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Er nahm den Einwand schmunzelnd zur Kenntnis.
»Ich glaube, du hast längst begriffen, weshalb ich auf den Gedanken gekommen bin, dir den Fall zu übertragen.«
»Ach darüber seid ihr euch einig, du und die Winter. Na, wenn das so ist, bleibt mir nur noch, mich artig zu bedanken.«
»Es ist noch gar nichts entschieden. Ich habe nur vorsondiert …«
»Das hörte sich eben noch ganz anders an.«
Hinter ihrem Rücken über sie zu bestimmen, verzieh sie auch Hendrik nicht. Ihr Blick gab ihm zu verstehen, wie ernst ihr Protest gemeint war. Er hob beschwichtigend die Hand.
»Entschuldige, Chris, ich habe wirklich nur über die Möglichkeit eines Einsatzes am Bodensee gesprochen. Betrachten wir doch mal nüchtern die Fakten. Der Anschlag galt einem Unternehmen, das Umweltschützer und militante Aktivisten bundesweit bekämpfen. Bisher ist es bei Schmierereien und geringfügigem Sachschaden geblieben, aber jetzt sind diese Kreise mit dem Sprengstoffanschlag entschieden zu weit gegangen. Machen wir uns nichts vor: Die Petrochemie hat eine starke Lobby in diesem Land. Die Industrie wird nicht zögern, ihren Einfluss auf Politik und unsere Behörde geltend zu machen.«
»Was der NAPHTAG Konzern sicher schon getan hat, stimmt‘s?«
»Beck hat so etwas angedeutet.«
»Beck?«
»Der Aufsichtsratsvorsitzende der NAPHTAG. Wir sind alte Bekannte.«
»Die alten Seilschaften. Daher also weht der Wind.«
Er hob lachend den Zeigefinger. »Nur nicht frech werden, Frau Hauptkommissarin.«
Beck war der Grund für sein Interesse an diesem Fall. Sie zweifelte keinen Augenblick daran.
»Jetzt mal im Ernst«, fuhr er weiter, »ein Sprengstoffanschlag ist ein schweres Delikt, zumal es Verletzte gab. Das allein erfordert unsern vol-len Einsatz. Mir geht es aber noch um etwas anderes. Hast du dich nicht auch sofort gefragt, weshalb die Täter gerade dort mit extremer Gewalt zugeschlagen haben?«
»Weil die NAPHTAG da bohrt?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich vermute, es gibt einen anderen Grund. Sicher, ein einheimischer Konzern wie die NAPHTAG ist immer ein gefundenes Fressen, aber die bohren auch an der Ostsee. Das Motiv der Täter muss irgendwie direkt mit der Versuchsanlage bei Überlingen zu tun haben.«
»Verschmutzung des Grundwassers, illegale Bohrungen, so etwas?«
»Möglich.«
»Dein alter Freund Beck wäre aber gar nicht begeistert, falls wir so eine Schweinerei entdecken würden.«
Er winkte ärgerlich ab. »Mir selbst würde es ganz und gar nicht gefallen, vom juristischen Standpunkt aus. Im Übrigen sind wir nicht befreundet. Ich kenne Beck aus alten Zeiten an der Uni. Das ist alles.«
»Umweltverschmutzung, Verstoß gegen Auflagen beim Abbau von Rohstoffen: Nicht gerade mein Zuständigkeitsbereich«, erwiderte sie trotzig.
»Ich sehe das etwas anders. Beim Fracking geht es um Geologie und Petrochemie. Du bist die einzige Kommissarin mit Hochschulabschluss in Geologie und Chemie beim BKA. Wenn jemand dieser Sache auf den Grund gehen kann, dann du.«
Die Chemie der Erdkruste, die sie studiert hatte, war zwar meilenweit von der Petrochemie, der Wissenschaft des Erdöls, entfernt, aber der Fall begann sie zu interessieren. Nach kurzer Denkpause sagte sie lächelnd:
»Es muss ja nicht immer Mord und Totschlag sein.«
»Oh, da kann ich dich beruhigen. Der Fall könnte durchaus in Mord und Totschlag ausarten. Der Hauptverdächtige ist nämlich seit dem Anschlag wie vom Erdboden verschwunden.«
»Das überzeugt mich natürlich sofort.«
Richters Team hatte wie erwartet Kontakte und Formalitäten für ihren Einsatz am Bodensee bis in alle Einzelheiten vorbereitet. Hendrik brauchte nur noch auf den Knopf zu drücken, nachdem sie sich geeinigt hatten.
