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»Wenigstens ein Lichtblick. Wie viele Fässer sind übrig geblieben?«
»Keines, fürchte ich.«
»Fürchten Sie oder wissen Sie?«
»Einige Fässer sind zwar noch als solche zu erkennen«, präzisierte der Ingenieur, »aber der Inhalt ist vollkommen vernichtet worden.«
Schröder konnte ein ironisches Grinsen nicht ganz unterdrücken. »Pyrotechnische Reinigung, sozusagen«, murmelte er. »Irgendwelche Hinweise auf die Täterschaft?«
»Jawohl, Herr Direktor«, rief Jansen zu seiner Verblüffung. »Die Polizei hat am Tor das Zeichen einer Gruppe militanter Umweltaktivisten sichergestellt, eine schwarze Sonnenblume. Die Gruppe nennt sich Gaia. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie und bedeutet soviel wie Erde.«
Die Neuigkeit raubte Schröder für einen Augenblick die Sprache. Über die Konsequenzen der Entdeckung musste er jedoch keine Sekunde nachdenken. Die grünen Spinner hätten ihm keinen größeren Gefallen erweisen können.
»Wissen Sie, Herr Jansen«, sagte er mit wohlwollendem Lächeln, »mir ist total schnuppe, woher das Wort Geige stammt, aber auch das hätte ohne Weiteres in Ihrem Bericht Platz gefunden. Jedenfalls scheint mir, die Polizei tappe doch nicht mehr ganz im Dunkeln.«
»Es gibt möglicherweise noch eine Spur«, sagte Jansen, der neuen Mut schöpfte. »Am Tatort ist ein verlassenes Auto sichergestellt worden, vielleicht das Fahrzeug des Täters.«
»Gut, sehr gut. Das kommt alles in Ihren Bericht. Hat man den Täter schon identifiziert?«
»Leider noch nicht«, antwortete Ingenieur Kolbe. »Die Polizei geht aber davon aus, dass es sich um zwei Täter handelt, wie wir unter der Hand vernommen haben. Ein Mann und eine Frau wahrscheinlich.«
»Das ist doch schon etwas, Leute.«
Im Grunde kam ihm jede Entwicklung gelegen, welche die Aufmerksamkeit vom Projekt weg lenkte. Der Betrieb musste weiterlaufen. Der materielle Verlust des Lagers war schmerzhaft aber nicht zu vergleichen mit dem Schaden, der bei einer längeren Unterbrechung entstünde. So gesehen sah es aus, als wären sie mit einem blauen Auge davongekommen.
»Da ist noch etwas, Chef«, sagte Kolbe.
Die Besorgnis in seiner Stimme war nicht zu überhören. Jansen schrumpfte um ein paar weitere Zentimeter, dass Schröder fürchtete, der junge Mann würde unter dem Tisch verschwinden.
»Es sind Dokumente aus dem Magazin verschwunden, Chef.«
Schröder spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten.
»Ich höre«, sagte er tonlos.
»Wir legen die Lieferscheine und Bohrprotokolle im Bürocontainer ab, bevor sie nach Leverkusen ins Archiv wandern«, erklärte Kolbe. »Ein Ordner mit sensitiven Daten ist nicht mehr auffindbar.«
»Vielleicht ist er verbrannt.«
»Unmöglich, das Feuer hat nicht auf den Container übergegriffen.«
Da war sie, die zweite Bombe, und sie detonierte mitten in seinem Sitzungszimmer. Gemüse aus Protest an Türen malen und Lagerhallen abfackeln war eine Sache, aber Betriebsgeheimnisse stehlen und womöglich veröffentlichen …
»Jetzt sind sie zu weit gegangen«, sagte er, stand auf und entschuldigte sich für einen Augenblick.
Außer Hörweite im Flur rief er seinen Mann für solche Fälle an.
»Wir haben ein Problem«, sagte er. »Die Freaks haben sensitive Dokumente mitlaufen lassen. Die dürfen auf keinen Fall an die Öffentlichkeit, sonst sind wir erledigt. Dann ist das schöne Projekt Geschichte. Also, was gedenkst du zu unternehmen?«
Die Stimme am andern Ende der Leitung klang erstaunlich zuversichtlich.
