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»Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Dr. Roberts. Dann verbleiben wir also wie besprochen.«
Damit eilte er zu seinem Lexus. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas besprochen zu haben. Nicht wichtig, dachte sie. Wenn sie sich beeilte, würde sie Jamie noch zu Hause antreffen, bevor er wieder zu einer Talkshow oder Podiumsdiskussion in irgendeiner Uni verreiste. Sie hatte den Überblick verloren. Seit seiner bahnbrechenden Arbeit über die Perfektionierung der Genschere CRISPR war er der meistgesuchte Mediziner weit und breit und dauernd auf Achse. Wenigstens lag es nun nicht mehr an ihr, sich für die häufige Abwesenheit entschuldigen zu müssen.
Sie traf ein leeres Haus an in Dahlem. Jamies Zettel lag auf dem Küchentisch, der in den Anfängen um diese Zeit nach Feierabend stets festlich gedeckt gewesen war. Roland Koch Institut, lautete die Notiz, love you, Jamie. Die Einladungskarte für die Veranstaltung im RKI Berlin klebte daran. Sie warf den Zettel achtlos wieder hin und blickte sich in der leeren Küche um. Diese Küche, die locker für ein kleines Gourmet-Restaurant reichte, war sein Königreich gewesen. Sie hatte sich jeweils nur hinsetzen und genießen können. Jetzt wirkte sie leer wie ihr Magen. Nichts außer einer Schale mit halb totem Obst stand auf dem Tisch. Seine Musik spielte nicht mehr hier. Sie ahnte jetzt, wie er sich früher bei geregelter Arbeitszeit gefühlt haben musste, als er versuchte, sich an ihr unberechenbares Leben als Kriminalkommissarin anzupassen.
Sie nahm einen Apfel aus der Schale, der sich noch einigermaßen fest anfühlte, und stieg die Treppe hinauf. Im Musikzimmer, welches das ganze Dachgeschoss einnahm, holte sie ihr Saxofon aus dem Instrumentenkoffer und legte sich auf die Couch. Lange streichelte sie das goldene ›Senzo‹ in der Hoffnung, die Lust zu spielen würde zurückkehren. Schließlich nickte sie ein.
Das Handy weckte sie. Kollege Haases Stimme klang ruhig und entspannt wie immer, als verbrächte er den Urlaub im Büro, nicht das ganze Leben.
»Ich fürchte, Sie müssen herkommen, Chef«, meldete er. »Es brennt.«
»Ist das nicht eher ein Fall für die Feuerwehr?«, versuchte sie zu scherzen.
»Staatssekretär Panzer aus dem Innenministerium wird in den nächsten Minuten erwartet«, erklärte er.
»Und Staatsanwältin Winter hyperventiliert«, warf sie ein. »Kann ich mir vorstellen. Bin schon unterwegs.«
Musik funktionierte nicht, Arbeit würde womöglich helfen, die Enttäuschungen des Tages schneller zu vergessen. Zudem war Haase nicht nur der brillanteste Fallanalytiker, den sie kannte, er beherrschte auch die hohe Kunst der Baristas. Sein wunderbar cremiger Ristretto war allein schon eine Reise zum Bundeskriminalamt am Treptower Park wert.
Unterwegs im Auto ließ sie sich von ihm briefen. Mit einer Tasse seines edlen Gebräus betrat sie wenig später Staatsanwältin Winters Büro, im Kopf die klare Vorstellung, was sie erwartete und was die andern von ihr zu erwarten hatten. Der Unbekannte an Winters Besprechungstisch musste Staatssekretär Panzer sein. Er erhob sich und stellte sich vor, eine unerwartete Geste, die ihre kompromisslose Haltung zu untergraben drohte. Nicht unsympathisch, musste sie zugeben, beinahe schon Kategorie Generalbundesanwalt Osterhagen, dessen Gegenwart sie einige Male in der Vergangenheit verwirrt hatte.
»Ich nehme an, das BMI interessiere sich nicht in erster Linie für einen Mordfall in Aachen«, bemerkte sie lächelnd.
