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Er blickte auf die Uhr: halb eins. Die Analyse würde eine weitere Stunde in Anspruch nehmen. Er schaltete die Bildschirmanzeige aus und klebte Zettel an Computer und Spektrometer: Besetzt bis 15:00 Uhr, Dr. F. Buchmacher, dann verließ er das Labor. Der Zeitpunkt war günstig. Er schätzte die Chance auf über fünfzig Prozent, die blonden Fransen in der Cafeteria anzutreffen.
Er knabberte unruhig an einem Käsesandwich, dessen Semmel von letzter Woche stammte. Hin und wieder schlürfte er kalten Kaffee aus einem Pappbecher, um nicht zu ersticken. Er benutzte die traurigen Relikte nur als Tarnung, damit er nicht auffiel, während er das Uni Volk beobachtete. Sie ließ sich Zeit. Eine halbe Stunde verstrich ohne Fransen. Er nippte am leeren Kaffeebecher, unschlüssig, ob er diskret nach ihr fragen sollte. Erst als dieser verwegene Gedanke zwischen all den gefalteten Eiweißen in seinem Gehirn auftauchte, stellte er fest, dass er nichts über sie wusste, gar nichts. Außer dem liebenswürdigen Gesicht mit den Fransen gab es nichts, womit er sie hätte beschreiben können. War sie eine Studentin? Arbeitete sie in der Verwaltung? Wie hieß sie? Wie alt war sie? War sie schon vergeben? Fragen über Fragen und keine Antworten. Er kaute weiter an seinem Pappbecher und wartete.
Eine kleine Gruppe Studenten, zwei Männer, zwei Frauen, setzte sich eifrig diskutierend an einen Tisch am Fenster. Einer sprach ein Dezibel lauter als die andern. Felix verstand nur das Wort »Demo«, passend zu dem Typen im grünen T-Shirt, das lose an ihm flatterte, als wäre er nach dem Kauf vor Jahren in Hungerstreik getreten. Der Vortrag des Eiferers interessierte ihn nicht, wohl aber die Tatsache, dass er ihn einmal in Begleitung der Fransen gesehen hatte. Hoffnung keimte auf. Er erhob sich, um den Redefluss der Vogelscheuche mit seiner Frage zu stoppen, da stand sie unvermittelt am Eingang, Bücher unter dem Arm und heftig atmend. Sie steuerte stracks auf die Gruppe zu, wechselte einige hastige Worte, machte kehrt und eilte wieder hinaus. Mit der Geistesgegenwart des Verzweifelten stellte er sich ihr in den Weg. Der Zusammenstoß war kaum spürbar, verlieh dem zarten Geschöpf aber einen Drehimpuls, dass ihr Bücher und Notizen entglitten. Er entschuldigte sich wortreich, während er nach ihren Sachen tauchte. Ihre Blicke trafen sich zum ersten Mal richtig, länger als eine Millisekunde.
»Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht«, sagte er. »Es tut mir leid. Kann ich es mit einem Kaffee wiedergutmachen?« Er glaubte, sein Herz pochen zu hören, als er die Hand ausstreckte und verlegen zu lächeln versuchte. »Felix.«
»Sarah«, hauchte sie, senkte den Blick und huschte davon.
»Mit oder ohne H?«, murmelte er mit sturem Blick.
Sie war verschwunden, als sich der Verstand wieder einschaltete. Immerhin hatte er drei Dinge gelernt. Er kannte jetzt ihren Namen, wenn er ihn auch nicht mit Sicherheit richtig schreiben konnte. Zweitens duftete sie ebenso gut, wie sie aussah und drittens – das Wichtigste – errötete sie, als sie sich gegenüberstanden. Die Vorstellung, eine Chance bei ihr zu haben, verlieh ihm Flügel. Er rannte auf den Ausgang zum Parkplatz zu, wo er sie vermutete. Keine der Blondinen war seine. Enttäuscht stieg er ins Auto. Der Motor lief schon, als die Erinnerung ans Spektrometer zurückkehrte. Seufzend stellte er den Motor ab und stieg wieder aus. Felix, dich hat es schlimm erwischt. Es war das Vierte, was er an diesem Tag lernte: Möglicherweise gab es noch andere Dinge im Leben als gefaltete Moleküle.
