schüttelte er energisch den Kopf und wiederholte:
»Unmöglich, vergiss es. Wir machen es so, wie ich gesagt habe. Du beschaffst das Modell, den Rest erledigen wir hier.«
Sie antwortete nicht sofort, schaute ihn stattdessen an, als erwarte sie eine Erklärung.
»Gibt es ein Problem?«, fragte er gereizt.
»Nein – nein, ich werde es versuchen. Habe ich Clearance für England?«
Er nickte. »Sind ja nicht gerade unsere Erzfeinde«, knurrte er.
Das Modell beschaffen – sie fragte sich, wie um alles in der Welt sie das anstellen sollte, während sie die Unterlagen zusammenraffte und in ihr Büro zurückkehrte. Immerhin hatte sie die Erlaubnis, ohne nervenaufreibenden Papierkram nach Bristol zu reisen, sollte es nötig sein. Das war nicht selbstverständlich. Eines der ungelösten Rätsel von Fort Meade war die Sicherheitspolitik bei Auslandreisen. Sie hatte bis heute nicht verstanden, weshalb ein NSA-Angestellter nur mit schriftlicher Genehmigung nach Großbritannien oder Frankreich reisen durfte, aber problemlos jederzeit auf den Bahamas, dem Paradies für windige Firmen und Financiers, oder in der Drogenhölle von Mexiko Urlaub machen konnte. Ihr IQ reichte einfach nicht aus, die Logik der allmächtigen ›Clearance Division‹ M55 zu verstehen. Genauso wie sie das Modell des Ryan Cole nie begreifen würde.
»Du hast dich da in etwas hineingesteigert, Mädchen«, sagte sie zu sich selbst, als sie einigermaßen ratlos ihre leere Schreibtischplatte musterte. Im Augenblick wusste sie nur eines mit absoluter Sicherheit: Sie brauchte endlich ihren Koffein-Schub. Mit einem frischen Becher funktionierte ihr Gehirn normalerweise besser. So war es auch diesmal. Sie trank einen Schluck von der heißen Brühe, stellte den Pappbecher zur Seite, machte sich ein paar Notizen und griff zum Hörer des schwarzen Telefons. Sie schmunzelte beim Gedanken daran, was in den anderen Büros jedes Mal ablief, wenn jemand den schwarzen Hörer in die Hand nahm. Sofort verstummten alle noch so leisen Gespräche, bis der Hörer wieder sicher auf der Gabel lag. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr wählte sie die Kontaktnummer der Universität Bristol aus dem Artikel. Halb zwölf, halb sechs in England. Sie hoffte, der unbekannte Forscher wäre kein ›nine-to-five‹ Typ und noch nicht auf dem Heimweg.
»Dr. Ryan Cole bitte«, sagte sie erleichtert, als sich die Zentrale der Universität meldete.
»Wen darf ich melden?«
»Alex Oxley vom ›Wall Street Journal‹.« Ihre übliche Tarnung bei externen Kontakten. Sie hatte sich erstaunlich rasch ans Doppelleben gewöhnt. Es war ganz einfach. Sie kannte die Innereien des Blattes aus jahrelanger Erfahrung, wusste, wie sie sich als Journalistin zu verhalten hatte. Ihre schwarzen Anrufe konnten nicht zurückverfolgt werden. Auf ihren Visitenkarten stand die Nummer dieses Apparates. Falls jemand das Journal direkt anrief und sie verlangte, wurde der Anruf automatisch hierher umgeleitet.
Eine Männerstimme wie bittersüße Schokolade, die mit siebzig Prozent Kakao und einer Spur Chili, drang aus dem Hörer, in ihr Ohr, durch die Adern bis in die Zehenspitzen. »Hallo?«, sagte der Unbekannte.
Sie schluckte leer, hüstelte, bevor sie sich wieder gefasst hatte. »Dr. Ryan Cole?« Mein Gott, diese Stimme.
»Ryan Cole, ja. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Sie stellte sich gerne nochmals vor. Sie schob ihre Notizen beiseite, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Der Plan war jetzt ein anderer.
