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»Herr Minister?«
Sein Fahrer wartete auf eine Antwort.
»Wie bitte? Entschuldigen Sie, wie war die Frage?«
»Soll ich sofort einen neuen Wagen anfordern oder möchten Sie mit dem Streifenwagen …«
»Streifenwagen ist in Ordnung. Kümmern Sie sich um den Dienstwagen. Sind Sie in Ordnung?«
Der Fahrer nickte und entfernte sich.
»Sie haben einen Schock erlitten, Herr Minister«, stellte die Ärztin fest. »Sie sollten sich jetzt schonen und von Ihrem Arzt gründlich untersuchen lassen.«
»Ich bin in Ordnung, danke.« Er blickte sich um. »Wo bleibt der Streifenwagen? Ich werde im Kanzleramt erwartet – seit einer halben Stunde.«
Die letzten Minuten hatten es ihm deutlich vor Augen geführt: An dieser Sitzung ging es nicht einfach um einen Vertrag. Er war jetzt überzeugt, es ginge um den inneren Frieden der Bundesrepublik.
»Beeilung bitte«, sagte er, als er in den Streifenwagen stieg, »sonst geschieht ein Unglück.«
Noch eins, ergänzte er im Stillen. Klaus Hartmann, der Kanzleramtsminister, erwartete ihn allein im Sitzungszimmer. Er spielte den Betroffenen. Das hatte er drauf.
»Du meine Güte, Hannes, wir stehen alle unter Schock! Wie geht es dir? Solltest du nicht lieber …«
»Zu Hause herumsitzen?«, unterbrach er. »Hättest du wohl gern, damit ihr euer Geschäft ohne mich durchwinken könnt.«
»Also hör mal!«
»Wo sind die andern? Können wir endlich anfangen?«
»Die Kollegen warten auf Abruf. Wir konnten ja nicht wissen …«
Er winkte ab, setzte sich an seinen Platz und breitete die Notizen vor sich aus. Nach und nach trafen die Kollegen ein. Sie grüßten ihn und warfen ihm Blicke zu, als wäre er von den Toten auferstanden.
»Übertreibt mal nicht«, sah er sich genötigt zu bemerken. »Was wir hier tun, ist wichtiger als die paar Dellen am Dienstwagen.«
Die Sondersitzung begann mit dem Bericht aus Peking. Der Leiter der Kommission, die Vorgespräche vor Ort durchführte, bestätigte wie erwartet Pekings offenes Ohr für das deutsche Anliegen.
»Als ob nichts geschehen wäre«, brummte Hannes nach dem Ende des Ferngesprächs. Lauter sagte er: »Leute, habt ihr mal aus dem Fenster geschaut? Wir können nicht weitermachen, als wäre nichts geschehen. Wir müssen die Vorgespräche abbrechen. Brüssel wird es uns auch danken.«
Klaus Hartmann schüttelte entschieden den Kopf. »Was da draußen abgeht, ist bedauerlich, aber es ist nichts weiter als ein linkes Strohfeuer, angefacht von unserer alten Freundin Lotte Engel.«
»Da sind bestimmt zehntausend Menschen da draußen, und es werden stündlich mehr«, widersprach er. »Ich war mittendrin und kann euch versichern, das sind nicht alles Linksextremisten. Das sind mit Recht besorgte Bürger, die sich hintergangen fühlen, die Angst um ihren Arbeitsplatz, Angst um ihre Gesundheit, Angst um ihre Zukunft haben. Das Echo auf die Enthüllung über die Geheimverhandlungen ist gigantisch und hat jetzt auch die ganz seriöse Presse erfasst. Ihr habt die Frontseite der FAZ gesehen. Wir dürfen so etwas nicht ignorieren. Da mache ich nicht mit.«
Hartmann warf dem Justizminister einen fragenden Blick zu. Der schüttelte den Kopf und murmelte kleinlaut:
»Bis jetzt gibt es keinen Anhaltspunkt, wer die Informationen an die Presse gespielt hat.«
»Dann mach Druck!«
Das Kanzleramt war sichtlich nervös. Hartmann sah seine Felle davonschwimmen. Gut so. Hannes unterdrückte den Anflug eines Schmunzelns. Verkehrsminister Vince Vogel hatte das Streitgespräch angespannt verfolgt. Jetzt räusperte er sich umständlich.