Maria parkte vor dem Schuppen neben dem Haus in Wollmatingen, der alles enthielt, was in den wenigen Büros und im Labor der Firma ›Herzog Green Chemicals‹ nicht Platz fand. Die Nachwuchs-Akademiker, die hier ihr Praktikum absolvierten oder etwas Geld fürs Nachdiplomstudium und die Doktorarbeit verdienten, saßen an ihren Computern. Im Labor sah sie nur den Laboranten.
»Wo ist Felix?«
Der junge Mann unterbrach die Arbeit am Spülbecken und zuckte die Achseln.
»An der Uni nehme ich an.«
»Was – immer noch?«
Das Enzym musste eine sehr komplexe Struktur haben. Sie bat den Laboranten, ihr beim Ausladen zu helfen. Stroh war ein leichter Werkstoff, solang man es nicht zu Ballen presste.
Ein feines Stimmchen unterbrach wenig später ihre Arbeit im Schuppen:
»Was machst du?«
Emmas kleiner Sohn Julian stand neben dem Minivan. Er erkannte das rote Auto seiner Tante Maria von Weitem. Sie legte die Baumschere weg, mit der sie das Gebinde des einen Strohballens auftrennen wollte.
»Wo kommst du denn her, mein Großer?«
Er sprang in ihre Arme, um sich sogleich zu befreien, als sie ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange drückte. Im nächsten Atemzug saß er auf dem Stroh und fragte:
»Was machst du damit?«
»Weißt du überhaupt, was das ist?«
»Ein Bett.«
Zum Beweis legte er sich darauf und schloss die Augen. Der Junge war schon jetzt nie um eine Antwort verlegen, wie seine Mutter.
»Als Bett kann man es auch brauchen, das stimmt«, gab sie lachend zu. »Früher haben viele Leute auf Stroh geschlafen. Heute tun es meist nur noch Pferde und Ponys.«
»Ponys sind doof«, rief er und sprang auf.
Die Baumschere weckte sein Interesse. Sie war schneller und brachte das gefährliche Werkzeug in Sicherheit. Er ließ nicht locker.
»Was machst du damit?«
»Mit der Schere schneide ich die Schnüre auf, die das Stroh zusammenhalten.«
Sie zeigte es ihm, sorgsam darauf bedacht, ihn auf Abstand zu halten. Der Junge war flink wie ein Wiesel.
»Warum?«
»Ich muss das Stroh auseinandernehmen und dann zerkleinern.«
»Warum?«
»Unsere kleinen Tierchen im Labor können Strohschnipsel besser essen.«
»Die Tierchen im Fernsehen?«
»Ja, die Bakterien, die ich dir auf dem Computerbildschirm gezeigt habe.«
»Die essen das?«
Er kaute auf einem Halm und spuckte ihn angewidert aus.
»Die Bakterien machen aus dem Stroh wertvolle Sachen – wie Rumpelstilzchen.«
Der Vergleich war ihr ungewollt entschlüpft. Statt weiterarbeiten zu können, besaß sie jetzt seine volle Aufmerksamkeit.
»Wer ist Rummelpilzchen?«
»Rumpelstilzchen«, korrigierte Emma lachend.
Julians Mutter trat auf sie zu und drückte beide an die Brust. Maria entschuldigte sich:
»Tut mir leid, Schatz, ich hätte das Märchen nicht erwähnen sollen, zu brutal für Julian.«
Emma lachte sie aus. »Papperlapapp, Julian liebt Märchen, stimmt‘s?«
»Ja – Rummelpilzchen, Rummelpilzchen!«, rief der Kleine und tanzte auf dem Stroh herum wie Rumpelstilzchen vor der Hütte im Wald.
»Da siehst du‘s«, grinste Emma. »Jetzt musst du ihm die Geschichte erzählen. Du hast keine Wahl.«
Tante Maria als Märchentante. Natürlich fehlte ihr die Zeit dazu. Sie wollte aufbegehren, doch Julians große Augen hingen so erwartungsvoll an ihren Lippen, dass sie nur einen Seufzer zustande brachte.
