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»Da sind wir ja schon zwei.«
»Wie meinen?«
»Darf ich mich setzen?«
Julia Hahn deutete auf den leeren Sessel des Pults nebenan.
»Ich mag Tom Fischer auch nicht besonders«, erklärte Chris lächelnd.
»Ich hasse ihn!«
»Was hat er Ihnen angetan?« Da Julia Hahn zögerte, ergänzte sie: »Damit kein Missverständnis aufkommt: Fischer schickt mich nicht.«
Bevor sie die erste Frage stellen konnte, stand Julia auf mit dem Seufzer:
»Ich muss mal raus hier, und ich habe Hunger. Was dagegen, dass wir uns im Café unterhalten?«
»Kein Einspruch.«
»Das Funkhaus befindet sich gleich um die Ecke.«
Sie folgte der eleganten Erscheinung, immer noch leicht irritiert von ihrem Duft. Der reizende Käfer musste vergeben sein. Anders konnte sie sich die respektlose Gleichgültigkeit der männlichen Kollegen bei ihrem Abgang nicht erklären. Kein einziger starrte Julia auf den Hintern. In der spiegelnden Tür zum Flur erkannte sie den Grund. Sie fixierten alle ihren eigenen Po. Männer. Sie fanden eine Ecke im Café, wo sie sich einigermaßen ungestört unterhalten konnten.
»Ich nehme die Tortelloni«, sagte Julia zur Bedienung ohne einen Blick auf die Karte.
Chris entschied sich fürs erste leichte Gericht, das sie entdeckte, einen Salat mit Ziegenkäse.
»Keinen Halven Hahn, Frau Hahn?«, fragte sie spöttisch.
»Gibt›s hier nicht. Sie sprechen Kölsch?«
»Ich trink’s lieber hin und wieder«, antwortete sie lachend.
»Stimmt, unseren Dialekt kann man trinken.«
Nach einem Schluck Wasser und dem ersten Ganzkörper-Scan mit ihren Rehaugen, wie Chris verwirrt feststellte, kam Julia zur Sache.
»Also, was wollen Sie von mir wissen, Kommissarin?«
»Einfach Chris. Erzählen Sie mir alles, was Sie über die Geschworenen recherchiert haben.«
Überrascht beobachtete sie, wie Julias Gesichtszüge sich entspannten. Der latente Weltschmerz wich aus ihren Augen und ein Lächeln umspielte ihren Mund.
»Schön, dass sich endlich jemand von der Polizei dafür interessiert«, sagte sie. »Ihr Kollege Fischer wollte nämlich gar nichts von den Geschworenen wissen, als ich ihn danach fragte.«
»Aus ermittlungstechnischen Gründen nehme ich an«, entgegnete sie vorsichtig.
»Papperlapapp. Er führt einfach seinen Privatkrieg gegen die Presse, haut lieber bei Martin auf den Tisch, statt mit mir zu sprechen.«
»Das war ja nicht zu überhören«, warf sie schmunzelnd ein, um Julias neu aufkeimenden Ärger zu dämpfen. »Worüber hat sich Kollege Fischer denn beschwert? Mir ist jedenfalls nichts Anstößiges aufgefallen in Ihrem Bericht.«
Julia zögerte, sah ihr in die Augen, fand auch nichts Anstößiges darin und beantwortete die Frage.
»Es geht um Stein, denke ich.«
»Welchen Stein?«, fuhr sie überrascht auf.
Wie konnte die Presse vom Stein auf dem Zettel der Geschworenen Wind bekommen haben? In Julias Artikel stand nichts davon.
»Stein Communications, John Steins PR-Agentur.«
»Ach so.«
Im Bericht war nur von der bekannten Kölner PR-Agentur die Rede. Die wäre spezialisiert auf kompromisslose Kampagnen im Netz unter anderem im Auftrag der Automobilindustrie. Die Tweets der Geschworenen wiesen verblüffende Parallelen auf zu diesem professionellen Vorbild. Chris fand es gewagt, diese Parallele im Bericht aufzuzeigen, aber Julia lieferte eindrückliche Beispiele, welche die These belegten.
