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»Scholz war das eigentliche Ziel«, sagte er nachdenklich, »Rosenblatt vielleicht nur ein lästiger Zeuge.«
Die Partnerin stimmte zu:
»Habe ich mir auch gedacht. Die Umstände zeugen jedenfalls von äußerst skrupellosem Vorgehen.«
»Also doch ein Profi?«
»Oder ein Psychopath.«
Ihm graute jetzt schon vor den tausend Fragen, die sie nun beantworten mussten, stets die Drohung dieses verfluchten Zettels im Nacken. Der Täter oder die Täterin würde wieder zuschlagen, plante vielleicht schon die nächste Hinrichtung. Wie sonst sollte er diese Drohung verstehen? Er hoffte inständig, es nicht mit einem Psychopathen zu tun zu haben. Die brauchten nicht einmal ein lausiges Motiv für ihr krankes Verhalten.
»Haben Sie je von solchen Geschworenen gehört, Chef?«
Er verneinte. Im schlimmsten Fall hatten Sie es mit einem ganzen Nest von Psychos zu tun, die aus Gott weiß was für Gründen Herr über Leben und Tod spielten.
»Gibt es immer noch keine Spur von Phantom Harry?«, fragte er.
Die Umstehenden stutzten. Es dauerte einige Sekunden, bis die Partnerin einen Gang höher schaltete.
»Sie meinen den Geister-Cop?«, grinste sie.
»Wenn es ihn denn gibt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das Phantom bleibt wie vom Erdboden verschluckt wie sein Motorrad.«
»Bloß die Leichen sind leider keine Phantome«, knurrte er.
Ihm reichte es für heute. Er brauchte dringend etwas zum Entspannen.
»Sie wissen, was zu tun ist«, sagte er müde zur Partnerin.
Er wandte sich ab, ging zur Tür und stoppte innerlich fluchend. Die breitschultrige Gestalt des Staatsanwalts versperrte ihm den Weg. Widerstrebend setzte er das falsche Lächeln auf, das er für falsche Kumpels aller Art stets bereithielt.
»Jupp, schön dich zu sehen«, sagte er, ohne Anstalten zu machen, dem Staatsanwalt die Hand zu schütteln.
»Schon die zweite Leiche an diesem Abend«, stellte Jupp Wagner mit einem angewiderten Blick ins Wohnzimmer trocken fest.
Er korrigierte:
»Genau genommen ist das die erste Leiche, Jupp. Der Antiquar unten war Nummer zwei. Meine Kollegin wird dir alles ausführlich erklären. Ich empfehle mich.«
Jupp hielt ihn am Ärmel zurück. »Nicht so schnell, Tom. Nach zwei Morden am selben Abend im selben Haus und offensichtlich ohne familiären Zusammenhang empfiehlt sich hier kein leitender Ermittler. Nicht einmal ein Kumpel aus dem Schützenverein, mit dem ich hin und wieder ein Kölsch gekippt habe.«
»Altbier«, verbesserte er ärgerlich, »aber unter diesen Umständen würde ich sogar ein Kölsch saufen.«
Jupp könnte ihm ohne Zögern die Hölle heißmachen, also blieb er in Gottes Namen am Tatort und hörte sich den Bericht der Partnerin zusammen mit dem Staatsanwalt an.
»Ein Phantom als Polizist in Aachen? Ich dachte, der Karneval wäre seit einem halben Jahr vorbei«, brummte Jupp angewidert. »Mehr habt ihr nicht?« Nach einem letzten Blick auf die sterblichen Überreste des Albrecht Scholz fügte er hinzu: »Das sieht mir eher nach Mafia-Methoden aus. Müssen wir diese Geschworenen ernst nehmen?«
»Werde ich morgen überleben? Ich weiß es nicht«, gab Fischer giftig zurück. »Wir stehen ganz am Anfang, Jupp, können nur spekulieren.«
Er überließ es der Partnerin, sich in die Nesseln zu setzen und den Verdacht zu äußern, den sie kurz besprochen hatten.