Sie stand abends im stillen Haus in Dahlem vor der leeren Reisetasche und dachte an Jamie. Ein anonymes Hotelzimmer in Konstanz statt ihres einsamen Hauses – warum nicht? Vielleicht würde die Luftveränderung über die Trennung hinweghelfen. Sie packte wahllos Wäsche und Kleidung in die Tasche, legte die Ersatzmagazine für ihre Glock aus dem Waffenschrank dazu und verließ das Haus mit Tasche und Instrumentenkoffer. Lieber eine Nacht im Auto als allein in diesem Schlafzimmer, dachte sie und startete den Motor.
KAPITEL 2
KONSTANZ
Der süße Duft frischgebackenen Brotes stieg Chris in die Nase. Sie lag schon eine Weile wach im Zimmer über der Bäckerei, obwohl sie erst gegen zwei Uhr morgens ins Bett gekrochen war. Die Altstadt erwachte früh. Sie hörte durchs halb offene Fenster Passanten miteinander schwatzen und lachen, als freuten sie sich, zu dieser gottlos frühen Stunde unterwegs zu sein. Bevor sie ins Bad ging, schaltete sie den Laptop ein. Die Verbindung mit Berlin klappte auf Anhieb. Wenigstens ein Lichtblick an diesem Morgen. Die Dusche spülte den Schlaf in den Ausguss mit der Folge, dass sie im Wachzustand jeden einzelnen Knochen zu spüren glaubte. Sie hatte die lange Fahrt an den Bodensee unterschätzt. Vielleicht war es auch nur das Alter. Die Vierzig stand schon auf der Anzeigetafel, ganz unten zwar, aber immerhin: vierzig, Halt auf Verlangen. Vielleicht rebellierte ihr Körper gegen die hellwachen Leute auf der Gasse, das geschäftige Treiben im Laden unter ihrem Fenster oder den Lärm der Möwen. An diesem Morgen ging ihr so ziemlich alles auf den Geist – keine ideale Voraussetzung für die erste Begegnung mit der Konstanzer Kripo. Die Kollegen auf dem Polizei-präsidium taten ihr jetzt schon leid.
Sie klappte den Instrumentenkoffer auf, betrachtete ihr Altsaxofon unschlüssig und schloss den Koffer wieder. Ein paar Blues Riffs wirkten oft Wunder – nicht an diesem Morgen. Zu unmotiviert, ihr langes, strohblondes Haar zum Zopf zu flechten, band sie es rasch zum Pferdeschwanz zusammen. So sah es eher nach Tatendrang aus.
Der Computer kündigte neue Mail an. Die Betreffzeile entlockte ihr das erste Schmunzeln an diesem traurigen Tag. Munition hatte Jens Haase seine Mail betitelt, die ausgedruckt einen ansehnlichen Ordner gefüllt hätte. Haase vereinigte drei Eigenschaften, die ihn als Kollegen unentbehrlich machten. Er verbrachte gefühlte vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche im Büro, erledigte seine Recherchen ebenso schnell wie gründlich, und er braute den besten Kaffee, den sie je gekostet hatte.