»Ich kann nicht glauben, was ich höre«, begann er düster. »Wir brauchen diesen Freihandelsvertrag mit China, da waren wir uns doch einig.«
»Außer mir!«, unterbrach Hannes zornig.
»Außer Landwirtschaftsminister Lang«, gab Vogel zu, »der sich vor billigem Reis und Geflügel fürchtet. Als gebärde sich China plötzlich wie ein Weltmeister im Nahrungsmittelexport. Ehrlich, Hannes, ich verstehe dich nicht.«
Kein Wunder, dachte er, unterdrückte aber den Drang nach einer geharnischten Antwort. Im Übrigen begann sein Arm wieder empfindlich zu schmerzen. Vogel sprach weiter:
»Ich habe es schon in meiner Aktennotiz dargelegt und wiederhole es gerne noch einmal. Jeder siebte Arbeitsplatz im Land hängt direkt oder indirekt an der Autoindustrie. Insgesamt sprechen wir von nahezu einer Million Beschäftigten, deren Schicksal an dieser Industrie hängt. Diese Menschen und damit diese Firmen müssen wir unter allen Umständen schützen. In den letzten paar Jahren allein konnten durch die Autoindustrie hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen werden. Die und noch ein paar hunderttausend mehr werden im Nu wieder verloren gehen, wenn wir nicht schleunigst für den Abbau von Exportschranken in den größten Zukunftsmarkt sorgen.«
Hannes wollte intervenieren, doch Vogel wehrte mit rotem Gesicht ab.
»Ich bin noch nicht fertig! Seit unsere Freunde – oder muss ich sagen – Ex-Freunde jenseits des großen Teichs jeden Tag neue Hürden erfinden, um ihr dämliches America first durchzusetzen, müssen wir die Flucht nach vorn antreten. China ist die einzige Chance, unsere Arbeitsplätze und unseren Standard zu erhalten, Freunde.«
»Und das um jeden Preis«, fügte Hannes sarkastisch an.
Vogel war ein guter Redner. Die Mehrheit am Tisch folgte seinen Argumenten. Es war deutlich auf ihren Gesichtern zu lesen. Er zog das rote Flugblatt aus der Tasche und wandte sich direkt an den Kollegen Vogel.
»Vince, die Leute da draußen verstehen das alles nicht. Sie skandieren immer wieder Freihandel – Mordsschwindel! und tragen Transparente mit Sprüchen wie China killt unsere Industrie, wie du auf diesem Flugblatt lesen kannst. Warum wohl? Ich sage es euch: weil wir kläglich versagt haben Freunde. Der Versuch, unseren Wählern zu erklären, weshalb Freihandel und Globalisierung im Prinzip gut und notwendig sind, ist total in die Hose gegangen. Ich plädiere nicht für Abschottung, aber wir sollten behutsam vorgehen. In einer derart aufgeheizten Stimmung, wie sie jetzt da draußen herrscht, halte ich jede weitere Verhandlung mit China für brandgefährlich.«
Kanzleramtsminister Hartmann setzte zu einer Entgegnung an. Bevor er ein erstes Wort sagen konnte, ging die Tür auf. Es gab nur einen Menschen in der Bundesrepublik, der unangemeldet in eine solche Sitzung platzen durfte. Die Kanzlerin trat ein. Mit besorgter Miene eilte sie auf Hannes zu.
»Gott sei Dank, Hannes. Du bist O. K.? Ich hab›s bei der Landung erfahren, abscheulich, diese Gewalt.« Sie wandte sich ans Kabinett und sagte mit Bedauern in der Stimme: »Leute, wir legen alle Aktivitäten mit China auf Eis und geben ein Dementi heraus. Es hat nie irgendwelche Verhandlungen gegeben. Klaus, du kümmerst dich darum.«
Düsseldorf
Erst unter der kalten Dusche erwachte Chris an diesem Morgen. Sie fühlte sich gemartert. Es lag nicht am harten Hotelbett. Der Fall verursachte Albträume. Da half auch das hübsch traurige Gesicht des reizenden Käfers von der Abendzeitung nicht darüber hinweg, von dem sie geträumt hatte, bevor sie schweißgebadet aufwachte.