»Ich habe schon Lunte gerochen. Keine Sorge, Fabian, die kommen nicht weit mit den Papieren.«
»Du sprichst, als hättest du sie schon.«
»Ich habe einen Verdacht.«
»Sieh zu, dass er sich schnell erhärtet.«
Etwas optimistischer kehrte er ins Sitzungszimmer zurück. Sein Mann für besondere Aufgaben hatte ihn bisher noch nie enttäuscht – bisher.
»Keine Sorge, Leute, die Angelegenheit ist unter Kontrolle«, sagte er und schloss die Sitzung.
Der gläserne Turm des Verwaltungsgebäudes sollte wohl Transparenz und Macht des NAPHTAG Konzerns vermitteln und den Investoren Vertrauen einflößen. Emma ließ sich nicht beeindrucken. Alles Fassade, dachte sie, als sie die Empfangshalle betrat, die sich wie ein Atrium über fünf Stockwerke erstreckte. Die Angestellten am Empfang lächelten schon, als sie ein Anruf stoppte. Ihre Lebenspartnerin Maria hörte sich besorgt an.
»Du hast doch nichts mit dem Anschlag in Überlingen zu tun?«, fragte sie ohne Umschweife.
Emma dämpfte die Stimme und entfernte sich vom Empfangspult.
»Was fällt dir ein, Liebes. Du kennst mich doch.«
»Eben.«
»Jetzt ist ein ganz schlechter Zeitpunkt für Erklärungen. Ich bin gerade bei der NAPHTAG eingetroffen. Ich werde erwartet – vom obersten Boss persönlich. Das ist wichtig für meine Arbeit. Das verstehst du doch.«
»Du hörst dich allmählich an wie ein karrieregeiler Ehemann, dem die Arbeit wichtiger ist als die Familie.«
»Sei doch nicht gleich eingeschnappt. Du arbeitest auch fast rund um die Uhr in deiner Hexenküche.«
»Das nennt man Labor, und es ist eine wissenschaftliche Einrichtung, die nichts mit Hexerei zu tun hat. Nebenbei sind meine Kollegen gerade damit beschäftigt, Julian zu beschäftigen.«
Sie erschrak. »Wieso? Warum ist er nicht in der Kita?«
»Er hatte am Morgen leicht erhöhte Temperatur. Nichts Schlimmes, du kannst dich gleich wieder beruhigen. Es ist schon vorbei. Jetzt baut er mit seinen Holzklötzchen unser Labor nach.«
»Ich möchte ihm kurz Hallo sagen.«
Sie hörte, wie Maria mit dem Kleinen sprach, dann sagte sie lachend:
»Er lässt dir ausrichten, er sei jetzt bei der Arbeit und habe keine Zeit. Ich soll dich ganz lieb grüßen.«
Der Junge war erst fünf. Gab es womöglich doch ein Problem mit ihrem Lebenswandel als freie Journalistin?
»Du bist also bei der NAPHTAG«, sagte Maria.
»Ja, und ich muss jetzt …«
»Sei vorsichtig. Du betrittst die Höhle des Löwen. Das ist dir hoffentlich bewusst.«
Die Höhle eines Löwen wäre möglicherweise weniger gefährlich als die Teppichetage in diesem Turm, dachte sie, denn was sie mit dem Vorstandsvorsitzenden zu besprechen hatte, würde ihm kaum Freude bereiten. Nach dem Anschlag am Bodensee dürften die Nerven in der Konzernleitung ohnehin blank liegen, nahm sie an.
»Frau Kaiser?«, sagte eine angenehme Altstimme.
Die Dame aus dem Vorzimmer des obersten Chefs grüßte zuvorkommend, als ginge es um einen wichtigen Geschäftstermin. Vielleicht stimmte das auch.