»Möglicherweise hängt diese Hinrichtung mit der Hetzkampagne im Netz gegen Herrn Scholz zusammen.«
Widerwillig trat Jupp zur Seite, um den Bestattern mit dem Sarg auszuweichen.
»Welche Hetzkampagne? Netz? Ich verstehe kein Wort.«
Statt zu antworten, zeigte ihm die Kollegin eine Reihe Tweets auf dem Handy, die unter anderem die Eliminierung des Schmarotzers Scholz forderten. Jupp lachte trocken auf.
»Das ist doch Kinderkram. Kein Mensch nimmt den Quatsch ernst.«
»Scheinbar doch«, widersprach Fischer.
Trotz der spöttischen Bemerkung schien der Staatsanwalt einigermaßen verunsichert. Die Gelegenheit war günstig, auszusprechen, was er vorher nicht gewagt hatte.
»Der Typ, der den Mord am Antiquar gemeldet hat, spielt möglicherweise eine Hauptrolle in dieser Hetzkampagne, Jupp.«
»Der Hacker von gegenüber? Wundern täte es mich nicht. Gibt es irgendwelche Beweise gegen den Mann?«
»Um die zu finden, müssten wir seine Wohnung durchsuchen, den Computer beschlagnahmen.«
»Ihr wollt einen Durchsuchungsbeschluss auf dieser dürftigen Beweislage? Der Richter würde mich auslachen, dann müsste ich dich erschießen. Willst du das, Tom?«
»Verdammt! Phil Schuster tobt als Philister auf Twitter gegen unser Mordopfer. Das ist doch kein Zufall.«
»Er hat also zugegeben, dieser Philister zu sein?«
Das Schweigen im Boudoir war unerträglich. Jupp wandte sich ab.
»Bringt mir einen Beweis, dann habt ihr euren Durchsuchungsbeschluss«, murmelte er beim Verlassen der Wohnung.
Nach dem Staatsanwalt flüchtete auch er und versuchte, sich ungesehen davonzustehlen wie Phantom Harry. Es half nicht. Draußen überfiel ihn eine Meute Zeitungsfritzen, allen voran die blonde Bitch von der Kölner Abendzeitung. Der Scheinwerfer des Lokalfernsehens folgte ihm auf Schritt und Tritt, als wäre er auf dem Weg ins Dschungelcamp.
»Herr Hauptkommissar, können Sie den Mord an Albrecht Scholz bestätigen?«, rief ihm die Bitch ins Ohr, als stünde er in Köln statt neben ihr.
Er wehrte mit beiden Händen ab. »Ich habe nichts zu sagen. Wir stehen ganz am Anfang der Ermittlungen.«
Julia Hahn ließ nicht locker. »Es gab heute Abend zwei Todesfälle in diesem Haus. Wer sind die Opfer, und gibt es einen Zusammenhang?«
Natürlich gibt es einen Zusammenhang, dumme Kuh, dachte er schwitzend. Laut sagte er mit schlecht unterdrückter Erregung in der Stimme:
»Wenden Sie sich bitte an die Pressestelle. Sie kennen doch das Prozedere, Frau Hahn.«
Er dachte, es überstanden zu haben, als ihn der Hammer traf.
»Stimmt es, dass die Geschworenen mit weiteren Morden drohen?«, rief ein junger Mann aus der dritten Reihe, den er nicht kannte.
Die Frage jagte das Blut durch seine Adern, dass er glaubte, es rauschen zu hören wie den Rhein bei Hochwasser.
»Woher wissen Sie …«
Es entglitt ihm einfach. Erschrocken presste er die Lippen zusammen und nahm den Mann ins Visier, als wollte er ihm im nächsten Atemzug ein drittes Auge verpassen. Rundherum herrschte plötzlich gespenstische Stille. Die versammelte Presse hing an seinen Lippen, als wäre er im Begriff, den nächsten Karnevalsprinzen anzukündigen. Da er eine oder zwei Sekunden zu lange schwieg, flüsterte ihm die Bitch mit hämischem Grinsen ins Ohr:
»Sie kennen doch das Internet, Herr Fischer.«
Er stieß sie unsanft beiseite und eilte davon.