»Steins Agentur dient also als Vorbild für die Kampagne der Geschworenen?«
Julia nickte. »Alles deutet darauf hin.« Sie schaufelte mit Heißhunger eine Gabel Tortelloni in den Mund, bevor sie weiterfuhr. »John Stein ist ein skrupelloser Geschäftsmann. Jeder in dieser Region weiß das. Seine Kampagne gegen strengere Normen für Feinstaub war grenzwertig. Befürworter kamen sich am Ende vor wie Mörder von Bauern und Totengräber des Transportgewerbes.«
»Stein war das also«, murmelte Chris nachdenklich. »Sie vermuten aber noch mehr hinter dem gleichartigen Vorgehen.«
Julia zuckte die Achseln, räumte den Teller leer und wischte sich den Mund ab. »Meine Vermutungen stehen hier nicht zur Diskussion. Wenn ich Beweise hätte für eine Verbindung zwischen Steins Agentur und den Geschworenen, stünde das im Bericht. Darauf können Sie sich verlassen.«
Chris beobachtete ihr Mienenspiel genau. Es gab keinen Anlass, ihrer Aussage nicht zu trauen. Dennoch schärfte sie ihr ein:
»Wenn Sie mehr über die Geschworenen wissen, müssen Sie es mir sagen, Julia …«
»Sonst mache ich mich strafbar, blabla, ich weiß. Das ist alles. Ich frage mich nur, weshalb das LKA so ein Geheimnis macht um die Geschworenen. Fragen dazu werden nicht beantwortet, auch nicht an der Pressekonferenz.«
Chris blieb die Antwort schuldig. Im Moment war nicht mehr aus der Journalistin herauszuholen, schloss sie. Nach dem Essen verabschiedete sie sich rasch, obwohl sie gerne mehr über Julia erfahren hätte. Die Frau faszinierte sie. Das versetzte sie in eine überraschend gute Stimmung auf der Fahrt zurück nach Düsseldorf. Die Stunde Fahrzeit reichte, um alles aufzusaugen, was Haase über John Stein und seine PR-Agentur in Erfahrung bringen konnte. Als sie den Wagen auf den Parkplatz des Landeskriminalamtes fuhr, glaubte sie, den Grund zu kennen, weshalb sich Fischer gegen jede Anspielung auf Steins Agentur im Zusammenhang mit dem Fall verwahrte. Fischer und Stein waren alte Kumpels und seit Langem Mitglieder im selben Schützenverein.
Köln
Was hatte die Berliner Kommissarin an sich, dass sie ihr nicht mehr aus dem Kopf ging, fragte sich Julia. Es fiel ihr schwer, sich nach dem Essen im Funkhaus wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Obwohl sie im Grunde nur kurz miteinander gesprochen hatten, fühlte sie sich mit Chris verbunden, als wären sie alte Bekannte, bereit, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen. Bereit, den Fall der Geschworenen gemeinsam zu lösen? Was bildete sie sich ein? Chris war sicher eine erfahrene Ermittlerin des Bundeskriminalamts. Das BKA besaß alle Ressourcen, um diesen Hetzern auf die Spur zu kommen, sie verfügte nur über Internet, ein paar gute Beziehungen und Intuition. Verbissene Entschlossenheit gehörte auch dazu, aber das galt auch für Chris. Die Frau gab ihr mehr Rätsel auf, je länger sie über sie nachdachte. Wie konnte so ein sinnliches Mädchen – das war sie, keine Frage – den harten Job in der höchsten Mordkommission der Republik aushalten? Eines Tages müsste sie genau diesem Widerspruch auf den Grund gehen. Sorgsam, als wäre sie zerbrechlich, steckte sie die Visitenkarte der Kommissarin, die noch immer auf dem Tisch lag, in die Brieftasche.
Martins Krücke pochte an die Scheibe der Sauna. Er winkte sie herbei.
»Was hast du ihr gesagt?«, fragte er im väterlichen Ton, den er gewöhnlich benutzte, wenn sie allein waren.
Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich nichts, die Wahrheit.«
Er wartete mit lauerndem Blick.
»Nichts über den Freihandel, falls du das fürchtest.«
Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich fürchte nicht einmal das Kantinenfutter, wie du weißt. Ich will bloß nicht den Ruf des Blattes als seriöse Presse verspielen, indem wir Spekulationen verbreiten. Verstehst du das?«
Sie dachte an Chris und lächelte entspannt. Der Trick erwies sich als todsichere Methode, um Stress abzubauen, was sie noch mehr erheiterte.
»Mache ich Witze?«
»Entschuldige, es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge, Martin. Sie wollte wissen, weshalb ich so ausgerastet bin nach Fischers Anruf bei dir.«
»Das wüsste ich allerdings auch gern. Wir beide kennen Kommissar Fischer doch lange genug, um zu wissen, was wir ernst zu nehmen haben und was nur heiße Luft ist.«
»Wenn das nur heiße Luft war, warum sagst du es mir dann überhaupt?«
Sie war nun doch im Begriff, sich wieder aufzuregen.
»Weil wir uns vertrauen, Julia, ohne Einschränkungen.«
Die Antwort gefiel ihr, was den Ärger über Fischer allerdings nicht verminderte. »Etwas an ihm treibt mich einfach jedes Mal zur Weißglut«, sagte sie wie zu sich selbst.
»Fischer? Denk an etwas Schönes beim nächsten Interview.«
Sie kannte jetzt eine Methode. »Ich werde es versuchen. Was mich aber schon wundert, ist seine Beziehung zu John Stein. Weshalb regt er sich so auf, weil wir die PR-Agentur erwähnen?«
Martin zuckte die Achseln. »Ich denke, das interessiert uns im Augenblick nicht. Der Fokus bleibt auf den zu erwartenden nächsten Zügen der Geschworenen.«
»Klar, Chef.«
Sie wandte sich zum Gehen.
»Haben wir uns verstanden?«, fragte er zur Sicherheit.
Er misstraute jedem Satz, den sie mit Chef abschloss, und das üblicherweise mit gutem Grund.
»Klar, Martin«, antwortete sie lächelnd, um ihn zu beruhigen.
Sie setzte sich an den Computer, um die Tweets zu #dieGeschworenen nochmals genau anzusehen. Eine Stunde lang vergaß sie alles um sich herum, versunken im Netz, einer Parallelwelt, die für viele Menschen zur einzig maßgebenden Wirklichkeit geworden war. Der Anruf aus der Kita schreckte sie auf. Solche Anrufe waren die schlimmsten. Die Hand zitterte, als sie auf Empfang drückte.
»Ist was mit Tim?«, fragte sie kaum hörbar.
»Mama!«
»Gott sei Dank! Tim, geht es dir gut?«
Er war schon wieder weg. An seiner Stelle meldete sich die Betreuerin.
»Frau Hahn, guten Tag. Keine Angst, es ist alles in Ordnung. Ich wollte Sie nur informieren. Emma hat angerufen. Ist es O. K., wenn sie Tim mit in den Zoo nimmt? Er freut sich …«
Tim, der Schreihals, unterbrach sie:
»Wir besuchen die Affen!«
Ein wohliger Schauer durchrieselte ihren Körper. Tims Welt war noch in Ordnung, obwohl – die Affen sahen das vielleicht anders, aber das war ein ganz anderes Thema. Sie gab ihre Zustimmung und widmete sich der Arbeit mit neuem Schwung. Dieser Hashtag führte nicht weiter. Sie klickte auf den Link, der zum Benutzer juri12 führte, dem Wortführer der Geschworenen. Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Schon im dritten Post von juri12 fand sie einen Link auf die Webseite mit der Überschrift Die Geschworenen – für Gerechtigkeit und Ordnung. Ein Ausruf der Überraschung entschlüpfte ihr. Der rote Peter sah kurz auf, schnitt eine Grimasse und hieb wieder auf die Tastatur ein. Der Hashtag #dieGeschworenen fehlte ausgerechnet in dieser Meldung, deshalb hatte sie die Webseite bisher nicht gefunden.