»Also komm her, Großer, setz dich auf meine Knie.«
Während er die bequemste Haltung suchte, lud sie Grimms Märchen vom Rumpelstilzchen vom Internet auf den Handy Bildschirm. Sie erinnerte sich nur an den Kern der Geschichte. Ein Junge wie Julian aber brauchte alle Einzelheiten. Emma schien sich köstlich zu amüsieren.
»Ich bin oben in der Wohnung«, sagte sie mit gemeinem Grinsen auf den Stockzähnen und verschwand.
Nach einem weiteren Seufzer begann Maria zu erzählen:
»Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter …«
Das Märchen vom Wicht, der aus Stroh Gold spinnen konnte, wäre schnell erzählt gewesen, hätte Julian einfach zugehört. Für den Kleinen war alles neu. Nach hundert Exkursen ins Handwerk des Müllers, den Sinn von Spinnrädern und den Wert des Goldes vermochte er immerhin den Zungenbrecher Rumpelstilzchen korrekt auszusprechen. Die Vorlesung dauerte so lange, bis Emma aus der Wohnung zurückkehrte und Julian zum Aufbruch drängte. Die beiden wohnten nicht bei ihr – leider. Andererseits hatte die räumliche Trennung durchaus ihre Vorteile, wenn sie an die Arbeit dachte, die liegengeblieben war. Bevor er ging, sah ihr der Junge tief in die Augen und fragte:
»Kannst du auch aus Stroh Gold machen?«
So klein er war, er hatte den Zweck des Unternehmens ›Herzog Green Chemicals‹ in vier Wörtern zusammengefasst: Aus Stroh Gold machen. Sie konnte die Frage nur mit einem klaren Ja beantworten.
»Dann bist du Rumpelstilzchen!«, rief er und rannte davon.
Emma wollte ihn einfangen, doch sie hielt ihre Lebensgefährtin zurück.
»Warte, Julian geht schon nicht verloren. Wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.«
»Tun wir doch die ganze Zeit.«
»Du weichst aus. Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Dich bedrückt etwas. Warum sprichst du nicht mit mir?«
Mit mir ist alles in Ordnung – mit uns – glaub mir.
»Hat es mit deiner Arbeit zu tun, mit der Nacht, als du weg warst?«
Emma zögerte. Auf Julians Ruf wandte sie sich ab.
»Wir müssen jetzt … Mach dir keine Sorgen«, sagte sie und ging.
Maria konnte den Spruch nicht mehr hören. Jedes Mal, wenn Emma das sagte, kletterte ihr Sorgenbarometer einige Stufen höher.
Felix saß an seinem Computer, als sie ins Haus zurückkehrte.
»Wie sieht es aus?«, fragte sie.
Er studierte die Zahlenreihen und Grafiken, die das Spektrometer ausgespuckt hatte. Die Runzeln auf seiner Stirn bedeuteten nichts Gutes. Er zeigte auf eine Falte in der Proteinstruktur.
»Die war vorher nicht so ausgeprägt«, murmelte er. »Da stimmt etwas nicht. Ich dachte erst an ein Artefakt oder einen Messfehler, aber die zweite Probe zeigt die gleiche Anomalie.«
Es sah nicht allzu gut aus für ihren mühsam synthetisierten Katalysator.
»Aber die Endsequenzen mit den neuen Doppelbindungen sind in Ordnung?«, fragte sie.
Er nickte.
»Also, dann lohnt sich ein Versuch.«
Biochemie war eine Wissenschaft, die mindestens zur Hälfte auf der Methode ›Versuch und Irrtum‹ gründete. Man brauchte mitunter eine Engelsgeduld, bis alle Bedingungen für einen Erfolg versprechenden Versuch erfüllt waren.
»Der Reaktor ist vorbereitet«, sagte sie mit aufmunterndem Lächeln. »Nichts wie rein mit dem Enzym. Diesmal schaffen wir die fünfzig Prozent. So nah dran waren wir noch nie.«
Fünfzig Prozent Ausbeute an reiner Bernsteinsäure aus dem Bioreaktor: Damit wäre der Durchbruch geschafft, der Schritt zur industriellen Produktion realistisch.