Köln
Der letzte Glockenschlag vom Dom verklang, als Julia Hahn die Tür zu ihrem Penthouse aufstieß. Mitternacht. Emma tat ihr leid. Die Tochter der Nachbarn unter ihr war ein zuverlässiges und liebevolles Kindermädchen und fast zu jeder Tages- und Nachtzeit für den kleinen Tim zu haben. Dennoch betrat sie das Wohnzimmer mit schlechtem Gewissen. Sie überforderte die junge Frau durch ihre häufigen Einsätze zu unmöglichen Zeiten.
»Tim schläft selig«, beruhigte Emma, bevor sie ein Wort sagen konnte.
Sie schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Was würde ich nur ohne dich machen.«
Trotz Emmas Bemerkung schlich sie ins Kinderzimmer, strich ihrem Tim übers goldene Haar und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Es war das übliche Ritual. Emma kannte es und wartete geduldig auf ihre Rückkehr, um sich zu verabschieden. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck machte sie stutzig.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie unruhig.
Emma zögerte. »Ja – sicher.« Nach einem Schritt Richtung Tür blieb sie stehen. »Es ist nur …«
»Immer raus mit der Sprache.«
Die junge Frau sah sie an, als hätte sie ihren Sohn gestohlen.
»Du machst mir Angst, Emma.«
Schließlich platzte sie mit der Hiobsbotschaft heraus.
»Ich werde bald nicht mehr da sein.«
Sie war auf alles Mögliche gefasst, nur nicht darauf.
»Was heißt das?«, fragte sie bestürzt.
Dabei zwang sie sich zu lächeln, was wohl gründlich misslang. Emmas Wangen röteten sich.
»Man hat mich angenommen, Stanford. Nach den Ferien geht›s schon los.«
Julia glaubte, innerlich zu zerreißen. Emma gehörte zu ihrer kleinen Familie wie eine eigene Tochter. Dass sie es geschafft hatte, an der amerikanischen Elite-Uni studieren zu dürfen, erfüllte sie mit Stolz. Gleichzeitig konnte sie sich ein Leben ohne Emmas gute Dienste und ihr fröhliches Lachen kaum vorstellen. Sie verdrängte die Ungewissheit, was ohne sie aus Tim werden sollte, und schloss sie in die Arme.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Emma. Das ist – großartig! Herzliche Gratulation. Ich bin fast ein wenig neidisch, habe ich es doch nur an die Uni Köln geschafft.«
Beide brachen in befreiendes Gelächter aus.
»Wir müssen das feiern«, versprach sie, »aber nicht heute Nacht.«
»Nein«, seufzte Emma erleichtert. »Du wirst sicher wieder jemanden finden für unseren Tim.«
Mit diesem zweifelhaften Trost verließ sie die Wohnung. Julia starrte die Tür noch lange an, nachdem sie ins Schloss gefallen war. Klar gab es andere Kindermädchen in dieser Stadt aber keine zweite Emma. Sie füllte das Rotweinglas etwas großzügiger in dieser Nacht, bevor sie auf die Terrasse hinaustrat. Der Blick über den schwarz glänzenden Rhein, in dem sich die Bäume der Riehler Aue noch schwärzer spiegelten, beruhigte. Sie brauchte Zeit, um herunterzukommen. In einer Nacht wie dieser würde sie wohl vor morgens um zwei kein Auge schließen. Auch eine Journalistin an vorderster Front bei der Kölner Abendzeitung berichtete kaum je, wenn überhaupt, über einen Doppelmord. Über einen Doppelmord, dem möglicherweise bald weitere Gräueltaten folgen würden. Das Glas leerte sich überraschend schnell. Sie goss nach.
Morgens um halb sieben kroch Tim in ihr Bett. Alle andern Wecker hasste sie, diesen aber liebte sie über alles auch ohne Musik. Sie drückte ihn und gab ihm einen Kuss, bemüht, die Augen wenigstens halb offen zu halten. Ein Vierjähriger ließ sich das noch gefallen.