Staatsanwältin Winter rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, bereit einzugreifen, falls nötig. Sie war die Einzige unter Hochspannung im Raum. Das Gespräch zwischen dem Vertreter des Innenministers und ihr selbst verlief geradezu beängstigend harmonisch. Es lag wohl daran, dass Panzer wie das Ministerium von einer wenig fassbaren Angst getrieben war. Das BMI fürchtete, die durch Proteste in den sozialen Medien und einem Teil der Presse aufgeheizte Stimmung in der Bevölkerung könnte kippen, in Gewalt ausarten und das ganze Land überziehen.
»Und jetzt die Morde in Aachen«, sagte Panzer düster. »Der Minister, was sage ich, das halbe Kabinett fürchtet, diese mysteriösen Geschworenen könnten ihre Drohung wahr machen. Klaus Hartmann gibt offen zu, dass die Nerven im Kanzleramt blank liegen.«
Vielleicht etwas übertrieben, dachte sie, aber die Gefahr war nicht von der Hand zu weisen. Winter brach ihr Schweigen.
»Müsste unter diesen Umständen nicht eher das Justizministerium aktiv werden?«
Er stimmte zu, schränkte allerdings ein:
»Es ist eine heikle Gratwanderung, wie Sie sich vorstellen können. Noch liegen keine Straftaten vor außer den bedauernswerten Fällen in Aachen. Hetze im Internet und Drohungen auf Transparenten sind weitgehend erlaubt, Meinungsäußerungsfreiheit.«
Winter bohrte weiter. Die Staatsanwältin wusste wie Sie, worauf diese Besprechung hinauslief: auf einen politisch delikaten Spezialauftrag. Den wollte die Juristin wenigstens klar umreißen und wenn möglich aufs Machbare beschränken. Chris sah keine Veranlassung, sie daran zu hindern.
»Das BMI möchte also die gefährliche Hetzkampagne beenden, das verstehe ich«, sagte Winter. »Bundesanwaltschaft, BKA und vor allem der Verfassungsschutz haben doch aber die Mittel, um in einem solchen Fall präventiv einzugreifen. Weshalb geschieht das nicht?«
Panzer nickte lächelnd. »Wer sagt, dass das nicht der Fall ist?« Nach kurzem Zögern fügte er an: »Eine entsprechende Taskforce hat vor zwei Tagen die Arbeit aufgenommen.«
Es war an Winter, diese Nachricht mit einem Lächeln zu quittieren, obwohl ihr das nie richtig gelang. Lächeln passte einfach nicht zu ihrem Gesicht. Das Wort Taskforce gefiel Chris ganz und gar nicht. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als sie fragte:
»Was haben wir damit zu tun?«
»Gar nichts.«
Panzers Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, als wüsste er um ihre Allergie gegen Gruppenarbeit aller Art über verschiedene Behörden hinweg. Er betrachtete sie eine Weile, nickte dann schmunzelnd und sagte:
»Curd hat mich gewarnt.«
Der Name elektrisierte sie.
»Osterhagen?«, platzte sie heraus. »Sie sprechen vom Generalbundesanwalt?«
»Er hat mich überzeugt, Sie einzuschalten – oder es zumindest zu versuchen.«
Winters Gesicht leerte sich. Sie gab die Schlacht verloren. Gegen ihren obersten Chef konnte sie nichts ausrichten. Panzer verlor keine Zeit und beschrieb kurz und präzise, was Bundesanwaltschaft und Innenministerium von ihr erwarteten.
Gegen Mitternacht fuhr sie auf der A2 Richtung Westen, den klaren Auftrag im Gepäck, die Geschworenen zu identifizieren. Haases Akte darüber und über die Morde in Aachen lag im Kofferraum. Sie füllte bereits zwei dicke Ordner. Osterhagen würde ihr den Rücken freihalten und sie unterstützen. Daran zweifelte sie keinen Augenblick. Ein Problem stellten einzig die Kollegen vom LKA Düsseldorf dar. Sie konnte sich deren Begeisterung über die Verstärkung aus Berlin lebhaft vorstellen.