»Ich bringe sie zu Dr. Wolf. Bitte folgen Sie mir.«
Der Small Talk im Aufzug verlief ebenso makellos unaufdringlich, wie die Vorzimmerdame zurechtgemacht war. Emma kontrollierte heimlich ihr Äußeres im Spiegel, strich die Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich andauernd selbstständig machte, und zupfte den Rock glatt, um wenigstens optisch nicht abzufallen gegenüber Dr. Wolfs Vorzimmer. Die Dame geleitete sie in einen mit teuren, weißen Polstersesseln ausgestatteten Raum. Die Fensterfront bot ein spektakuläres Panorama der Stadt Leverkusen, das der Sky Lounge eines Fünf-Sterne-Hotels wohl angestanden hätte.
»Herr Dr. Wolf wird Sie gleich empfangen«, sagte die Vorzimmerdame. »Darf ich Ihnen etwas anbieten, Kaffee, Wasser?«
Sie begnügte sich mit Wasser und versuchte, sich aufs bevorstehende Interview zu konzentrieren. Es fiel nicht leicht in dieser Umgebung, wo alles drauf angelegt war, den Besucher durch Luxus und zur Schau gestellte Effizienz zu beeindrucken oder gar einzuschüchtern. Sie kannte solche Tempel, wo große Geschäfte abgeschlossen und eiskalte Intrigen ersonnen werden, von vielen Interviews in Banken, Versicherungen und Anwaltskanzleien. Sie selbst war keine Unbekannte in diesen Kreisen. Dennoch grenzte es an ein kleines Wunder, beim ersten Versuch vom großen Vorsitzenden persönlich empfangen zu werden. Sie kannte sein Gesicht aus Zeitungsartikeln und dem Geschäftsbericht. Der Mann, der auf sie zutrat, war allerdings einen Kopf kleiner, als sie sich vorgestellt hatte.
»Frau Kaiser, entschuldigen Sie die Verzögerung. Ein Anruf in letzter Minute, Sie wissen schon …«
Sie gab ihm lächelnd die Hand und ging dabei leicht in die Knie, um die hohen Absätze zu kompensieren.
»Ich bin froh, dass Sie so schnell Zeit für mich gefunden haben.«
»Ist doch selbstverständlich«, wehrte er ab. »Öffentlichkeitsarbeit überlasse ich nicht ausschließlich der Presseabteilung, und Sie sind schließlich keine Unbekannte in Ihrem Beruf, habe ich mir sagen lassen.«
Er führte sie in sein Büro, größer als Lounge und Vorzimmer zusammen, mit Glaswänden auf zwei Seiten.
»Ich hoffe, man hat Sie nicht falsch über mich orientiert.«
Damit beendete sie die unverbindlichen Höflichkeiten und kam zur Sache.
»Wie ich telefonisch angekündigt habe, arbeite ich seit einiger Zeit an einem umfassenden Bericht über Fracking Vorhaben in Deutschland. Ihr Konzern ist maßgeblich an der Erschließung solcher Erdgasvorkommen beteiligt, die vor allem in grünen und linken Kreisen der Bundesrepublik mit großer Skepsis verfolgt wird.«
Dr. Wolf lächelte wie ein gutmütiger Vater, der seiner Tochter zum x-ten Mal geduldig erklärt, weshalb sie nicht mehr Taschengeld erhält.
»Sie drücken das sehr milde aus«, sagte er. »In Wahrheit haben uns gewisse Kreise den Krieg erklärt.«
»Der Anschlag.«
Er nickte. Seine Betroffenheit wirkte echt.
»Gibt es schon Hinweise auf die Täterschaft?«
»Die Ermittlungen laufen.«
»Es ist ein unglücklicher Zufall, dass wir uns ausgerechnet kurz nach dem Anschlag auf das Versuchsgelände am Bodensee zum Thema Fra-cking unterhalten.«
»Ist es das?«, fragte er mit ironischem Lächeln. »Gibt es so etwas wie Zufälle bei Ihren Recherchen?«
»Oh ja, mehr als mir lieb ist, aber lassen Sie uns über die neue Art der Erdgasförderung sprechen. Rohstoffe vor der eigenen Haustür betrachten Sie als ein enorm wichtiger Schritt in die Zukunft. Stimmt dieser Eindruck?«
Der Steilpass behagte ihm. Er bejahte entschieden und begründete die Strategie wortreich. Sie gab vor, eifrig Notizen zu machen, doch ebenso gut hätte sie die entsprechenden Abschnitte aus dem Geschäftsbericht abschreiben können. Ihre dreißig Minuten waren beinahe um, als sie endlich Gelegenheit bekam, zum Angriff überzugehen.