»Bist du müde, Mama?«
»Nein«, log sie, »bloß glücklich.«
Die Morgensonne strahlte über den Spiegel direkt in die Dusche, was ihr trotz des Brummschädels ein Lächeln entlockte. Sie hatte allen Grund, zufrieden zu sein mit ihrem Leben. Dennoch oder gerade deshalb beschlich sie hin und wieder das Gefühl, das alles nicht verdient zu haben. Zu viel in ihrem Leben beruhte einfach auf glücklichen Zufällen. Selbst Tim verdankte sie einem solchen Zufall. Eine Kollegin in der Redaktion hatte ihn einst einen glücklichen Unfall genannt und den Nagel damit genau auf den Kopf getroffen.
Pünktlich um 7:30 Uhr, auf dem Weg zur Kita, rief Martin an. Chefredakteur Martin Brandt hatte auch eine kurze Nacht hinter sich oder wie oft gar nicht geschlafen, schloss sie aus seinem Tonfall.
»Das geht gar nicht!«, wies er sie zurecht, statt zu grüßen. »Was hast du dir dabei gedacht? Willst du einen veritablen Bürgerkrieg anzetteln?«
Veritabel war eines seiner Lieblingswörter. Es bewirkte, dass selbst ruppige Anschuldigungen irgendwie leichtfüßig daherkamen. Sie grinste unwillkürlich.
»Wovon sprichst du?«
»Wie immer vom Wetter. Mein Gott, wovon spreche ich wohl? Von deinem Bericht über das Massaker in Aachen, was sonst?«
»Doppelmord«, korrigierte sie, »und es ist erst der Entwurf, entstanden auf der Fahrt nach Köln zu später Stunde.«
»Das merkt man. Wann erweist du uns die Ehre, hier aufzukreuzen?«
»Ich muss nur noch Tim in die Kita fahren …«
Er hatte aufgelegt. Der Betrieb in der Redaktion der Abendzeitung unweit der Domplatte brummte am frühen Morgen. Das Zebra schlug heftig auf die Tastatur ein, hatte kaum Zeit, sie zu grüßen. Es gab keine bessere Bezeichnung für ihre Tischnachbarin, denn sie hatte sie noch nie in einem Kleid ohne Zebramuster gesehen. Etwas weiter weg saß Peter mit seinem ewig roten Pullover. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und deutete genüsslich auf die Sauna, den Glaskubus, wo Martin residierte. Der pochte eben mit einer seiner Krücken an die Scheibe. Es eilte. Peter grinste. Er hasste sie. Sie betrat das Glashaus.
»Tür zu!«
Kurze Befehle entsprachen Martins normalem Umgangston in der Redaktion. Die Tür der Sauna zu schließen aber bedeutete nicht nur physischen Stress wegen der Hitze, sondern vor allem Ärger.
»Ich weiß, ich habe mich vielleicht etwas pointiert ausgedrückt im Bericht«, versuchte sie ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Pointiert trifft den Sachverhalt ja wohl überhaupt nicht«, herrschte er sie an. »Dein Subtext unterstellt nichts weniger als eine veritable Verschwörungstheorie. Du weißt es, und dir muss klar sein, dass wir das unmöglich so veröffentlichen können.«
Sie wunderte sich, seit wann die Leser der Abendzeitung Subtext lasen, sagte aber nichts. Er war der Chef und verfügte über so viele Jahre Erfahrung im Geschäft, wie sie auf der Welt war.
»Du störst dich an der Verbindung mit den Geheimverhandlungen«, vermutete sie.
»Allerdings! Ich weiß, dass dir das Thema am Herzen liegt, und gebe zu, dass deine Reportage darüber die Auflage glatt verdoppelt hat. Aber findest du es nicht ein wenig weit hergeholt, den Mord am Lobbyisten Scholz in Aachen damit zu erklären?«
Sie lachte trocken auf. Er übertrieb wieder maßlos.