Vor dem Frühstück besorgte sie sich die neuste Ausgabe der Kölner Abendzeitung. Der Kaffee erkaltete während der Lektüre des Leitartikels. Diesmal erschien der Name Julia Hahn im Klartext, als wäre sie besonders stolz auf ihr Werk. Grund dazu hatte sie. Ein smartes Mädchen, der reizende Käfer, dachte sie schmunzelnd. Julia hatte fast alles aufgedeckt, was in Uwes Meldung aus Wiesbaden von letzter Nacht stand. Ihre Vermutung schien sich also zu bestätigen: Das Phantom verstand sich als Scharfrichter, der das Urteil der Geschworenen vollstreckte. Das Urteil – die Urteile? Automatisch holte sie die Webseite der Geschworenen aufs Display des Smartphones. Es gab kein neues Urteil. Wie sie nach einigem Suchen feststellte, war die Webseite seit einer Woche nicht mehr aktualisiert worden. Auch bei den Geschworenen schien Funkstille zu herrschen. Kein gutes Zeichen, sagte ihr Bauchgefühl. Die Ermittlungen liefen an allen Fronten ins Leere. Nichts an diesem Fall war wirklich greifbar außer den beiden Opfern in Aachen. Aus Ärger zwang sie sich, die scheußliche, kalte Brühe in einem Zug zu trinken.
Auf dem Weg in die Parkgarage rief sie Jamie an. Er klang aufgeregt.
»Gut rufst du an. Ich wollte gerade … Wir haben etwas zu besprechen.«
Allerdings, dachte sie. Ein kalter Schauer rieselte über ihren Rücken. Seine Bemerkung klang wie eine Drohung. Sie hatte ohnehin das Gefühl, mit einem Fremden zu sprechen.
»Ist es dringend?«, fragte sie mit einem Knoten im Magen. »Ich bin gerade unterwegs zum LKA.«
»Es ist wichtig.«
Sie war versucht, die Verbindung mit einer Notlüge zu unterbrechen. Was war schon eine Lüge gegen die brutale Wahrheit? Es konnte sich nur um etwas Schreckliches handeln, so ernst klang seine Stimme.
»Also – wir sollten das vielleicht nicht am Telefon besprechen, aber …«
Haase klopfte an, ein Geschenk des Himmels.
»Schatz«, unterbrach sie sofort, »ich kriege gerade einen Anruf aus der Zentrale. Da muss ich ran, tut mir leid. Wir sprechen später.«
Jamies Hiobsbotschaft musste warten. Sie nahm Haases Anruf entgegen. Er hatte sich eingehend mit der PR-Agentur Stein befasst. Das grobe Bild, das sie sich nach der Unterhaltung mit Julia Hahn von John Stein gemacht hatte, bestätigte sich. Dessen Agentur kannte keine Berührungsängste mit Auftraggebern aller Couleur. Ein guter Deal, viel Kohle, das war sein Geschäftsmodell, und offenbar funktionierte es. Die PR-Agentur Stein sah keinen Widerspruch darin, aggressiv gegen strengere Grenzwerte für Feinstaub zu polemisieren und gleichzeitig für erneuerbare, CO2 neutrale Energie zu werben, als wäre das ihr wichtigstes Anliegen.
»Marketing«, sagte sie verächtlich und setzte sich ans Steuer, »ist alles nicht verboten.«
»Stimmt«, gab Haase zu, »aber Sie wollten alles über Stein wissen, und ich denke, das Geschäftsgebaren lässt auf seinen Charakter schließen. Stein ist übrigens verwitwet und hat einen Sohn, Florian, 32, der noch bei ihm wohnt. Über den Sohn konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Der scheint ein unbeschriebenes Blatt zu sein.«
John Stein war ein skrupelloser, geldgieriger Unternehmer und Bekannter des Kollegen Fischer. Das hatte sie begriffen, aber was nützte diese umwerfende Erkenntnis in ihrem Fall? Gab es überhaupt erfolgreiche Unternehmer, die nicht skrupellos und geldgierig waren? Enttäuscht bedankte sie sich bei Haase und wollte auflegen.