KAPITEL 2
Wiesbaden
Am frühen Morgen fuhr sie direkt zur BKA-Zentrale in Wiesbaden. Hier hatte ihre Karriere als Ermittlerin begonnen, falls man die erlebten Höhen und Tiefen so bezeichnen wollte. Nostalgische Gefühle kamen nicht auf, zu sehr beschäftigte sie die Eiszeit zu Hause. Schlimm genug, dass sie und Jamie sich auseinander lebten, vor allem aber sah sie keine Verbesserung, falls sich beide an ihren Job klammerten.
Mit einem leisen Fluch stieß sie die Tür zur Cafeteria auf. Wenn Sie jetzt nichts zwischen die Zähne bekam, würde sie zusammenklappen, bevor sie Uwe gefunden hätte. Telefonisch war der IT-Spezialist, dem sie nachgerade alles zutraute, was entfernt mit Computern zu tun hatte, während der ganzen Nacht nicht zu erreichen gewesen. Uwes abgeschaltetes Smartphone bedeutete nichts Gutes. Sie stopfte rasch ein fast zu Staub zerfallendes Schoko-Hörnchen in sich hinein. Die frischen würden erst in zwei Stunden geliefert, versicherte die Kassiererin mit vorwurfsvollem Blick. Das gebräunte Wasser, das hier als Kaffee verkauft wurde, verhinderte wenigstens den drohenden Erstickungsanfall.
Das Großraumbüro, wo Uwe Wolf mit zwei Dutzend anderen Nerds arbeitete, als wäre er einer von ihnen, empfing sie kalt und leer wie ihr Haus in Dahlem. Er war keiner von ihnen. Nicht nur sein IQ unterschied ihn vom gewöhnlichen Volk. Er besaß auch ein paar Eigenschaften, die den Umgang mit ihm nicht eben erleichterten.
»Die werden doch nicht wieder alle an einer bescheuerten Sitzung ihre Zeit vertrödeln«, murmelte sie ärgerlich.
Schon auf dem Sprung zum Abteilungsleiter, der sie fürchtete wie Uwe fremde Hände auf seiner Tastatur, sah sie, wie eine junge Frau lachend hereinplatzte. Sie erkannte Lena erst auf den zweiten Blick, aufgekratzt, strahlend, in einem geradezu unverschämt entblößenden Trägerleibchen. Aus dem Mauerblümchen am Platz gegenüber Uwes Burgwall aus Bildschirmen war eine junge Frau geworden, die ihr Glück gefunden hatte, wie es schien.
»Gott sei Dank, Lena«, grüßte sie schmunzelnd. »Ich dachte schon, die hätten eure IT aus Spargründen dichtgemacht.«
Lena erinnerte sich sofort an sie, obwohl die letzte Begegnung knappe zwei Jahre zurücklag.
»Chris!«, rief sie überrascht. »Verstecken sich die schweren Jungs wieder im Netz?«
Lenas Transformation war vollkommen. Die Frage nach dem Grund lag Chris auf der Zunge, doch sie hielt sich zurück. Der Grund betrat gerade das Büro, wie sie an der leichten Errötung von Lenas sonst schneeweißen Wangen erkannte.
»Uwe, rate mal, wer da ist«, rief sie dem Gesuchten entgegen, als hätte er keine Augen im Kopf. Zu ihr gewandt, fügte sie kichernd hinzu: »Ein Pfeiler in der Tiefgarage stand heute Morgen am falschen Platz.«
Die Liebe musste noch sehr jung sein, wenn das der Grund für ihre Heiterkeit war.
»Hauptkommissarin Chris, wir kennen uns«, sagte Uwe, setzte sich an seinen Platz und schaltete die Monitore ein.
Es war seine Art, Freude über das Wiedersehen auszudrücken. Alles hatte sich also doch nicht verändert. Er konnte Small Talk nicht ausstehen oder Redundanz, wie er ihn nannte, also schilderte sie ohne Umschweife, was sie von ihm erwartete.