Die Munition für den Einsatz in Konstanz umfasste nicht nur die Berichte des Kommissars Rappold, der die Ermittlungen vor Ort leitete. Haase hatte zudem eine intelligente Auswahl an Fachartikeln zur Fracking Technologie beigefügt und nicht vergessen, die häufigsten Argumente für und wider diese Fördermethode auf einem Blatt zusammenzufassen. Die Information stellte ein hilfreiches Repetitorium für sie dar. Die Zeit des Studiums lag doch schon einige Jahre zurück. Das Material über den NAPHTAG Konzern barg echten Sprengstoff. Sie fragte sich, wie Haase so schnell an die sensitive Information gelangt war, zweifelte aber keinen Augenblick am Wahrheitsgehalt. Nach diesen Unterlagen fanden die Testbohrungen bei Überlingen am falschen Ort statt. Das Fracking Projekt mit dem Namen Kranich – welch absurder Euphemismus, intakte Natur vorgaukelnd – war ursprünglich auf dem Gelände eines Klosterguts geplant gewesen. Da der Konzern sich nicht mit den Verantwortlichen des Klosters Mariafeld einigen konnte, hatte man die Versuchsanlage kurzerhand im hügeligen Gelände eines Nachbargrundstücks aufgebaut. Der Zugang zu den Schiefergas-Schichten gestaltete sich dadurch wesentlich komplizierter und erforderte längere, heikle Horizontalbohrungen. Diese Tatsache mochte für den Fall irrelevant sein, doch ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes. Der Gedanke war jedenfalls notiert.
Die Hintergrundinformationen über die Gruppe Gaia beschränkten sich auf Gerüchte. Haase hatte dennoch mehr über die Umweltaktivisten zusammengetragen als die Kollegen in Konstanz. Es gab Hinweise, dass sich die Gruppe aus Studenten und Ehemaligen der Uni zusammensetzte. Der Hauptverdächtige hieß Thorsten Kramer. Ihm gehörte das sichergestellte Auto. Sein Name tauchte indessen in keinem Polizeibericht auf. Eine gute Frage als Einstieg, dachte sie, klappte den Laptop zu, schob ihn in die Tasche und verließ das Hotel.
Die Sekretärin im Präsidium führte sie an einen leeren Schreibtisch.
»Sind Sie sicher, dass Kommissar Rappold noch hier arbeitet?«, fragte sie.
Der junge Mann in der dunklen Ecke des Büros kugelte sich vor Lachen.
»Das ist sein Arbeitsplatz«, antwortete die Sekretärin schnippisch.
»Sieht nicht nach Arbeit aus. Wo steckt er?«
Der junge Mann fand auch das enorm lustig. Er stellte sich als Kommissaranwärter Hinz »wie Kunz« vor und beantwortete ihre Frage:
»Rappold ist beim Zahnarzt – Notfall.«
»Mein Beileid. Und Sie sind sein Stellvertreter?«
Der dritte Lacher erstarb abrupt, als sie ihm den Dienstausweis zeigte. Er mutierte binnen Sekunden vom Scherzkeks zum dienstbeflissenen Assistenten.
»Ich rufe ihn auf dem Handy an«, sagte er, das Telefon am Ohr. Nach einer Weile gab er auf. »Anrufbeantworter.«
Sie steuerte auf einen zweiten verlassenen Schreibtisch zu.
»Arbeitet hier auch ein unsichtbarer Kollege?«
Hinz drohte rückfällig zu werden.
»Nein – den – der ist frei«, stammelte er. »Wir sind etwas unterdotiert, was das Personal betrifft, dafür gibt‘s jede Menge freie Schreibtische.«
Der junge Mann besaß auch Humor. Das war ihr ein freundliches Lächeln wert.
»Kommissar Rappold sollte eigentlich schon zurück sein«, sagte er. »Ich kann Ihnen inzwischen die Akte zum Fall Überlingen heraussuchen.«
Er blickte sie erwartungsvoll an oder eher ihren Hintern in den engen Jeans, wie sie aus den Augenwinkeln feststellte.
»Wenn Sie mir dann die Akte geben könnten, sobald sie sich sattgesehen haben …«
Im nächsten Augenblick lag die Mappe auf ihrem Tisch. Zu verlegen für eine Antwort, eilte Hinz hinaus. Nach wenigen Minuten kehrte er mit einem älteren Herrn im Schlepptau zurück, der eindeutig zu viel Kohlenhydrate konsumierte. Seinen Schmerbauch zu bewegen, erforderte sichtbaren Kraftaufwand. Er ließ sich schwer atmend in den Sessel am leeren Schreibtisch fallen. Umständlich betastete er den Kiefer und brummte dabei Unverständliches. Verwünschungen, die sich gegen den Zahnarzt oder Zahnärzte im Allgemeinen richteten, nahm sie an. Er schien sie erst zu bemerken, als sie auf ihn zutrat.