»Ich entnehme den Ertragszahlen in Ihrem letzten Geschäftsbericht, dass die unsichere politische Lage im Nahen Osten und die Spannungen mit Russland Anlass zu großer Sorge für die petrochemische Industrie hierzulande sind«, stellte sie fest. »Das bedeutet doch, dass der Konzern unter großem Druck steht, alternative Rohstoffquellen wie Fracking zu erschließen. Stimmen Sie dem zu?«
Er versuchte, die Tatsache zu verharmlosen, doch die etwas herablassende Haltung wirkte nicht mehr so überzeugend wie bei ihrer Ankunft. Sie ließ nicht locker:
»Der Konzern wird also mit allen Mitteln versuchen, das Fracking Projekt Kranich zum Erfolg zu führen.«
Die Behauptung machte ihn für kurze Zeit sprachlos.
»Unterstellen Sie uns unlautere Methoden?«, fragte er schließlich verärgert. »Ist es das, worauf Sie hinaus wollen?«
»Ich unterstelle Ihnen gar nichts, aber wie würden Sie die Aussagen in diesem Bericht deuten?«
Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Sie schob ihm zwei Kopien über den Tisch. Die kritischen Stellen waren gelb markiert.
»Diese Seiten stammen aus einem Bericht an die Kranich Projektleitung«, bemerkte sie dazu.
Er reagierte erstaunt. Nach sorgfältiger Lektüre fragte er mit kaum unterdrückter Erregung:
»Woher haben Sie das?«
Sie war nicht psychologisch geschult, aber die Erfahrung sagte ihr, dass der Vorstandsvorsitzende der NAPHTAG diesen Bericht nicht kannte. Noch etwas schloss sie aus seiner Reaktion: Die Angaben im Bericht entsprachen höchst wahrscheinlich den Tatsachen. Dr. Wolf fiel es schwer, Haltung zu bewahren. Nur mit Mühe gelang ihm, zur alten Selbstsicherheit zurückzufinden. Er blickte auf die Uhr und erhob sich abrupt.
»Der nächste Termin«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich muss unser Gespräch leider abbrechen. Sie entschuldigen mich.«
Er verabschiedete sie hastig. Sie stand schon an der Tür, als er die zwei Blätter hochhob und rief:
»Ich glaube, Sie haben etwas vergessen.«
»Die Kopien sind für Sie«, antwortete sie lächelnd und zog die Tür hinter sich zu.
Sie fiel nicht ins Schloss, sodass sie unabsichtlich Zeugin eines sehr erregten Telefongesprächs wurde. Sie konnte nicht ermitteln, wen er anrief, aber das Wort Industriespionage fiel mehrfach. Wie sie angenommen hatte, war sie der Konzernleitung gehörig auf die Zehen getreten.
Fabian Schröder war nicht erbaut. Was sein Vertrauter ihm am Telefon aus Konstanz berichtete, eignete sich nicht, ihn zu beruhigen.
»Ich dachte, die Polizei hätte diese Gruppe Gaia längst kassiert«, sagte er ärgerlich.
»So einfach ist das nicht. Man weiß zwar, dass die Gruppe existiert, aber die Mitglieder sind nicht bekannt, behauptet jedenfalls meine Quelle.«
»Ich frage mich, welche Schlafpillen unsere Behörden einwerfen. Die müssten ein verdammtes Vermögen wert sein auf dem freien Markt.«
Der Mann am andern Ende der Leitung lachte schallend.
»Schon möglich«, sagte er, »aber sieh es mal positiv. Solang die Bullen den Laden nicht hochgehen lassen, sind unsere Chancen intakt, die verschwundenen Papiere vorher sicherzustellen.«
»Ich glaube nicht, dass mich das beruhigt.«
»Sollte es aber. Im Übrigen gehe ich nicht davon aus, dass die Umweltfreaks die Papiere haben. Der Inhalt wäre sofort im Internet aufgetaucht. Ist er aber nicht. Nee, mein Lieber, ich glaube, der zweite Täter, oder besser: die Täterin, hat die Dokumente und will sie womöglich zu Geld machen.«
Es klopfte an der Tür.