»Moment!«, warf er hastig ein. »Das Wichtigste haben Sie noch gar nicht gehört.«
»Haase, Ihr Ristretto fehlt mir wirklich«, seufzte sie.
Wie üblich reagierte er nicht auf das Kompliment. Ungerührt fuhr er fort:
»Es gibt Neuigkeiten über Ihren Kollegen Tom Fischer.«
Die Eröffnung schaffte, was der kalte Kaffee nicht zustande gebracht hatte. Hellwach hörte sie zu.
»Es gab eine interne Ermittlung gegen Fischer«, fuhr Haase weiter. »Vor zwei Jahren hat er einen jugendlichen Kleinkriminellen angeschossen und lebensgefährlich verletzt, als der fliehen wollte. Das Verfahren wurde zwar eingestellt, aber es passt zum Bild eines Polizisten, der sich nicht immer unter Kontrolle hat.«
»Den Eindruck bekam ich auch«, murmelte sie.
»Das ist noch nicht alles. Es muss nichts bedeuten, aber Fischer besitzt eine BMW 900 RT, die er außer Dienst und manchmal auch im Dienst benutzt.«
Es dauerte kurze Zeit, bis der Groschen fiel.
»Augenblick!«, rief sie aus. »Eine BMW 900 RT, ein Polizeimotorrad, wie es eine Zeugin in Aachen beim Phantom gesehen haben will?«
»Wie gesagt, wahrscheinlich reiner Zufall. Solche Motorräder gibt es viele.«
Sie lachte kurz auf. »Haase, Sie wissen, was ich von Zufällen halte.«
Während der Fahrt zum LKA überlegte sie, wie sie Fischer damit konfrontieren wollte. Gar nicht, beschloss sie, als sie das Büro betrat. Er war nicht anwesend. Auf der andern Seite von Fischers Schreibtisch saß eine ältere Frau mit traurigen Augen. Bevor Chris den Mund öffnete, schoss Kriminalassistent Becker auf sie zu.
»Darf ich vorstellen: Oberkommissarin Schäfer, Hauptkommissar Fischers Partnerin.« Zu seiner Kollegin gewandt, stellte er Chris vor.
Ina Schäfer, wie sie gemäß Tafel auf dem Tisch hieß, erhob sich mit wenig Begeisterung, und fragte:
»BKA, was verschafft uns die Ehre?«
Einen Augenblick lang fürchtete sie, einer weiblichen Ausgabe von Fischer gegenüberzustehen, doch dann sah sie den gequälten Ausdruck und die Sorgenfalten auf Schäfers Gesicht. Die Frau blickte sie an, als wollte sie von all dem nichts wissen. Chris versuchte es mit einem Scherz:
»Gut, Sie kennenzulernen, Frau Schäfer. Ich fürchtete schon, Ihr Partner bilde sie sich nur ein. Ihren Namen hat er nämlich nie erwähnt.«
»Das darf Sie nicht wundern. Tom sagt nie ein Wort zu viel.«
»Ich hätte auch nur ein Problem damit, wenn er zu wenig sagte«, gab sie lächelnd zurück.
Ina Schäfer setzte sich wieder und murmelte:
»Sie werden sich daran gewöhnen.«
Die Frau machte den Eindruck, aufgegeben zu haben, oder hatte sie einfach vor Fischer kapituliert? Die Fragen nach dem Stand der Fahndung beantwortete sie mechanisch wie ihr Smartphone die Frage nach dem Wetter. Der Fall, das Rätsel des Phantoms und der Geschworenen, schienen sie überhaupt nicht zu berühren. Ina Schäfer würde keine große Hilfe sein. Die Frau tat ihr trotzdem irgendwie leid.