Als hätte sie eine Geheimtür zu einer unbekannten Welt aufgestoßen, betrachtete sie die Seite auf dem Bildschirm sekundenlang.
»Heilige Scheiße«, murmelte sie leise und sprang auf.
Sie brauchte etwas Süßes zwischen die Zähne. Die Tortelloni waren vergessen, Zeit für die längste Praline der Welt. Die Webseite erweckte einen durchwegs professionellen Eindruck und verblüffte mit dem Design. Sie kannte diesen Aufbau und die benutzten grafischen Elemente. Die Seite der Geschworenen sah aus wie eine Seite aus dem Web-Auftritt der PR-Agentur Stein.
»Also doch!«, murmelte sie grimmig lächelnd.
»Was meinst du?«, fragte das Zebra.
Die Sitznachbarin war unbemerkt vom Außeneinsatz zurückgekehrt. Sie wiegelte ab.
»Nichts. Alles im grünen Bereich.«
Die Zeit bis zur abendlichen Redaktionskonferenz reichte knapp, um die wichtigsten Informationen dieser Webseite, die in Wirklichkeit über fünfzig Seiten umfasste, zusammenzustellen. Sie druckte ein paar krasse Texte aus, bevor sie sich ins Sitzungszimmer begab. Die Berichte und Aufhänger der andern Ressorts interessierten sie kaum. Gedankenverloren wartete sie auf ihren Einsatz.
»Julia, Neues von den Geschworenen?«, fragte Martin endlich.
Ein Adrenalinschub versetzte ihre Sinne in Alarmbereitschaft. Sie brachte den Knüller für die morgige Ausgabe. Den würde sie sich nicht nehmen lassen. Es war ihr großer Auftritt. Sie schilderte die Entdeckung kurz und nüchtern. Theatralik war unnötig. Die Texte und die ganze Atmosphäre von Law and Order und hemmungsloser Selbstjustiz unterstrichen deutlich genug, mit wem sie es bei den Geschworenen zu tun hatten.
»Nur schon der Name: die Geschworenen. Was für ein Haufen Spinner!«, schimpfte Martin nach einer Weile betretenen Schweigens.
»Ich denke, Spinner trifft es nicht, Martin«, widersprach sie. »Diese Leute sind gebildet, was man an der Ausdrucksweise erkennt, und fanatisch. Deshalb halte ich sie für brandgefährlich.«
»Sie sind trotzdem Spinner«, wagte der rote Peter einzuwerfen, »akademische Spinner. Von denen gibt›s ja genug heutzutage, wo jeder Depp an der Uni landet.«
Selbstkritik?, dachte sie schmunzelnd. Die eigentliche Sensation hob sie sich bis zum Schluss auf.
»Stellenweise lesen sich die Texte wie Gerichtsprotokolle«, fuhr sie fort. »Das sieht man schön an der Akte Scholz.«
Alle Augen hingen an ihren Lippen.
»Ihr habt richtig gehört. Es gibt eine umfangreiche Akte über das Aachener Opfer Albrecht Scholz auf der Webseite. Darin wird peinlich genau nachgewiesen, welche Verfehlungen sich der ehemalige Lobbyist in Brüssel geleistet und weshalb er versagt hat. Es läuft darauf hinaus, dass Scholz das Lotterleben eines Tunichtguts und Playboys geführt habe, statt Dampf zu machen für ein Freihandelsabkommen der EU mit China, woran insbesondere die Autoindustrie ein vitales Interesse hat. Nach Ansicht der Geschworenen hat Scholz also komplett versagt. Das steht in der Urteilsbegründung. Das Urteil lautet denn auch: schuldig. Darunter steht das Motto, das die ganze Webseite prägt: Wir kriegen euch alle.«
Nach einer Schrecksekunde begannen die Kollegen, wild durcheinander zu sprechen. Sie beobachtete verstohlen Martins Mienenspiel. Da hatte er die Verbindung mit dem heiklen Thema Freihandel. Die Enthüllung machte ihm zu schaffen. Er kämpfte mit sich. Es war nicht zu übersehen. Schließlich klopfte er energisch mit der Krücke auf den Boden. Sofort kehrte Ruhe ein. Gewonnen!, wusste sie, bevor er den Mund öffnete.