»Was du glaubst, ist mir so was von egal«, sagte er hastig. »Finde das Material, und zwar gestern. Ich muss Schluss machen.«
Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel.
»Herein!«
Ingenieur Kolbe trat ein, Sorgenfalten auf der Stirn wie häufig in letzter Zeit. Gleichzeitig summte das Telefon. Er drückte auf die Besetzt-Taste, um den Anruf an die Sekretärin umzuleiten. Das ›Bilaterale‹, die Lagebesprechung mit seinem Versuchsleiter, hatte höchste Priorität.
»Sie bringen keine guten Nachrichten, stimmt‘s? Setzen Sie sich.«
»Wir brauchen jetzt sofort Nachschub, Chef. Ohne den Zusatz fördern wir höchstens Wasserdampf. Wenn wir nicht sofort etwas unter-nehmen, fällt der Druck zusammen, und wir können nochmals von vorne beginnen. Das Magazin sagt mir, Sie hätten die Lieferung gestoppt.«
Kolbe war ein Mann der klaren Worte.
Schröder nickte. »Und das mit gutem Grund.«
»Aber – so kann ich nicht arbeiten. Das gefährdet das ganze Projekt.«
»Immer mit der Ruhe. Ich habe die Lieferung gestoppt, weil ich nach dem Brand im Lager keine Chemikalien mehr vor Ort dulde. Sie haben sich doch selbst über die dauernde Schnüffelei der Polizei am Tatort beklagt. Wir können es uns nicht leisten, dass die sich am Ende noch für unsere Betriebsgeheimnisse interessiert.«
Kolbe brauchte nicht lang über die Erklärung nachzudenken.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Entweder mischen wir vor Ort wie bisher oder hier am Produktionsstandort. Dann benötigen wir allerdings Spezialtransporter.«
Schröder nickte lächelnd. Kolbe war der richtige Mann für den Job.
»Ich habe es bereits in die Wege geleitet«, bestätigte er.
»Das führt zu erheblichen Mehrkosten, Chef.«
»Darum müssen Sie sich nicht kümmern. Überdies bezahlt die Versicherung für den Ersatz des Lagers. Wir werden die Mittel kreativ umleiten.«
»Verstehe.«
Kolbe erlaubte sich zum ersten Mal seit Langem eine Art Grinsen, bis ihm das nächste Problem einfiel. Er stieß einen halb unterdrückten Fluch aus und sagte:
»Wir müssen den Bericht zurückhalten. Der liest sich, als wären der Wiederaufbau des Lagers und die neue Lieferung beschlossene Sache.«
Die Bemerkung wirkte wie ein Faustschlag in die Magengrube. Schröder begriff sofort, was sein Ingenieur meinte. Von diesem Bericht ging automatisch eine Kopie an die Konzernleitung. Er hatte bisher stets peinlich darauf geachtet, keine technischen Einzelheiten darin zu erwähnen. Wenn nun plötzlich neue Details über die Fördermethode in seinem Bericht auftauchten, führte dies zu unangenehmen und vor allem überflüssigen Fragen. Gerade jetzt konnte er sich keinen Klecks im Heft leisten. Finn Matthes, der den Steuerungsausschuss leitete, würde ausrasten, falls ihn seine Vorstandskollegen damit bedrängten. Schröder starrte Kolbe an, als wartete er auf die Lösung des Problems.
»Der Bericht sollte in Ihrer Mail sein«, sagte der Ingenieur zu allem Überfluss.
Er hatte seinen Posteingang noch nicht geleert.
»Gut, ich kümmere mich darum«, murmelte er. »War‘s das? Sind wir fertig?«
Sobald Kolbe das Büro verlassen hatte, setzte er sich an den Computer. Die Betreffzeile der Mail mit dem angehängten Bericht sprang ihm sofort in die Augen. Wie befürchtet, war sie auch ans Sekretariat des Vorstands adressiert. Wie holt man eine verdammte E-Mail zurück? Er fluchte ausgiebig, bevor er die Sekretärin rief. Sie war noch jung genug, sich besser mit Computern auszukennen.