Chris füllte sich einen Becher am Wasserspender. Wie aus dem Nichts tauchten die grünen Augen neben ihr auf. Mit verschwörerischer Miene flüsterte Becker:
»Der Hauptkommissar spricht ihren Namen nie aus.«
Sie verschluckte sich beinahe. »Wieso denn das? Gibt es Zoff?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie verstehen mich falsch. Er hat Inas Namen noch nie ausgesprochen, nie, niemals.«
»Bei Fischer wundert mich allmählich nichts mehr. Gibt es einen Grund für den seltsamen Tick?«
Sein Mund befand sich jetzt ganz nah an ihrem Ohr. »Man munkelt, Frau Schäfer gleiche seiner Ex.«
Fast hätte sie laut herausgelacht. »Danke«, flüsterte sie zurück, »dann ist ja alles klar. Ich glaube, mehr will ich gar nicht wissen.«
Die Antwort verwirrte ihn sichtlich. Er wollte sich enttäuscht entfernen, doch sie packte ihn am Ärmel.
»Warten Sie. Wie weit sind Sie mit der Befragung der Kollegen?«
»Die Befragung ist abgeschlossen. Die Protokolle liegen auf dem Server. Ich habe Ihnen den Link gemailt.«
Es erwies sich zwar als nicht so einfach, wie es sein sollte, aber nach einigen Fehlschlägen hatte sie die vielen Dokumente durchforstet und gefunden, was sie suchte. Oder eben nicht. Sie fragte Ina Schäfer nach dem fehlenden Protokoll.
»Weshalb sollten wir Tom befragen?«
»Weil Sie alle Kollegen befragen müssen, das wissen Sie.«
Ina zuckte mit den Achseln. »Ich sehe zwar nicht ein, wozu das gut sein soll«, murmelte sie, »aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Tom hatte an dem Abend dienstfrei.«
Hatte sie richtig verstanden? »Dienstfrei? Und trotzdem als Erster am Tatort?«
»Soll vorkommen«, entgegnete die Kollegin trocken. »Er war wohl gerade in der Gegend unterwegs, als der Alarm eintraf.«
Chris spürte, wie sich die Nackenhaare sträubten. Sie eilte ins improvisierte Büro und rief Uwe an. Es dauerte keine Stunde, bis sie Gewissheit hatte. Die BMW 900 RT mit dem auf Tom Fischer registrierten Kennzeichen war kurz vor der Tatzeit von einer Verkehrsüberwachungskamera in Aachen gefilmt worden.
KAPITEL 3
Köln
John Stein war fast durch mit der morgendlichen Zeitungslektüre, als er im 39. Stock des Kölnturms aus dem Lift trat. Sein erster Gang führte ihn wie jeden Morgen in die Küche zum Kaffeeautomaten. Beim Blick durch die Glaswände in die leeren Büros schmunzelte er zufrieden. Ein einziger Platz war besetzt. Seine Assistentin Greta Vogt saß an ihrem Pult mit der schönsten Aussicht auf den Kölner Dom, höher als dessen Glockenstuhl.
Auch das gehörte zum Ritual. Ihr Ehrgeiz gefiel ihm. Greta wollte hoch hinaus wie er. Sie war nicht nur eine brillante Marketingstrategin, sondern auch eine knallharte Geschäftsfrau. Wie jeden Morgen erhob sie sich sofort, als sie ihn erblickte, und folgte ihm in die Küche.
Die drei Küsschen zur Begrüßung bedeuteten ihm mehr als ihr. Für eine junge Frau wie Greta gehörte das einfach zum guten Umgangston in der Schickeria, zu der sie sich zu Recht zählte. Für den alternden Playboy John Stein mit den inflationären Krähenfüßen im Gesicht signalisierte die Berührung willkommene Wertschätzung. Zumindest bildete er sich das ein. Illusionen waren schließlich sein Geschäft, von dem er ganz gut lebte.
»Ich bin gespannt auf die Reaktion der Autolobby«, sagte sie.
Die Kaffeetasse in der Hand, lehnte sie lässig am Küchenschrank. Wie zufällig öffnete sich dabei der Seitenschlitz des Rocks und gab den Blick auf das feine Muster ihres Nahtstrumpfs frei. Er zwang sich, nicht hinzusehen und versuchte, sich zu erinnern, was sie gesagt hatte.
»Die Autolobby – du meinst den Krawall in Berlin? Ja, das wird unseren Kunden nicht gefallen.«
Sie nickte. »China wird die Importzölle nicht so schnell senken ohne Freihandelsabkommen.«
»Absolut, aber ich denke, unser Freund von der Lippe wird auch nicht so schnell aufgeben.«
Sie trank aus. Schmunzelnd spülte sie die Tasse und stellte sie aufs Abtropfbrett.