»Sie halten diesen jury12 für den Aachener Mörder?«, fragte Lena, die auch zugehört hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt. Im Augenblick gehe ich davon aus, dass die Geschworenen eher die Strippenzieher sind. Sie manipulieren die Leute, heizen die Stimmung auf und betreiben gezielt Mobbing, um missliebige Personen auszuschalten. Bis jetzt haben sie nicht ausdrücklich zu Gewalt aufgerufen, aber das war im Fall des Lobbyisten Scholz offenbar auch nicht nötig.«
»Mobbing bis zum Mord«, murmelte Lena nachdenklich, »eine ganz neue Dimension.«
Chris verstand nicht viel von Psychologie. Es reichte, um Verhöre zu führen, mehr nicht. Sie konnte sich dennoch gut vorstellen, dass genügend labile Geister im Netz unterwegs waren, die davon träumten, dem Aachener Phantom-Polizisten nachzueifern. Uwe arbeitete konzentriert an seinem Computer. Bald schüttelte er ärgerlich den Kopf.
»Auf Anhieb nichts zu machen. Jury12 benutzt das Tor-Netzwerk.«
»Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, Uwe.«
Das implizierte Kompliment ließ ihn kalt. Er interessierte sich wie gewohnt nur für die scheinbar unlösbare Aufgabe. Seine Finger tanzten auf der Tastatur wie zu einem up tempo Solo von Wynton Marsalis, bei dem kein Metronom mehr mitkommt.
»Es gibt neuerdings ein Hashtag #dieGeschworenen auf Twitter«, verkündete Lena.
Chris ließ Uwe arbeiten und wechselte zu Lenas Bildschirmen. Unter dem neuen Hashtag fanden sich schon nahezu tausend Einträge. Nutzer mit Spitznamen wie WeißerHai oder LawAndOrder interessierten sie nicht, Namen, die auf Firmen oder Medien schließen ließen, hingegen schon. Ein Name tauchte immer wieder auf, wie sie rasch feststellte: RuhrStahl. Die Beiträge von RuhrStahl waren professionell verfasst. Sogar die Interpunktion stimmte, die sonst fast gänzlich fehlte. Der Tenor von RuhrStahl war eindeutig: Freihandel mit China ist Teufelszeug. Insofern zeigte man Verständnis mit den Protesten gegen Scholz und das Kanzleramt.
»Kein Wunder, fürchten unsere Stahlkocher die Chinesen mit ihren Dumping-Preisen«, sagte sie. »Kann man herausfinden, wer sich hinter RuhrStahl verbirgt?«
Lena lachte. »Klar kann ich das – mit einem Gerichtsbeschluss.«
»Dauert Tage«, warf Uwe ein, der offenbar mit einem Ohr mithörte.
Sie rief Haase an. Eine Stunde später lag die Information in ihrer Inbox. RuhrStahl war das offizielle Kürzel eines Portals, das als Sprachrohr der deutschen Stahlindustrie diente. Als Chefredakteurin zeichnete eine gewisse Nora Schreiber. Haase lieferte ein Dossier über sie als Anhang gleich mit. Sie hatte nun genügend Munition beisammen, um das LKA Düsseldorf heimzusuchen. Uwe arbeitete wie besessen an der Suche nach jury12. Er bekam nicht mit, wie sie sich entfernte, nachdem sie Lena eingeschärft hatte, neue Entwicklungen im Netz unverzüglich zu melden.
Gegen Mittag grüßte der Düsseldorfer Rheinturm mit seiner Dezimaluhr von fern. Nach einem Halt beim Gemüse Döner, gut wie zu ihren Zeiten in Wiesbaden, fuhr sie nach Hamm zum Landeskriminalamt. Der alte Kripochef, der mit ihr noch eine Rechnung offen hatte, war wohl inzwischen in Rente, hoffte sie. Trotzdem betrat sie das Gebäude mit der Abneigung, die schlechte Erfahrungen begleitete wie der Geschmack von Blut und Zahnpasta nach der Zahnkontrolle.