»Leute, das wird unser Aufhänger«, sagte er. »Julia, zu mir!«
Sie war gut vorbereitet. In der Sauna erläuterte sie ihm rasch die Struktur des geplanten Leitartikels. Sein einziger Einwand betraf die Stellen, die als peinlich oder gar beschämend für die Ermittler des LKA interpretiert werden könnten. Sie einigten sich auf einen Kompromiss, mit dem auch ein Tom Fischer leben konnte, ohne eines Nachts mit vorgehaltener Pistole in ihrem Schlafzimmer aufzutauchen. Chris würde auch ihr Fett weg bekommen, da die Presse offenbar mehr über die Geschworenen wusste als das BKA. Sie fühlte sich wie eine Verräterin dabei.
»Ich denke, wir müssen das BKA nicht unbedingt erwähnen«, versuchte sie sich zu beruhigen.
Martin überlegte, stimmte dann zögernd zu. »Einverstanden, es genügt, dass die selbst merken, wer da versagt hat.«
Sie verließ den Glaskubus mit einem inneren Stoßseufzer. Kaum am Arbeitsplatz, stand der rote Peter auf, sein Spielzeug-Megafon in der Hand.
»Alle mal herhören«, brüllte er. »Die Aktivistin Lotte Engel hat für Samstag zu einer Demo gegen Freihandel und Globalisierung vor dem Reichstag aufgerufen. Alle Infos darüber bitte sofort an mich. Ich werde vor Ort berichten.«
Die Lage spitzte sich gefährlich zu. Mit ihrem Leitartikel würde sie Öl ins Feuer gießen, aber das ließ sich nicht vermeiden. Es war ihre Pflicht als Journalistin, die Leser umfassend zu informieren. Wie würden die Geschworenen reagieren? Lobbyist Scholz lebte nicht mehr, weil er zu wenig für die Automobilindustrie getan hatte. Lotte Engel als berüchtigte Linksaktivistin war eine radikale Gegnerin von Freihandel aller Art. Sie hatte an vorderster Front gegen CETA und TTIP gekämpft. Julia fröstelte beim Gedanken, jetzt in Engels Haut zu stecken.
Bevor sie zu schreiben begann, kehrte sie zum Hashtag #dieGeschworenen zurück. Der erste neue Tweet versetzte ihr den vierten heftigen Adrenalinschub des Tages nach Chris, der Kita und der Redaktionssitzung. Ein neuer Benutzer trat auf, dessen Name nichts Gutes verkündete: das Phantom.
Das Phantom @phantombulle
Hat sich schon mal jemand gefragt, wer die Urteile vollstreckt? #dieGeschworenen richten, das Phantom schießt.
Das Phantom @phantombulle
So einfach ist das Leute. Ihr dürft mir gratulieren.
Bernd der Elf @berndeckstein23
Lol! #dieGeschworenen werden sich bedanken für Aufschneider wie dich, @phantombulle! Lächerlich und peinlich.
Rosa Brille @diebrillenschlange
Echt jetzt! Hört auf, #dieGeschworenen zu verarschen. Die sorgen für Ordnung und das ist gut so. Klappe, @phantombulle!
Das Phantom @phantombulle
Beweis: Auf dem Zettel unter dem Stein bei der Leiche von #PlayboyScholz steht: Wir kriegen euch alle #dieGeschworenen. Fragt die Bullen.
Die Geschworenen @jury12
#dieGeschworenen stellen fest: @phantombulle hat Täterwissen. Die Nachricht bei der Leiche stammt von unserer Webseite.