»Sie müssen Kommissar Rappold sein«, sagte sie und stellte sich vor.
»So – muss ich?«
Noch ein Scherzkeks.
»Meinetwegen können Sie den Osterhasen spielen, aber wir müssen uns über den Fall Überlingen unterhalten. Und fragen Sie jetzt nicht: So – müssen wir?«
Ihr Ärger prallte an ihm ab, als säße er in einer Blase ohne Verbindung zur Außenwelt.
»Wir müssen nämlich«, fuhr sie fort, »ob es Ihnen passt oder nicht. Also lassen wir die Spielchen und kümmern uns um den Fall, einverstanden?«
Er bewegte sich, setzte sich aufrecht und öffnete die oberste Schublade des Schreibtisches. Sehnte er sich heimlich nach einer Domina? Ihr fehlte im Grunde nur die neunschwänzige Katze.
»Sie haben den Bericht sicher schon gelesen«, sagte er, wobei er sich demonstrativ den Kiefer rieb.
»Tut‘s weh?«, fragte sie lächelnd.
Der Kommissaranwärter in der dunklen Ecke musste sich abwenden.
»Ich bin im Bilde über den Stand der Ermittlungen. Allerdings vermisse ich die Vernehmungsprotokolle der beiden Verletzten.«
»Einer liegt noch im Koma. Der Zweite kann erst seit gestern Abend vernommen werden.«
»Und – was sagt er?«
»Gar nichts. Die Vernehmung ist für heute geplant.«
Sie traute ihren Ohren nicht.
»Ach, Sie planen die Vernehmungen langfristig«, brauste sie auf. »Warum nicht erst am nächsten Freitag?« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Mensch, Rappold! Der Verletzte ist der vorläufig einzige Zeuge in einem Sprengstoffanschlag! Der Hauptverdächtige läuft da draußen frei herum. Wer weiß, wie viel von dem Zeug der noch in seiner Garage hat. Wir müssen den Mann sofort befragen. Auf geht‘s!«
Der Tonfall der Domina setzte ihn tatsächlich in Bewegung. Die Rolle begann ihr zu gefallen. Müsste ich mal bei Jamie versuchen, dachte sie, während sie sich in Rappolds Dienstwagen zwängte.
Die Befragung des Verletzten lieferte keine neuen Erkenntnisse. Er gab an, im Magazin »Zusatz« für die Druckleitung geholt zu haben, als es krachte. Er verlor das Bewusstsein und wachte erst im Krankenhaus wieder auf. Er erinnerte sich zwar, vor der Explosion Geräusche vernommen zu haben, als befände sich noch jemand in der Halle, hatte aber niemanden gesehen.
»Wir müssen alle Mitarbeiter und Zulieferer des Projekts Kranich befragen«, sagte sie, als sie wieder im Auto saßen.
»Kranich?«
»So nennt die NAPHTAG ihr Fracking Projekt in Überlingen. Wussten Sie das nicht?«
Er wusste es nicht, ebenso wenig kannte er die mögliche Verbindung der Gruppe Gaia zum Campus der Uni Konstanz.
»Mensch, Rappold! Es wird Zeit, dass wir uns ernsthaft unterhalten.«
Die Domina hatte gesprochen. Der Sklave fuhr schweigend weiter.
Ein Tag mit Rappold genügte für ein halbes Leben. Chris fehlte die Kraft, noch am selben Tag an den Tatort in Überlingen zu fahren. Stattdessen verließ sie das Präsidium fluchtartig nach dem langen Gespräch mit dem Kommissar kurz vor dem Ruhestand, der seinen Arbeitsplatz schon einmal vorsorglich geräumt hatte. Sie schlenderte eine Weile ziellos durch die Gassen der Altstadt. Jetzt saß sie in einem Café am Hafen. Lustlos stocherte sie in ihrem Salat. Immer wieder blickte sie auf die Uhr. Es war zu früh, um Jamie anzurufen.
»Alles in Ordnung?«, fragte die Bedienung.