Das Gefühl täuschte sie nicht. Nach drei Minuten war klar: Der zuständige Ermittler im Fall Aachen, Hauptkommissar Tom Fischer, war eine jüngere Ausgabe des ehemaligen Chefs. Eine gute Eigenschaft besaß er allerdings. Er sprach offen aus, was er dachte. Das hörte sich zwar meist nicht gut an aber besser so als in den Rücken schießen, sagte sie sich. Ihre Taktik der Deeskalation fruchtete nicht. Während sie nüchtern den Fragenkatalog abarbeitete, gab er ihr mit jeder Antwort zu verstehen, ihr Einsatz in Düsseldorf wäre so überflüssig wie Fußschweiß. Außer dem jungen Kriminalassistenten Becker fanden das alle im Büro amüsant. Becker musste sie sich merken. Sein rotes Kraushaar blendete wie die grünen Augen, als wollte er sie für ein Fotoshooting ausleuchten. Ungefähr eine halbe Stunde spielte sie Fischers Spiel mit, dann riss ihr Geduldsfaden.
»Ich möchte jetzt die Befragungs-Protokolle der diensthabenden und vor allem der dienstfreien Polizisten zur Zeit der Morde in Aachen sehen«, verlangte sie.
Das Ansinnen schien ihn zu überraschen. Zum ersten Mal schwieg er betreten. Sie legte nach:
»Und wir müssen dringend mit den Sympathisanten der Geschworenen sprechen, allen voran Nora Schreiber von RuhrStahl.«
Er betrachtete sie, als spräche sie plötzlich Chinesisch, dann stieß er einen leisen Fluch aus und knurrte:
»Wie wäre es, wenn Sie uns einfach unsern Job machen ließen, statt ihn uns zu erklären?«
»Haben Sie Ihren Job denn gemacht? Haben Sie die dienstfreien Kollegen alle befragt?«
»Meine Partnerin ist dran, was glauben Sie denn?«
Die grünen Augen behaupteten das Gegenteil, falls sie die Blicke richtig deutete. Es sah nicht gut aus für die Zusammenarbeit mit Fischer. Darin waren sie sich wohl einig. Cool bleiben wäre angezeigt, aber an Tagen wie diesem schaffte sie es nicht. Sie wollte nur noch dafür sorgen, dass er bei der Suche nach den Geschworenen nicht störte.
»Es gibt ja hier offensichtlich noch viel zu tun«, sagte sie. »Mein Auftrag lautet, die Geschworenen zu identifizieren. Ich werde Sie also nicht weiter belästigen bei der Suche nach dem Phantom-Polizisten.«
Er wandte sich kommentarlos ab.
»Können wir uns darauf einigen?«, rief sie ihm nach. »Sie das Phantom, ich die Geschworenen, und wir informieren uns laufend gegenseitig.«
Die Geste, mit der er antwortete, konnte alles Mögliche bedeuten. Sie interpretierte sie als ein Ja. Zu den grünen Augen gewandt, fragte sie nach dem Bericht der KTU. Die Techniker hatten zwar gründliche Arbeit geleistet, doch etwas fehlte.
»Wurde der Stein nicht untersucht, mit dem der Zettel bei Scholz beschwert war?«
»Doch!«, betonte Becker eifrig. »Die KT hat weder Fingerabdrücke noch DNA daran gefunden. Das muss im Bericht stehen.«
Sie schüttelte den Kopf. Dabei lächelte sie beschwichtigend. »Das meine ich nicht. Ich habe nirgends einen Hinweis auf die Herkunft des Steins gefunden.«
Nun blickten sie die grünen Augen ebenso ratlos an wie Fischer, als sie Nora Schreiber erwähnte. Sie klärte den Kriminalassistenten auf:
»Die physikalische und chemische Zusammensetzung eines Gesteins ist manchmal eindeutig wie ein Fingerabdruck. Wenn wir wissen, woher der Stein stammt, gibt uns das vielleicht einen Hinweis auf den Täter.«
»Jawoll!«, rief er aus und griff wie elektrisiert zum Telefon.
Sie zog sich schmunzelnd auf ihren temporären Arbeitsplatz im Besprechungszimmer zurück. Nora Schreiber war unter keiner Kontaktadresse in Haases Dossier erreichbar. Die Mail an die Online-Redaktion des Portals wurde automatisch mit einer Abwesenheitsmeldung beantwortet. Bei dringenden Anliegen kontaktieren Sie bitte meinen Stellvertreter … Der Stellvertreter bestätigte es. Nora Schreiber befand sich auf Geschäftsreise in Übersee. Chris war versucht, Schreibers Handynummer ermitteln zu lassen, verzichtete jedoch darauf. Sie hatte zu wenig in der Hand, um sie dringend vorzuladen.