»Dr. Cole. Ich habe Ihren Artikel über Finanzblasen im ›Journal of Computational Finance‹ gelesen«, log sie. »Aufregend, Ihre Arbeit. Wir möchten im ›Journal‹ einen Bericht darüber veröffentlichen. Dazu bitte ich Sie um ein kurzes Interview. Das Ganze muss natürlich für den Laien verständlich dargestellt werden. Ohne Ihre Hilfe schaffen wir das nicht bei der komplexen Materie, fürchte ich.«
»O – K – schießen Sie los.«, antwortete die Schokolade gedehnt.
»Das geht schlecht am Telefon, meine ich. Ich bin sowieso in den nächsten Tagen in England. Wäre es möglich, dass wir uns an der Universität treffen?«
»Wenn das so ist. Ich bin montags bis freitags immer hier.«
Der Termin war schnell fixiert. Egal, was Bob oder ihr SSO oder M55 davon hielten, dieses Interview musste vor Ort durchgeführt werden. Eine solche Stimme musste sie auf jeden Fall sehen. Der Flug über den großen Teich gab ihr Gelegenheit, das verstaubte Kompendium über ›Corporate Finance‹ nochmals durchzublättern. Sie würde dann nicht gar so nackt vor dem Mann stehen. Obwohl – bei der Stimme?
Universität Bristol, UK
Ryan hatte es eilig. Ohne die Wohnungstür abzuschließen, rannte er die Treppe hinunter, zum Haus hinaus und wollte sich aus dem Staub machen. Mr. Meriwether gefiel das gar nicht. Er stoppte Ryan mit einem ergreifenden Klagelied, das selbst Steine erweichen würde, sollte es länger dauern.
»Ich weiß – ach Mist. Tut mir leid«, murmelte Ryan zerstreut. Er kraulte den Kater kurz unter dem Kinn, wo er es am liebsten mochte. Nach wenigen Sätzen stand er wieder in der Küche, goss Milch in Mr. Meriwethers Teller und sauste zum zweiten Mal die Treppe hinunter. Als er den Teller unter das Vordach stellte, war die Hälfte der Milch verschwunden. Der Kater rümpfte zwar die Nase ob der mageren Mahlzeit, aber er ließ ihn ohne weiteren Protest ziehen.
Seit er am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, und vielleicht schon vorher, kreisten Ryans Gedanken um das Treffen mit der Journalistin. Es war sein erstes echtes Interview. Noch nie hatte sich jemand außerhalb des akademischen Zirkels von Strebern für seine Arbeit interessiert. Wie sollte er einem Laien in verständlichen Worten erklären, wie sein Modell funktionierte? Was bildete sich die Frau ein? Am meisten fürchtete er das Mikrophon. Wenn sie ein Aufnahmegerät vor ihn hinstellte, setzte sein Verstand aus, das wusste er aus Erfahrung. Schon die Rollenspiele in der Schule in Weymouth hatten stets in einer Katastrophe geendet. Er hätte niemals zusagen sollen. Dieses Interview machte einfach keinen Sinn. Warum konnten die Leute nicht einfach seine Arbeit lesen? Da stand alles klipp und klar drin. Mehr gab es nicht zu sagen. Diese Begegnung lag ihm wie ein Teller fetttriefende Fish and Chips im Magen.
Alle Selbstzerfleischung half nichts. Pünktlich um zehn rief ihn die Zentrale an: »Dein Interview ist da.«
»Ich komme«, antwortete er tonlos.
Als erstes fiel ihm auf, dass sie scheinbar ebenso nervös, fast unsicher wirkte wie er. Dann sah er ihre bis über die Schulter fallende kastanienbraune Haarpracht, die neugierigen schwarzen Augen, den weichen Mund und das kleine Näschen. Vor ihm stand nicht der abgebrühte Pressedrache, der seine Opfer gnadenlos zerzauste, wie er erwartet hatte. Jedenfalls sah sie nicht danach aus. Bis sie seine Hand wieder losließ, fühlte er sich schon beinahe entspannt.