»Ich erkläre doch gar nichts in meinem Artikel. Ich stelle lediglich die Facts zusammen. Du kennst die heftige, um nicht zu sagen explosive Reaktion im Netz und in den Medien, als wir die geleakten Mails aus dem Kanzleramt veröffentlichten. Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, eine Welle der Entrüstung sei durchs ganze Land gegangen, als publik wurde, dass unsere Regierung insgeheim ein bilaterales Freihandelsabkommen mit China plant – von der Entrüstung in Brüssel gar nicht zu sprechen.«
Die letzte Bemerkung wischte er vom Tisch wie eine lästige Fliege. Die Bürokratie in Brüssel und der kaum mehr zu bewegende Moloch EU ärgerten ihn jeden Tag aufs Neue.
»Dass mit dieser EU kaum je wieder ein Freihandelsabkommen zum Fliegen kommt, darüber müssen wir uns nicht streiten«, brummte er.
Sie konnte nur zustimmen. Deshalb verstand sie es, wenn dem Kanzleramtsminister der Kragen platzte und er vorpreschte, um zu versuchen, langfristig wirtschaftlichen Erfolg und Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Das war jedenfalls der Plan mit dem Freihandelsabkommen, nahm sie an.
»In der aktuellen, aufgeheizten Stimmung wirkt leider schon das Wort Freihandel in unserm Land wie ein Brandbeschleuniger«, warf sie ein.
»Sicher, absolut einverstanden, aber du spekulierst jetzt, der Mord an Scholz wäre eine veritable Eskalation dieser Anti-Freihandels-Bewegung.«
Hatte sie sich so unklar ausgedrückt im Entwurf von letzter Nacht? Hatte er den Text überhaupt richtig gelesen? Sie verwahrte sich entschieden gegen die Unterstellung.
»Von spekulieren kann keine Rede sein, Martin. Du kennst doch die Reaktion in den sozialen Medien, auf Facebook und Twitter. Ich muss dich nicht an die Horror-Meldungen auf Twitter erinnern.«
Bevor er etwas erwidern konnte, hielt sie ihm das Display ihres Smartphones unter die Nase. Die Hetze im Netz ging auch nach dem Tod des Lobbyisten Scholz unvermindert weiter, was Martin veranlasste, den veritablen Mist trotz seiner Abneigung zu lesen.
Die Geschworenen @jury12
#PlayboyScholz sorgt für Billigimporte aus China. Wir Geschworenen sorgen für Deutschland.
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Deutscher Meister @deutschmeister
#PlayboyScholz ist tot. #ChinaFH ist tot. Es leben die Geschworenen. Gratuliere!
Die Geschworenen @jury12
#PlayboyScholz richtet keinen Schaden mehr an. Wir Geschworenen bleiben dran.
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Dirk Saubermann @dirk74
Die Geschworenen sind cool. Endlich sorgt jemand für Ordnung in diesem Land!!
Wolfi Ziehrer @wolferl
Wurde auch Zeit, dass einer den Saustall ausmistet! Fuck #ChinaFH!
Alex Kissin @kissalex
Kahlschlag der deutschen Wirtschaft gerade noch gestoppt. #PlayboyScholz verrotte in der Hölle!
Er scrollte einige Seiten weiter, bevor er das Handy über den Tisch zurückschob und sich vor Abscheu schüttelte.
»In was für einer Welt leben wir eigentlich?«, fragte er leise.
Sie reagierte mit der Gegenfrage:
»Hast du die Zahlen gesehen?«
»Die Tausende Retweets und Likes? Sicher, sieht ganz danach aus, als würde das Twitter-Volk jetzt komplett durchdrehen.«
»Dieser jury12 scheint die mysteriösen Geschworenen zu repräsentieren. Er – oder sie – hat die Hetze gegen den Lobbyisten orchestriert und ist seither äußerst beliebt. Jury12 hat bereits mehr Follower als der Kanzleramtsminister. Ich muss jury12 finden.«
»Viel Glück.«
Ein bitteres Lächeln huschte dabei über seine Lippen. Er glaubte nicht daran, dass sie das Geheimnis der Identität von jury12 je lüften würde.