»Warum wollen Sie die Mail zurückholen?«, fragte sie zu seiner Überraschung, nachdem er ihr das Problem geschildert hatte.
»Der Bericht darf so nicht zum Vorstand.«
»Das habe ich schon verstanden. Die Mail geht aber nur ans Sekretariat. Dort wird der Bericht ausgedruckt und in Papierform verteilt. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
Kaum hatte sie es gesagt, hetzte er aus dem Büro, in den Aufzug und stand fünf Minuten später schwer atmend im Sekretariat.
»Suchen Sie so dringend eine neue Sekretärin, Schröder?«, fragte Finanzvorstand Matthes, der unbemerkt hinter ihm eingetreten war.
Er quittierte den Scherz mit dem erwarteten Lacher, obwohl ihm zum Kotzen war. Die Kopien des Berichts lagen gut sichtbar im Korb für den Postausgang. Mit angehaltenem Atem verfolgte er das kurze Gespräch des Finanzvorstands mit seinem Vorzimmer, vergeblich nach einer Strategie suchend, wie er die Zeitbombe von Matthes fernhalten könnte. Der Finanzvorstand schickte sich an, den Raum ohne Bericht zu verlassen.
»Wollten Sie zu mir?«
Schröder schüttelte stumm den Kopf.
»Es läuft doch alles wieder rund am Bodensee?«
»Selbstverständlich. Kleine Verzögerung, kein Problem.«
»Die Versicherung macht keine Schwierigkeiten?«
»Sie haben Zahlungsbereitschaft signalisiert.« Es gelang ihm, ein selbstsicheres Lächeln zu simulieren. »Die haben ja gar keine Wahl nach dem eindeutigen Polizeirapport.«
Matthes deutete ein Nicken an und verließ den Raum. Nachdem Schröder sich versichert hatte, dass noch keine Kopie im Umlauf war, ordnete er an, die gedruckten Exemplare zu vernichten und die E-Mail zu löschen.
»Ein Irrläufer«, bemerkte er dazu. »So ersparen wir uns allen eine Menge Ärger. Sie werden den korrekten Bericht umgehend erhalten.«
Im Flur wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn.
BERLIN
Die Anzeige des British Airways Fluges nach London blinkte.
»Es wird Zeit«, seufzte Chris.
Sie schlang die Arme um ihren Geliebten und presste sich an seine Brust, als könnte sie so einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie eignete sich ebenso wenig für solche Szenen wie Jamie. Dr. Jamie Roberts ließ ihre stürmische Umarmung über sich ergehen, wie man es von einem steifen Engländer erwartete. Dabei drückte sein Gesicht eine Art Betroffenheit aus, die kaum zu beschreiben war, irgendwo in der Mitte zwischen Wollust und Weltschmerz. Für diesen Gesichtsausdruck allein würde sie ihn jederzeit wieder heiraten, wäre sie nicht schon seine Frau.
»Sind ja nur drei Monate, Mrs. Roberts«, versuchte er zu scherzen.
»Ich vermisse dich jetzt schon«, klagte sie seiner Schulter.
Warum fiel ihr der Abschied diesmal so schwer? Sie beide besaßen jahrelange Übung im Getrenntsein. Damals während ihrer Fernbeziehung waren sie Dauergäste in den Terminals von Frankfurt und Heathrow gewesen. Abschied und Wiedersehen gehörten zum ganz normalen Wahnsinn des Alltags. Seit sie verheiratet waren, galten andere Naturgesetze. Drei Monate allein im großen Haus in Dahlem, wo alles an ihn erinnerte: Ihr graute schon jetzt davor.
»Du wirst keine Zeit finden, mich zu vermissen«, murmelte er. »Die schweren Jungs werden dich Tag und Nacht beschäftigen.«
Der Einwand war nicht von der Hand zu weisen. Als Hauptkommissarin beim Bundeskriminalamt war sie oft selbst Tage und Wochen weg von zu Hause. So gesehen sorgten seine drei Monate in London für ausgleichende Gerechtigkeit.