»Ryan«, korrigierte er sie. »Einfach Ryan Cole. Bis zum Doktor dauert’s noch ein paar Monate.«
»Ach so, dann ist der Artikel Teil Ihrer Doktorarbeit?«
»Genau genommen ist er die Dissertation«, lachte er. »Der Rest der Arbeit besteht nur noch aus akademischer Staffage und Querverweisen.« Er redete mit ihr wie mit einem normalen Menschen, stellte er erstaunt fest. Sie standen noch immer in der Eingangshalle. Da er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, schaute sie ihn mit großen, fragenden Augen an. Das wirkte. »Ach – entschuldigen Sie«, sagte er verlegen. »Gehen wir in mein Büro.«
Sie folgte ihm einige Schritte, blieb plötzlich stehen und fragte beinahe scheu: »Ryan? Entschuldigung, gibt’s hier vielleicht einen Kaffee oder so etwas?«
»Sicher.« Er überlegte. Die saure Brühe seiner Kochnische durfte er ihr nicht anbieten. »Es gibt eine kleine Selbstbedienungs-Cafeteria im Institut. Ist das O. K.?«
»Wunderbar.«
Besser war der Kaffee nicht, nur weniger sauer, aber sie zuckte mit keiner Wimper. Nach einem winzigen Schluck setzte sie den Becher ab und sagte lächelnd:
»So spricht sich’s doch viel gemütlicher. Kleiner Reportertrick.«
»Bei mir hat er funktioniert«, grinste er. »Warnen Sie mich, wenn das Interview beginnt?«
»Es hat schon begonnen.«
Er stutzte. »Oh – ganz ohne Recorder? Oder sind Sie verkabelt?«
»Keine Angst«, lachte sie. »Ich merke mir einfach gut, was Sie sagen und werde hin und wieder Notizen machen, ganz klassisch. Ist das in Ordnung?«
»Hört sich brillant an.« Die Erleichterung war ihm sicher anzusehen.
Sie musterte ihn fast ein wenig spöttisch, wie ihm schien, bevor sie unvermittelt zur Sache kam und fragte:
»Sie sind also der Mann, der behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können?«
Es klang wie eine Feststellung. In einem gewissen Sinne stimmte die Behauptung ja auch. Trotzdem wusste er im ersten Moment nicht, was er darauf antworten sollte. Ihre schwarzen Augen warteten, Er musste etwas Sinnvolles sagen. »Nun …«, begann er gedehnt, »das scheint mir eine allzu einfache Zusammenfassung zu sein. Abgesehen davon behaupte ich gar nichts, ich leite her und stelle fest. Mathematik, mehr ist das nicht.«
»Aber in der Zusammenfassung schreiben Sie, dass Ihr Modell die Goldblase vom Januar 2010 korrekt vorausberechnet hätte. Für den naiven Leser hört sich das an wie eine Prophezeiung. Im Nachhinein zwar, aber immerhin.«
Schon hatte die süße Maus ihn festgenagelt. Sie wollte ein klares Ja oder Nein auf eine einfache Frage, auf die es keine kurze Antwort gab. »Wo soll ich nur beginnen«, murmelte er ratlos.
»Ganz vorn. Stellen Sie sich vor, ich sei Ihre kleine Schwester, der sie in wenigen Sätzen erklären wollen, was Sie tun.«
Er schüttelte lachend den Kopf. »Geht nicht«, meinte er. »So viel Fantasie habe ich nicht.« Plötzlich kam ihm der rettende Gedanke. »Vielleicht sollte ich Ihnen einfach schildern, wie unser Modell Finanzblasen erkennt.«
Sie nickte stumm. Langsam und konzentriert, auf jedes Wort bedacht, erklärte er den Algorithmus Schritt für Schritt, mit dem seine Software das Börsengeschehen analysierte. Manchmal stockte er, musste einen Satz in anderen Worten, ohne Fachbegriffe, neu formulieren. Die Aufgabe war schwierig, aber mit der Zeit fiel es ihm leichter, selbstverständliche Begriffe wie ›nichtlineare Abhängigkeit‹, ›Randverteilung‹ und ›schiefe Pareto-Distribution‹ zu meiden. Das Mäuschen hörte zu und machte brav Notizen, sodass er am Ende überzeugt war, die allgemein verständliche Sprache gefunden zu haben, die sie erwartete.