»Wenn wir diesen jury12 finden, werden wir auch erfahren, wer die Geschworenen sind und wer wirklich hinter den Morden in Aachen steckt.«
Er schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob du deinen Beruf verfehlt hast, Julia. Du solltest bei der Polizei arbeiten.«
»Um mich mit Kollegen wie diesem Fischer herumzuärgern?«, brauste sie auf. »Da ziehe ich dich und den roten Peter doch lieber vor.«
»Vielen Dank auch«, lachte er. »Das ändert aber nichts daran, dass wir deinen Bericht so nicht veröffentlichen werden.«
Sie gab noch nicht auf. »Der Zusammenhang zwischen dem Protest gegen die Geheimverhandlungen, den Geschworenen und dem Mord am Lobbyisten Scholz ist doch offensichtlich.«
Er wehrte ärgerlich ab. »Soll ich jetzt ernsthaft den Advocatus Diaboli spielen? Es gibt keinerlei Beweise für diesen Zusammenhang, das weißt du. Nein, wir lassen im Moment, und ich betone: im Moment, die Finger von der heißen Kartoffel. Die Hetze im Umfeld der Geschworenen meinetwegen aber kein Wort über das Kanzleramt und den Freihandel mit China. Haben wir uns verstanden? Ich brauche die überarbeitete Version bis elf Uhr.«
»Sollten wir nicht wenigstens die Pressekonferenz heute Mittag abwarten?«, warf sie ein.
»Wann findet die statt?«
»Halb zwei.«
Er rümpfte die Nase. »Wir machen es so: Du bereitest alles druckfertig vor bis 1100. Um 1500 habe ich die letzten Änderungen auf dem Tisch oder dein O. K.«
Er war der Chef. Übellaunig verließ sie die Sauna, dankbar nur für die kühle, wenn auch abgestandene Luft im Büro. Insgeheim musste sie zugeben, dass seine Vorsicht nicht unberechtigt war. Im Nachrichtenportal kündigte die militante Aktivistin Lotte Engel bereits eine Demo gegen die China-Pläne der Regierung an. Die Veranstaltungen dieses linken Engels zogen nicht nur regelmäßig Tausende Leute an. Sie bargen auch erhebliches Zerstörungspotenzial. Es wäre sicher nicht sonderlich klug, jetzt noch Öl ins Feuer zu gießen. Er hatte recht, wieder einmal, und sie ärgerte sich.
Das Zebra hielt kurz inne, um ihren Gemütszustand einzuschätzen. Nicht allzu beunruhigt hielt sie ihr die Schale mit den Schokokeksen hin. Sie lehnte dankend ab. Die Kollegin widmete sich wieder der bedauernswerten Tastatur. Sie selbst begann widerwillig, den Aachener Bericht zu entschärfen. Manchmal wünschte sie sich, beim großen Revolverblatt angeheuert zu haben. Die publizierten zwar häufig Müll, hatten aber wesentlich weniger Hemmungen, die Dinge beim Namen zu nennen.
Schlag elf Uhr sandte sie die Mail mit der neuen Version in die Sauna. Martin Brandt zeigte keine Reaktion, was bedeutete, dass er einverstanden war. Sie packte ihren Laptop in die Tasche und verließ die Redaktion. Die Fahrt nach Düsseldorf dauerte zwar keine Stunde, aber sie brauchte frische Luft vor der PK, und die Nudelsuppe im ›Takumi‹ war auch nicht zu verachten.
Drei Stunden später wusste sie, dass sie sich die Zeit für die Pressekonferenz im LKA Düsseldorf hätte sparen können. Die Ermittler waren kaum einen Schritt vorangekommen. Ein Zusammenhang der Morde mit den Geschworenen wurde zwar vom Staatsanwalt nicht ausdrücklich verneint aber eben auch nicht zugegeben. Die Fragen und Antworten konzentrierten sich im Wesentlichen auf den Polizisten, den Zeugen zur Tatzeit aus dem Haus des Antiquars Rosenblatt hatten kommen sehen. Ihr Lieblingskommissar Fischer deutete an, es handle sich möglicherweise um den Täter, der sich als falscher Polizist Zugang zu Scholzes Wohnung verschafft hatte. Sie konnte nicht anders, als das Wort zu ergreifen.