Sie nickte stumm und zwang sich, das Grünzeug in sich hineinzustopfen. Sie musste den Magen irgendwie beruhigen. Er war schon dabei, sich um sich selbst zu wickeln. Sie dachte ernsthaft darüber nach, die Maschinerie in Bewegung zu setzen, um dem offensichtlich überforderten Rappold den Fall zu entziehen und allein weiter zu ermitteln. Unschlüssig wog sie die Vor- und Nachteile ab, bis sie wütend beschloss, den Kommissar im Vorruhestand aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie verließ das Lokal und rief Jamie an, während sie an der Mole entlang schlenderte. Es war noch zu früh. Sie würde ihn in der Vorlesung stören, aber sie konnte nicht länger warten. Zu ihrer Überraschung hob er sofort ab.
»Langweilst du dich?«, fragte er lachend.
»Ich wollte testen, ob du an der Arbeit bist, und prompt habe ich dich erwischt. Ich warte gespannt auf deine Erklärung.«
Eine kurze Pause entstand. Zu ihren Füßen klatschte der Kot einer Möwe auf die Plastikplane eines Bootes, dass sie unwillkürlich mit einem Kraftausdruck zurückwich.
»Also hör mal!«, rief er erschrocken.
Sie stellte sich sein verdutztes Gesicht vor, und der Tag im Präsidium war schon fast vergessen.
»Eine Möwe hat mich erschreckt«, beruhigte sie.
»Hat sie getroffen? Bist du verletzt?«
»Jetzt mach aber einen Punkt.«
Das Geplänkel ging weiter. Mit jeder Minute fühlte sie sich besser. Sie hätten übers Wetter oder Nordkorea reden können. Der Inhalt zählte nicht, nur seine warme Stimme.
»Du bist also tatsächlich an den Bodensee gereist«, sagte er unvermittelt.
»Wegen der Möwe meinst du? Die gibt‘s auch woanders, aber es stimmt. Ich bin in Konstanz, ein Einsatz am Bodensee.«
»Schade, wirklich schade«, seufzte er. »Ich hatte gehofft, du könntest nach dem letzten Fall für ein paar Tage rüber kommen.«
»Nach London?«
»Ja, wenigstens für ein verlängertes Wochenende. Ich bin einigermaßen flexibel.«
»Hab ich‘s doch gewusst! Dein Seminar ist nur Show. Du wolltest in die alte Heimat zurück. Das ist es doch. Gib’s zu.«
Er lachte schallend, ein wenig zu heftig, fand sie.
»Leider kann ich hier nicht weg. Die Kollegen brauchen jede Unterstützung.«
Da war es wieder, das Gespenst mit dem Schmerbauch. Um es endgültig zu vertreiben, holte sie nach dem Anruf das Saxofon aus dem Hotel und setzte sich im Stadtgarten ans Ufer. Eine angenehm laue Brise wehte vom See her. Sie saß lange unbeweglich an der Böschung und ließ ihre Gedanken übers Wasser schweifen, bevor sie den Instrumentenkoffer öffnete. Erstaunlich wenige Spaziergänger waren unterwegs. Nur eine Gruppe junger Leute unterhielt sich lautstark im Rasen zwischen den alten Bäumen. Ab und zu wehte ein Lacher zu ihr herüber. Behutsam nahm sie das Instrument aus dem Koffer. Das goldene ›Senso‹ von Buffet Crampon stellte so ziemlich den einzigen echten Luxus dar, den sie sich bisher geleistet hatte. Sie liebte die samtig weichen Tiefen des Altsaxofons. Jedes Mal, wenn sie zu spielen begann, hörte ihr verstorbener Vater lächelnd zu. Er hatte ihr in seinem Musikladen die ersten Töne auf der Blockflöte beigebracht. Sie begann, in tiefen Lagen zu improvisieren, leise, als spielte sie nur für sich und ihren Vater. Allmählich befreite sich die Musik wie von selbst. Sie verband die liebsten Motive ihres Meisters Charlie Parker im Blues-Schema zu einer nicht enden wollenden Kette von Kadenzen und Akkorden. Es war, als wehte die Brise durch ihren Kopf, trüge den Müll mit sich fort und füllte die grauen Zellen mit reiner Freude. Ins Spiel vertieft, bemerkte sie nicht, wie die jungen Leute sich näherten. Sie lauschten im Halbkreis hinter ihrem Rücken der Darbietung, als hätten sie teuer dafür bezahlt. Der Applaus erschreckte sie, als sie das Instrument absetzte.