Sie traute den Augen nicht, und sie war nicht die Einzige. Sie sah es am Zeitstempel der nächsten Nachrichten. Auf die Enthüllung des Phantoms folgte eine längere Pause. Die Netzgemeinde reagierte ebenso verblüfft wie sie. Dann überstürzten sich die Meldungen.
Sie war versucht, Chris sofort anzurufen. Bei anderen Beamten des Polizeiapparates hatte sie dieses Verlangen nie gespürt. Das Telefon in der Hand, besann sie sich im letzten Augenblick anders. Chris und ihr Team mussten die Enthüllung auch gelesen haben. Im Unterschied zu ihr würden BKA und LKA allerdings nicht darüber berichten.
Eine Weile verfolgte sie die aufgeregten Reaktionen im Netz. Die anonyme Diskussion driftete schnell ab vom Motiv des Urteils, das sie auf der Webseite der Geschworenen entdeckt hatte, und konzentrierte sich auf das Phantom. Zwei Lager bekämpften sich verbissen, wobei die Gegner von Selbstjustiz, wie sie das Phantom offenbar betrieb, bald unterlagen. Lob, Unterstützung und Ansporn für das Phantom gewannen Oberhand. Die Emotionen schaukelten sich gegenseitig hoch und zwar in einem buchstäblich mörderischen Tempo. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie. Am liebsten hätte sie den Computer abgeschaltet, um Tim und Emma vom Zoo abzuholen. Die Suche nach dem nächsten Tweet von juri12 hinderte sie daran. Lange wartete sie vergeblich auf eine Reaktion der Geschworenen, während sie den Artikel zu schreiben begann. Die Geschworenen blieben stumm.
Berlin
»Ich kann den Scheiß nicht lesen«, schimpfte der Herr auf dem Rücksitz der Limousine. »Fahren Sie näher ran.«
Der Fahrer zögerte. »Das könnte gefährlich werden, Herr Minister.«
Bundesernährungsminister Hannes Lang wischte sich den Schweiß von der Stirn und krempelte die Ärmel hoch wie im früheren Leben vor dem Betreten des Stalls.
»Unsinn«, entgegnete er ärgerlich. »Das ist freie Meinungsäußerung, und ich will wissen, was die Leute zu sagen haben.«
»Wie Sie wünschen, Herr Minister.«
Eine ansehnliche Menschenmasse strömte trotz Nieselregen an diesem Samstagmorgen durch Berlin zum Regierungsviertel. Je näher die Glaskuppel des Reichstags rückte, desto gefährlicher wurde die Fahrt. Demonstranten skandierten dicht gedrängt ihre Slogans, ohne auf den Verkehr zu achten. Es ging nur im Schritttempo voran, wollten sie nicht Gefahr laufen, Leute über den Haufen zu fahren.
»Näher geht nicht«, meldete der Fahrer.
Der Minister öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit, um zu hören, was das Volk bewegte.
»Freihandel – Mordsschwindel!«, rief die Menge im Sprechchor immer wieder.
»Mordsschwindel«, wiederholte er lachend.
Der Rhythmus passte zu Freihandel, der Inhalt weniger. Als Schwindel würde er das geplante Abkommen nicht bezeichnen, eher als Katastrophe. Es musste verhindert werden. Da stimmte er den Demonstranten zu.
Der Zug stoppte. Der Fahrer musste anhalten. Aus dem Nichts flatterte ein rotes Flugblatt durch den Spalt in den Wagen. Es enthielt eine Auswahl der Sprüche auf den Transparenten.
Stoppt den Wahnsinn – Freihandel nein danke!
Kein Profit durch Kinderarbeit!
Globalisierung nützt nur Millionären!
Deutschland ausbluten durch Billigimporte?
China killt unsere Industrie!
Wollt ihr giftiges Gemüse?
Der Link zu Lotte Engels Webseite rahmte die Weisheiten fett gedruckt oben und unten ein. Schmunzelnd schloss er das Fenster, um den Lärm zu dämpfen. Er griff zum Telefon, um das Sekretariat zu warnen.