»Das bedeutet, man kann keinem uniformierten Polizisten mehr trauen, bis der Täter gefasst ist. Wie wollen Sie die Bevölkerung so noch schützen?«
Fischers Blicke töteten, aber er blieb die Antwort schuldig, ebenso der Staatsanwalt. Die Pressekonferenz war zu Ende.
Potsdam
»Dr. Roberts?«
Der Mann mit Halbglatze und Schweinsäuglein begrüßte sie mit jovialem Lächeln und kräftigem Händedruck. Chris hatte sich den Makler ganz anders vorgestellt. Die Stimme am Telefon passte zu einem Typen wie George Clooney aber nicht zu ihrem Gegenüber. Was kümmert dich seine Erscheinung? Er war gekommen, um sich das nun leer stehende Elternhaus anzusehen, hatte zudem einen fairen Preis versprochen. Sie wollte das Geschäft so bald wie möglich hinter sich bringen. Zu viele Erinnerungen verbanden sie mit diesem kleinen Haus unweit der Glienicker Brücke. Ging der Verkauf nicht rasch über die Bühne, würde er nie stattfinden, fürchtete sie. Das durfte nicht geschehen, denn weder sie noch ihr Mann Jamie waren in der Lage, sich weiter um das Haus zu kümmern. Jetzt nach dem Tod ihrer Mutter würde es verfallen. Auch das durfte nicht geschehen.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen können«, sagte der Makler, »sicher nicht einfach in Ihrem Job.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. Als Hauptkommissarin beim BKA war sie selbst in der spärlichen Freizeit im Dienst und zwar mit einem Monatsgehalt, das der Makler in einer Woche verdiente, schätzte sie. Augen auf bei der Berufswahl. Trotzdem konnte sie sich keinen besseren Job vorstellen.
»Wollen wir dann mal?«, fragte der Makler, da sie reglos vor dem Haus stehen geblieben war, den Blick nach innen gerichtet.
Sie entschuldigte sich und schloss auf. Es war ein Haus für Nostalgiker mit kleinen Zimmern und winzigen Fenstern, durch die nur wenig Licht fiel. Ihr Musikzimmer in Dahlem war größer als die Grundfläche des Elternhauses. Dennoch spürte sie, wie der Trennungsschmerz mit jeder Minute stärker wurde. Kaum im Haus, setzte der körperliche Schmerz ein.
»Sehen Sie sich ruhig um. Ich muss mich kurz entschuldigen.«
Eilig zog sie sich auf die Toilette zurück. Sie brauchte nicht hinzusehen. Die Symptome waren eindeutig. Es klappte wieder nicht. Mit Tränen in den Augen spülte sie das Blut hinunter, zweimal.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Makler besorgt, als sie zurückkehrte.
Er musste ihre geröteten Augen bemerkt haben. Sie nickte, versuchte gar nicht erst zu lächeln.
»Konnten Sie sich ein Bild machen?«
»In der Tat, und ich muss Ihnen ein Kompliment aussprechen – und ihren Eltern selig. Das alte Haus befindet sich in einem tadellosen Zustand.«
»Sie werden es nicht abreißen?«
Er verneinte entschieden. »Ich denke, es gibt genug Interessenten, die dieses Objekt zu ihrem neuen Heim machen wollen.«
Eine junge, glückliche Familie mit höchstens zwei Kindern, mehr fanden nicht Platz. Es war eine schöne Vorstellung, die sie ein wenig über die erneute Enttäuschung hinweg tröstete. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb sie in all den Jahren zuvor die Pille genommen hatte, wenn es doch nie funkte. Der Makler streckte ihr die Hand entgegen, um sich zu verabschieden.