Im Dossier fand sie einen anderen interessanten Kontakt. Der Stahlbaron Nils Bergmann aus Bochum finanzierte offenbar Schreibers Online-Redaktion praktisch im Alleingang. Wer zahlt, befiehlt. Sie rief im Hauptsitz seiner Firmengruppe an. Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, bis sie von seinem Anwalt erfuhr, dass der CEO seit zwei Wochen in Südamerika weilte und noch weitere drei Wochen dort bleiben würde. Sie verzichtete darauf, ihre Fragen dem Anwalt zu stellen und legte frustriert auf.
Kaum begonnen, stockten ihre Ermittlungen. Es war das altbekannte Phänomen, mit dem sie sich nie abfinden würde. Wenigstens sprach bisher nichts gegen ihre Vermutung, der Schlüssel zu diesem Fall läge irgendwo in dieser Ecke des Landes. Becker brachte ihr die Protokolle der bisherigen Befragungen, obwohl sie im Grunde nichts mehr mit der Suche nach dem Phantom am Hut hatte.
»Vielleicht entdecken Sie etwas, was wir übersehen haben«, sagte er.
So etwas konnte nur aus dem Mund eines Azubis kommen. Sie nahm die Akten dankbar lächelnd entgegen, obwohl sie nicht daran dachte, sie wirklich zu lesen.
»Es gab gestern eine erste Pressekonferenz, habe ich gehört.«
Becker nickte. »Das Bulletin liegt auch bei den Akten.« Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich nochmals um und bemerkte: »Es lohnt sich nicht, den Wisch zu lesen, wenn Sie mich fragen. Der Artikel in der Abendzeitung gibt mehr her.«
Ihr Augenaufschlag genügte, um ihn zur Eile anzutreiben. Sekunden später lag die Zeitung, die sie auf Fischers Pult gesehen hatte, auf ihrem Tisch. Der erste Blick auf den Bericht über die Aachener Morde bestätigte Beckers Behauptung.
»Wer ist ›jh‹?«, fragte sie.
Sie erhielt keine Antwort. Becker hatte sich in Luft aufgelöst. Kurz entschlossen rief sie die Redaktion der Abendzeitung an. Nachdem der Termin vereinbart war, schwebte ihr Daumen einige Male über dem Kontakt Uwe auf dem Smartphone. In Wiesbaden herrschte Funkstille. Es fiel schwer, nicht anzurufen. Der IT-Guru würde sich auch von ihr nicht unter Druck setzen lassen. Er übte selbst den größten Druck auf sich aus, hatte jetzt wahrscheinlich kaum mehr einen Blick für seine Lena übrig. Sie fragte sich, wie die junge, frisch verliebte Frau das aushielt, und bewunderte sie dafür. Gegen die Beziehung mit einem Partner mit autistischen Zügen war ihre Ehe mit Jamie wahrlich ein Sonntagsspaziergang. Trotzdem klappte es nicht. Es lief gerade an allen Fronten nicht gut. Zweckoptimismus konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Haases Kaffee vielleicht, aber der war so unerreichbar wie der mysteriöse jury12. Aus purem Trotz studierte sie Beckers Akten bis tief in die Nacht hinein und las den Artikel in der Abendzeitung ein zweites und drittes Mal, bis sie ihn auswendig kannte.
Die unruhige Nacht im Hotel war kurz und wollte doch nicht enden. Gegen zehn Uhr fuhr sie endlich am Autobahnkreuz Neuss-Süd auf die A57 Richtung Köln. Der Chefredakteur Martin Brandt von der Abendzeitung hatte dem Termin um elf auf ihr Drängen zugestimmt, widerwillig. Aufgrund des Artikels ging sie davon aus, dass der Autor jh über Hintergrundinformationen verfügte, die Kollege Fischer fehlten. Die Redaktion war im Moment ihre einzige Hoffnung, einen Schritt voranzukommen.