»Wetten, der taucht heute hier auf?«, sagte sie lachend beim Hinausgehen.
»Dr. von der Lippe«, meldete die Dame am Empfang eine Minute nach acht Uhr, dem offiziellen Arbeitsbeginn.
Das Erscheinen des Bereichsleiters ›Global External Affairs‹ vom Verband Deutscher Automobilindustrie war so sicher wie das Amen in der Kirche. Ein leichtes Kopfnicken genügte, um Greta herbeizurufen. Gemeinsam erwarteten sie den Stammkunden der PR-Agentur Stein im Sitzungszimmer. Die Aussicht auf einen fetten Deal war ebenso spektakulär wie die aus den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und vorgaben, gar nicht da zu sein. Der Eindruck, zu fliegen, trug nicht unwesentlich zum Erfolg seines Geschäfts bei, war er überzeugt. Die großen Verträge wurden stets in diesem luftigen, lichtdurchfluteten Glaskasten hoch über der Stadt abgeschlossen. Hier fühlte sich der Kunde schwerelos, abgehoben, genau richtig für die teuren Kampagnen.
»Horst, was für eine unerwartete Freude am frühen Morgen«, begrüßte er den Lobbyisten.
Von der Lippe gab beiden wortlos die Hand. Er wirkte nervös, verärgert. Small Talk war gestrichen an diesem Morgen. Dennoch versuchte John, die Stimmung aufzulockern.
»Ein Gläschen von deinem Speziellen?«, fragte er. »Du weißt, für dich halten wir immer eine Flasche auf Eis.«
Von der Lippe winkte ab. »Nee, lass mal, bin nicht in der Stimmung.«
Die Stimmung war das Problem, nicht die Tageszeit, die keine Rolle spielte beim Verkosten seines Lieblingssekts. Von der Lippe knallte die neue Ausgabe der Bild-Zeitung auf den Tisch. DAS VOLK SAGT NEIN!, bedeckte in fetten Lettern die halbe Frontseite. Bilder vom Massenauflauf vor dem Reichstag und von brennenden Autos zierten den Rest der Seite.
»Das ist unser verdammtes Todesurteil«, schimpfte er dabei. »Ihr wisst, wovon ich spreche.«
»Du glaubst doch sonst auch nicht, was in der Bild steht«, antwortete er lachend.
Er kannte Horst von der Lippe lange genug, um den lockeren Spruch zu wagen. Sein Klient schob das Kinn vor.
»Ich bin nicht für deine lahmen Scherze schon morgens um sieben im Stau gestanden, John. Meine Industrie hat ein Riesenproblem, wenn die Verhandlungen jetzt eingestellt werden. Es geht hier um Hunderttausende Arbeitsplätze. Das solltest du den Idioten da draußen mal klarmachen, denen die Engel das Hirn vernebelt hat.«
»Wir verstehen Ihre Sorge vollkommen, Herr von der Lippe«, lenkte Greta ein, »und wir nehmen sie ernst – wie immer.«
»Das will ich verdammt noch mal auch hoffen. Es geht schlicht um die Existenz der deutschen Automobilindustrie, Leute. 250 Milliarden Euro Umsatz stehen auf dem Spiel. Der Export in die USA stockt, Lateinamerika ist krank. Wir brauchen einen massiven Zuwachs in den asiatischen Märkten. Wir müssen China mit unseren Qualitätsprodukten überschwemmen, sonst geschieht bald das Umgekehrte.«
Er übertrieb gerne etwas, wenn es ums Wohl seines Arbeitgebers ging. Dennoch stimmte John ihm in diesem Fall zu. Er selbst reagierte wohl ähnlich, steckte er in dessen Haut. Es konnte nichts Gutes für die Automobilindustrie bedeuten, wenn die Regierung aus Angst vor den nächsten Wahlen nun den Schwanz einzog und die Hände in den Schoß legte nach dem Motto: Wer nichts tut, macht nichts falsch.