»He – fantastisch – wer bist du, woher kommst du, was war das?«
Lächelnd ließ sie die Fragen an sich abperlen. Nur eine beantwortete sie gerne:
»Charlie Parker. Das waren Motive von Charlie Parker. Der war noch etwas besser auf dem Altsaxophon.«
»Wer ist Charlie Parker?«
Die jungen Leute gehörten zu einer anderen Generation. Sie kannten wohl die Namen aller angesagten DJs. Jazzgrößen wie ›the bird‹ waren etwas für Ewiggestrige, interessant nur, dass ihre Musik immer noch faszinierte.
»Du musst unbedingt am Freitag in der ›Blechnerei‹ spielen«, rief einer und drückte ihr einen Flyer in die Hand.
Open Stage!, stand darauf, quer über die Seite gedruckt, mit Ausrufezeichen. Sie bekam endlich Gelegenheit, ihre Frage zu stellen:
»Wer seid ihr?«
Die Jungs erinnerten sich blitzschnell an ihre Vornamen. Die Mädchen hielten sich zurück. Sie schüttelte lachend den Kopf.
»Ich meinte eigentlich: Was tut ihr hier in Konstanz?«
Es waren Studenten von der Uni, wie sie gehofft hatte. Sie merkte sich die Gesichter. Uni – Gaia – interessant. Ein unauffälliger Zugang zum Campus könnte sich eines Tages als nützlich erweisen.
»Also bis Freitag«, sagte der Blasse mit den roten Wangen, der ihr das Flugblatt in die Hand gedrückt hatte.
»Mal sehen.«
Nachdem sich die Gruppe Richtung Altstadt entfernt hatte, schickte ihr Saxofon ein paar letzte Seufzer über den jetzt fast schwarzen See. Kurz bevor sie das Instrument absetzte, klingelte es in ihrem Koffer. Zwei Fünfzig-Cent-Münzen und drei Fünfer lagen auf dem Staubtuch, das ihre Glock abdeckte. Sie rief dem einsamen Spaziergänger ein Danke nach und packte zusammen. Der Tag endete besser, als er begonnen hatte. Immerhin war sie um 1.15 Euro reicher. Das Geschenk erinnerte sie an den Vorsatz, Jamie eine Kleinigkeit mitzubringen nach ihrem Einsatz – bloß was? Das Problem würde sie noch lange beschäftigen, fürchtete sie.
Sie hatte den Eindruck, Rappold ducke sich vor ihr, als sie am Morgen fast gleichzeitig das Präsidium betraten. Im schwarzen Gilet über der ärmellosen Bluse, Pistole gut sichtbar im Schulterhalfter, erinnerte sie ihn vielleicht noch stärker an eine zu allem entschlossene Domina. Kaum stand sie im Büro, kam Hinz aus der dunklen Ecke geschossen und haspelte den Stand der Ermittlungen herunter. Er war schnell fertig.
»Thorsten Kramer hat niemand mehr an seiner Meldeadresse in Litzelstetten gesehen seit einem halben Jahr«, berichtete er. »Das bestätigen alle Nachbarn, sagen die Kollegen.«
»Was sagt die KTU über den Sprengstoff?«
»Die Analyse ist noch im Gang.«
Mehr gab es nicht zu berichten an diesem Morgen. Rappold hatte endlich die bequemste Stellung auf dem Sessel gefunden und war dabei, seinen Kaffee aus dem Pappbecher zu kosten, als sie ihn mit der Bemerkung schockierte:
»Wir fahren zum Tatort.«
Um ein Haar entglitt ihm der Becher. »Was – wieso das denn? Steht doch alles im Bericht.«
»Im Bericht steht, dass Sie gerade mal den leitenden Ingenieur und die Arbeiter der Nachtschicht vernommen haben.«
»Das waren die einzigen potentiellen Zeugen.«
Sie schüttelte den Kopf, beugte sich zu ihm hinunter und zeigte ihm den Drohfinger. Sofort brachte er seinen Kaffee in Sicherheit.