Köln
Sie stellte den Wagen beim Kölner Rathaus ab und ging die letzten paar Schritte zu Fuß. Zehn Minuten zu früh stand sie vor der Tür der Redaktion. Eine Blondine etwa in ihrer Größe mit mädchenhafter Figur und Handy am Ohr überrannte sie beinahe auf ihrem Weg zur Toilette.
»Gute Idee«, murmelte sie und folgte ihr.
Die junge Frau hatte sich in einer Kabine eingeschlossen, um zu telefonieren.
»Was glauben Sie, wer Sie sind?«, warf sie dem unbekannten Teilnehmer am andern Ende an den Kopf. »Wofür halten Sie sich, verdammt noch mal? Wir leben in einem Land mit freier Presse, und was ich schreibe, stimmt bis aufs letzte Komma.«
Eine kurze Pause entstand. Chris hätte zu gern gehört, was der Gesprächspartner entgegnete, blieb unwillkürlich stehen und lauschte.
»Hätten Sie wohl gern«, rief die Blondine aus, »und wenn Sie mein Text das nächste Mal stört, kommen Sie direkt zu mir, statt meinen Chef zu belästigen.«
Das Schloss knackte, die Tür flog auf und wieder verfehlte sie die wütende Frau nur um Haaresbreite. Beide erschraken gleichermaßen, aber die Zunge der andern Blondine saß lockerer.
»Was stehen Sie hier herum?«, fauchte sie. »Verfolgen Sie mich?«
Schon riss sie die Tür zum Flur auf, dass sie hart an die Wand krachte. Chris hörte sie nur noch schimpfen: »Scheiße! Darf doch nicht wahr sein!«, dann fiel die Tür zu. Perplex starrte sie ihr nach. Was für ein reizender Käfer, war das Erste, was ihr zum Vorfall einfiel. Zudem hinterließ die Frau einen zarten Duft, den sie auch gerne verbreiten würde.
In Martin Brandts Glaskubus in der Ecke der Lokalredaktion roch es strenger. Der Chef schwitzte. Er grüßte sie ohne Begeisterung. Dass er sitzen blieb, störte sie nicht. Sie hatte die Krücken am Boden hinter dem Sessel wohl bemerkt.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie wir Ihnen bei der Aufklärung dieses Falles helfen können«, begann er.
Sie verzichtete darauf, ihm den feinen Unterschied zwischen den Mordfällen des LKA und ihrer Aufgabe zu erklären.
»Erzählen Sie mir einfach alles, was Sie über die Opfer und die Kampagne im Netz wissen, die in Ihrem Bericht ja auch erwähnt wird«, antwortete sie stattdessen.
»Sie sprechen von Julias Bericht in der gestrigen Ausgabe, nehme ich an.«
Julia, ›jh‹! Sie spürte ein Kribbeln im Nacken.
»Julia?«, fragte sie.
»Julia Hahn hat den Bericht verfasst. Sie war vor Ort am Abend der Tat.«
»Umso besser. Wo finde ich sie?«
Er deutete zur gegenüberliegenden Wand des Büros. Die Blondine! Wieder sträubten sich ihre Nackenhaare, ohne zu verraten, weshalb.
»Gut«, sagte sie gedehnt, »in dem Fall muss ich Sie nicht länger von der Arbeit abhalten. Ich wende mich an Frau Hahn.«
Er nickte stumm. Beim Verlassen des Glashauses hörte sie ihn warnen: »Vorsicht, sie steht gerade etwas unter Strom.«
»Habe ich bemerkt.«
Julia Hahn kroch fast in ihren Bildschirm, nur um sie nicht ansehen zu müssen. Chris stellte sich vor, legte ihre Visitenkarte auf den Tisch und fügte schmunzelnd an:
»Jetzt verfolge ich Sie doch noch.«
Der reizende Käfer betrachtete erst das Kärtchen eingehend, dann sie. Als sie die Nase rümpfte, passte ihr Gesicht noch besser zu den frechen Strähnen der Pixie-Frisur auf der Stirn.
»Kriminalhauptkommissarin«, las sie laut. »Schickt Sie dieser elende Fischer?«
Chris lachte laut heraus über die unerwartete Frage.
»Hauptkommissar Fischer vom LKA meinen Sie?«
»Genau den.«