»Im Moment stecke ich in der Demo fest. Wird wohl etwas später. Wir müssen wenden und einen Umweg fahren.«
Es war zugleich das Zeichen für den Chauffeur, der die Anweisung mit dem zufriedenen Grinsen befolgte, das er selbst jedes Mal aufsetzte, wenn das Kanzleramt nach seiner Pfeife tanzte. Er faltete das Flugblatt sorgfältig zusammen, bevor er es einsteckte. Zitate aus dem Volksmund waren nie verkehrt an einer Kabinettssitzung, schon gar nicht an dieser Sondersitzung, deren einziger Verhandlungsgegenstand der unselige Plan für ein Freihandelsabkommen mit China war.
»Unglaublich, diese Engel«, brummte der Chauffeur, während er die Demo weiträumig zu umfahren versuchte.
Er wusste, was der Mann meinte. Lotte Engel brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, um das halbe Volk zu mobilisieren, dem Internet sei Dank. Wie schaffte die Frau das? Sie vertrat eine radikal linke Politik. Das konnte doch nicht der neue deutsche Traum sein. Und weshalb blieben bei seinen Veranstaltungen halbe Säle leer? Ernährungsminister Hannes Lang stand schließlich für bodenständige Vernunft. Dafür hatte ihn das Parlament gewählt.
Immer neue Busladungen von Demonstranten mit Transparenten, Tröten und Megafonen strömten von allen Seiten zum Platz der Republik. Die Limousine hatte die Spree überquert und näherte sich nun am rechten Ufer entlang dem Ziel. Es war die falsche Entscheidung gewesen. Unvermittelt sahen sie sich von vermummten Gestalten in schwarzer Kleidung umringt. Die Schlagstöcke und Baseballschläger waren nicht zu übersehen. Der Chauffeur fluchte, legte den Rückwärtsgang ein. Zu spät, es gab kein Entkommen mehr. Der erste Schlag zertrümmerte die Heckscheibe. Panik ergriff beide. Sie schrien ins Telefon.
»Wo bleibt die Polizei?«, brüllte er den Fahrer an.
Er hätte auf ihn hören sollen am Morgen, als er die Eskorte vorgeschlagen hatte wegen der Demo.
»Autonome des schwarzen Blocks greifen uns an!«, schrie der Fahrer ins Telefon.
Der nächste Schlag traf die Frontscheibe genau vor seiner Nase. Das Sicherheitsglas zerplatzte in tausend Splitter und verwandelte die Scheibe in undurchsichtiges Milchglas. Die schwere Limousine begann zu wanken, als bebte die Erde. Er prallte hart an die Tür, fiel auf den Sitz zurück, verrenkte sich den Arm dabei, dass er vor Schmerz laut aufschrie.
»Sind Sie verletzt?«, unterbrach der Fahrer das Geschrei mit der Notrufzentrale.
Der Wagen wankte nun bedenklich. Die Scheißkerle würden es noch schaffen, ihn umzukippen. Mehr als ein Dutzend Vermummte beteiligten sich jetzt am Spaß, skandierten rhythmische Schlachtrufe, als wollten sie den Teufel austreiben.
»Die fackeln uns ab!«, brüllte der Fahrer wie am Spieß.
Der Kerl mit dem Feuerzeug und der Flasche stand keine fünf Meter entfernt. Statt zu werfen, ließ er den Molotowcocktail plötzlich fallen und gab Fersengeld. Die Spaßvögel am Auto folgten ihm augenblicklich. Sekunden später stand die Limousine verlassen auf der Straße, Scheiben geborsten, Motorhaube und Kotflügel verbeult, als hätte sie ein Dieb nach missglückter Spritztour dort als Schrott abgestellt. Sein Tinnitus flaute ab. Jetzt hörte auch er die Sirenen der heranrückenden Kavallerie.
Abwesend ließ er sich zum Rettungswagen führen. Die Fragen der Ärztin beantwortete er mechanisch. Er wunderte sich, wie die Lage in so kurzer Zeit derart eskalieren konnte. Das erste Mal in seinem Leben war er ernsthaft körperlich bedroht worden. Ein Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit erfasste ihn.