»Wir führen zwar die besten PR-Kampagnen durch«, sagte Greta mit schiefem Lächeln, »die Regierung umzustimmen, dürfte aber selbst uns schwerfallen.«
»Auch da muss ich leider zustimmen, Horst«, bekräftigte er Gretas Meinung. »Die Kampagne der Gegner jeglichen Freihandels und mit China insbesondere hat eine Eigendynamik erreicht, die kaum mehr zu stoppen ist.«
Von der Lippe sah ihn böse an. »Wollt ihr mich eigentlich loswerden oder einfach nur den Preis hochtreiben? Ihr müsst mir nicht erklären, wie schwierig das Unterfangen ist. Euer Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Stimmung im Volk kippt und die Gegner des Freihandels endlich ihre verfluchte Klappe halten. Schafft ihr das?«
Diese Entwicklung des Gesprächs war absehbar gewesen. Sie wussten beide genau, was sie darauf antworten mussten, legten aber eine Kunstpause ein, um der Antwort das nötige Gewicht zu verleihen. Schließlich sagte Greta mit ernstem Gesicht:
»Eine solche Kampagne wird dauern und dementsprechend teuer, Herr von der Lippe, und es gibt keine Erfolgsgarantie.«
»Den Scheiß höre ich jedes Mal«, gab er unwirsch zurück. »Bisher hat es stets geklappt, sonst säße ich jetzt nicht hier.«
»O. K., Horst«, sagte John nach einer weiteren Pause gedehnt. »Wir arbeiten eine Offerte aus. Zwei Varianten, wie üblich.«
»Es eilt!«
»Ich weiß, Horst. Trotzdem brauchen wir Zeit, um so eine große Sache seriös anzugehen. Wir dürfen uns keine Fehler leisten und du auch nicht. Die Stimmung im Volk ist äußerst aufgeheizt. Dein Kollege Scholz …«
»Scholz!«, unterbrach von der Lippe ärgerlich. »Man soll nicht schlecht über Tote reden, aber der hat nun wirklich alles verbockt, was man als Lobbyist verbocken kann. Wir hätten ihn schon viel früher aus dem Verkehr ziehen müssen.«
»Ihr werdet doch nicht …«
Er wagte den Gedanken nicht auszusprechen. Horst klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und brachte gar ein Grinsen zustande.
»Komm wieder runter, John. Wir sind doch nicht die Mafia.«
»Guten Tag, Phil«, grüßte das Sicherheitsschloss am Drehkreuz zur verbotenen Zone eine Etage unter John Steins Büro.
Außer dem Chef und seinem blonden Gift mit dem bösen Blick hatten nur er und Kollegin Leni Kraus Zugang. Leni saß im Cockpit vor der Wand aus großen Monitoren. Kein natürliches Licht störte die Arbeit in diesem ovalen Hochsicherheitsbereich im Kern der 38. Etage. Dennoch schimmerte Lenis rotes Haar und strahlte eine Wärme aus, die nicht zur unterkühlten Technik passen wollte, die sie umgab. Sie arbeiteten in einer künstlichen Gebärmutter, zwei verlorene Keimlinge. Ihm gefiel das. Sie sprang sofort auf, als er eintrat.
»Phil!«
Es war ihre gewohnte Art, ihn zu begrüßen, jeden Tag, freudig, als hätten sie sich lange nicht gesehen. Peinlich genau hielt sie den Abstand von einem Schritt ein, um ihm nicht die Luft abzuschneiden. Leni Kraus war nicht nur eine disziplinierte, zuverlässige Programmiererin. Leni war auch ein gutes Mädchen. Vielleicht sollte er ihr das eines Tages sagen. Wie gewohnt erwiderte er den Gruß mit freundlichem Kopfnicken. Der Sprechapparat blockierte, sobald sein Blick die Information auf den Bildschirmen erfasste. Ohne Anstrengung verschaffte er sich sofort den Überblick. Die News blendete er aus. Mehr als einige Schlagzeilen zu konsumieren lohnte sich nicht, da konnten die TV-Anstalten noch so viele Sondersendungen einschalten. Im Moment war einzig sein Projekt wichtig. Alles andere ging den gewohnten Gang, wie die Displays bestätigten.