Am Ausgang zum Gate küssten sie sich ein letztes Mal.
»Fast wie früher«, sagte er mit verlegenem Grinsen.
»Lass dich nicht entführen«, gab sie ihm mit auf den Weg.
Sie stand ihm in nichts nach, was müde Scherze betraf. Kaum saß sie im Auto, klingelte das Telefon.
»Wo sind Sie?«, fragte Staatsanwältin Winter aufgelöst, als wäre sie dem BKA abhandengekommen.
»Auf dem Weg ins Büro.«
»Sie haben den Termin um 14 Uhr nicht vergessen, hoffe ich.«
»Ich werde pünktlich da sein, sofern mich keine Streife aufhält.«
Man darf doch wohl seinen Mann zum Flughafen bringen zwischen zwei Fällen, wollte sie hinzufügen, verzichtete jedoch darauf, da die Winter ihre Art Humor nicht kapierte.
Der Duft, der von Haases Büro ausströmte, war zu verlockend, um daran vorbeizugehen. Sie kam fünf Minuten zu spät, aber ein Espresso von der frisch gemahlenen Arabica Mischung ihres Kollegen musste erlaubt sein.
»Die Winter war schon da«, sagte Haase schmunzelnd, »hat ganz aufgeregt nach Ihnen gefragt. Sie haben nicht etwa Geburtstag oder so?«
»Ich glaube nicht.«
Mit der Tasse in der Hand betrat sie das Büro der Staatsanwältin. Beim Duft von Haases Kaffee ertrug sie die pathologische Atmosphäre in diesem Raum besser.
»Da sind Sie ja endlich«, rief Dr. Winter und sprang auf.
Sie war nicht allein. Das Profil des älteren Herrn im Maßanzug war nicht zu verwechseln. Generalstaatsanwalt Dr. Hendrik Richter trat lächelnd auf sie zu.
»Erfrischend und eigensinnig wie eh und je«, sagte er und begrüßte sie mit Küsschen auf die Wangen.
Staatsanwältin Winter sah mit säuerlicher Miene zu.
»Ich denke, wir sind uns soweit einig«, meinte sie.
Richter nickte. »Wir werden Sie selbstverständlich auf dem Laufenden halten. Danke, dass wir Ihr Büro benutzen dürfen.«
»Keine Ursache. Wie gesagt, ich muss mich jetzt leider entschuldigen.«
Damit verließ sie ihr Reich.
»Was war denn das?«, fragte sie den Herrn, den sie Hendrik nannte, seit er mehr oder weniger zufällig ihr Trauzeuge geworden war. »Was verschlägt dich nach Berlin?«
»Zwei Fragen, eine Antwort«, sagte er lächelnd, »aber erst will ich wissen, wie es um die junge Ehe steht.«
»Jamie hat mich heute verlassen.«
Sein betroffener Gesichtsausdruck erinnerte stark an ihren Ehemann.
»Nicht was du denkst«, beruhigte sie lachend. »Er leitet ein Seminar am Imperial College für drei Monate.«
»Dein Humor wird dich eines Tages in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.«
»Ich liebe Schwierigkeiten. Das weißt du.«
»Genau deswegen bin ich hergekommen.«
»Also doch mehr als ein Höflichkeitsbesuch.«
Er gab ihr die magersüchtige Akte, die auf dem Schreibtisch lag, mit der Bemerkung:
»Vielleicht hast du schon davon gehört.«
Misstrauisch überflog sie die wenigen Blätter, während sie versuchte, Richters Hintergedanken zu erraten.
»Ziemlich mager, der Bericht«, sagte sie einigermaßen ratlos. »Ein Sprengstoffanschlag auf ein Fracking Versuchsgelände, militante Umweltaktivisten, die niemand zu kennen scheint – muss mich der Fall interessieren?«
»Bei Sprengstoffanschlägen ermittelt der Bund.«
»Das ist mir bekannt. Dafür gibt es Sprengstoffexperten. Ich gehöre nicht dazu, wie du weißt.«