»Mein lieber Kommissar Rappold. Mir scheint, Sie ermitteln allzu offensichtlich nur in eine Richtung. Wie ich gestern schon erwähnt habe, müssen alle Leute befragt werden, die irgendwie mit dem Versuchsgelände in Kontakt gekommen sind. Insbesondere sollten wir uns um entlassene oder anderweitig frustrierte Mitarbeiter kümmern. Wer sagt uns denn, dass der Anschlag kein Insider Job gewesen ist? Bis wir die Phantome der Gruppe Gaia vernehmen können, müssen wir in alle Richtungen ermitteln, einverstanden?«
Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie zur Tür.
»Auf geht‘s!«
Er betrachtete unschlüssig den Becher mit der siedend heißen Brühe.
»Lassen Sie den Kaffee stehen, Kollege. Sie werden ihn nicht vermissen. Zu viel Säure ist nicht gut für den übersäuerten Magen.«
Hinz versteckte sich wieder in der dunklen Ecke, wo seine Gesichtszüge weniger deutlich zu erkennen waren.
»Hinz, Alibis!«, brüllte Rappold ihn an.
»Ich fahre mit meinem Wagen«, sagte sie.
ÜBERLINGEN
Ingenieur Niklas Kolbe empfing sie im Bürocontainer. Er wischte sich mit einem öligen Putzlappen Striemen ins Gesicht und rieb die Hände am schmutzigen Tuch, bevor er sie begrüßte. Sollte heißen: Hier wird hart gearbeitet, keine Zeit für Fragen. Sie überließ Rappold die Einleitung.
»Wieso zum Teufel wollen Sie die Leute zum zweiten Mal befragen?«, fuhr ihn Kolbe an. »Sie halten uns von der Arbeit ab. Bei uns kostet jede Minute bares Geld, Mann!«
Sollte wiederum heißen: Bei uns wird gearbeitet, nicht wie bei der Polizei. Rappold hatte den Ingenieur wohl bisher mit Samthandschuhen angefasst. Kolbe schien jedenfalls keine besonders hohe Meinung vom Kommissar aus Konstanz zu haben, was sie durchaus nachvollziehen konnte. Diesmal sollte er sich täuschen. Mit der Domina im Rücken lief Rappold zur Hochform auf.
»Herr Kolbe, wir sind nicht hier, um Zeit zu vergeuden. Ich kann gerne die gesamte Belegschaft aufs Präsidium vorladen, wenn Ihnen das lieber ist. Also?«
Kolbe traute seinen Ohren nicht. Sein Blick wanderte unschlüssig zwischen dem Kommissar, ihr und Hinz, der hinter ihrem Rücken Deckung suchte, hin und her.
»Was wollen Sie?«, fragte er schließlich mit vor Ärger bebender Stimme.
»Wir werden sämtliche Mitarbeiter zur Tatnacht befragen, auch die, die jetzt in ihren Wohnwagen schlafen. Dazu brauchen wir eine vollständige Liste des Personals inklusive aller Zulieferer. Wir befragen jeden, der im letzten halben Jahr Zutritt zur Versuchsanlage hatte.«
Kolbe lachte hysterisch auf. »Sie sind verrückt!«
»Halten Sie sich zurück, sonst sind Sie wegen Beamtenbeleidigung dran. Wir machen nur unsere Arbeit und zwar gründlich. Es sollte auch Ihnen einleuchten, dass wir alle Alibis überprüfen müssen.«
Ihre Worte. Sie musste sich zurückhalten, um Rappold nicht auf die Schulter zu klopfen.
»Während die Kollegen Ihre Leute befragen, möchte ich mich auf dem Areal umsehen«, sagte sie.
Er warf ihr giftige Blicke zu und fragte mit kaum verhohlener Wut:
»Wozu soll das gut sein?«
»Wenn Sie gestatten, stelle ich die Fragen.« Mit einer einladenden Handbewegung wies sie nach draußen. »Bitte sehr, Herr Kolbe, nach Ihnen.«
Er rührte sich nicht.
»Je schneller ich mir einen Überblick über die Anlage und Abläufe verschafft habe, desto früher sind Sie mich wieder los«, fügte sie hinzu.