»Das wäre die Sensation an der Pressekonferenz, was meinst du? Die erste echte Bioraffinerie in unserem bescheidenen Labor in Wollmatingen!«
Er saß gedankenverloren am Computer und starrte am Bildschirm vorbei ins Leere. Sie klopfte ihm auf die Schulter.
»Hallo, Dr. Buchmacher, jemand zu Hause?«
Er schreckte auf. »Wie – was ist los?«
»Das frage ich mich auch gerade. Hast du überhaupt zugehört?«
»Du – willst den Versuch trotzdem wagen?«
»Ja klar, und die Pressekonferenz wird ein Erfolg, habe ich noch gesagt. Die Anleger werden uns die Bude einrennen. Jeder will sich noch günstige Anteile sichern vor dem Gang an die Börse, du wirst sehen.«
Er blickte durch sie hindurch. Begeisterung sah anders aus.
»Bist du krank?«
Im Zeitlupentempo kehrte er zu ihr zurück und murmelte:
»Ja, vielleicht.« Unvermittelt grinste er, leicht errötend. »Eine Art Krankheit – du hast wahrscheinlich recht. Es fühlt sich ziemlich ungesund an.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Groschen fiel. Die Diagnose war so offensichtlich wie unerwartet für einen Nerd wie Felix.
»Du bist verliebt!«, rief sie lachend.
Er brauchte nicht zu antworten. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Unsern Felix hat‘s erwischt – ich fasse es nicht.«
Soweit sie sich erinnerte, war dies sein erstes Mal trotz der 27 Jahre.
»Wer ist die Glückliche, wie heißt sie, gibt‘s ein Foto?«
»Du nervst. Ich weiß, wie sie heißt.«
»Sag mal! Aber mir willst du den Namen nicht verraten?«
»Du kennst sie nicht.«
»Wer weiß. Du hast sie an der Uni kennengelernt, stimmt‘s? Klar, wo denn sonst.«
»Wir kennen uns eigentlich gar nicht«, entgegnete er mürrisch. »Sie passt einfach nicht zu den Typen, mit denen sie verkehrt, so ganz Grüne und Soziale im Schlabberlook mit total flachen Schuhen und großer Klappe.«
»Sie trägt Schlabberlook?«
»Nein, eben nicht. Sie ist – nett.«
Dabei schwankte sein Gesichtsausdruck zwischen keuscher Freude und Kummer.
»Warum hängt sie denn mit diesen Typen herum?«
»Sie hängt nicht herum – und überhaupt: Dazu müsste ich sie zuerst fragen.«
Er wich ihrem Blick aus. Es dauerte einen Wimpernschlag, bis sie begriff, was es bedeutete. Sie lachte laut auf.
»Ach so – du hast sie noch gar nicht angesprochen?«
»Du verstehst das nicht. Lass mich in Ruhe.«
Er begann, eifrig auf die Tastatur einzudreschen. Plötzlich hielt er inne und sagte:
»Ich muss morgen früh noch mal an die Uni. Vielleicht habe ich die Lösung für unser Problem.«
Du meinst die Lösung für dein Problem, dachte sie und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg ins Labor.
KAPITEL 3
KONSTANZ
Chris steuerte ohne zu zögern auf die Vollversammlung bei der Aula zu. Von allen Seiten strömten junge Leute und vereinzelte ältere Semester zusammen.
»Immer schön bei Mutti bleiben«, ermahnte sie Hinz.
Der Kommissaranwärter wirkte etwas verloren inmitten der aufgeregt diskutierenden Jugend. Von Alter und Gestalt her fiel er wenigstens nicht aus dem Rahmen. Er ging ohne Weiteres als Kommilitone durch, der den Bachelor vielleicht nicht im ersten Anlauf geschafft hatte. Sie selbst gab sich mit Zopf und roter Schleife ein paar Jahre jünger, um nicht allzu sehr aufzufallen.
»Was ist da los?«, fragte Hinz.
»Das werden wir gleich herausfinden.«
Eine junge Frau drückte ihr ein Flugblatt in die Hand, wie um die Frage des Kollegen zu beantworten.
»Den Film müsst ihr euch unbedingt ansehen«, sagte sie, während sie fleißig weiter Flugblätter verteilte.
DIE FRACKING LÜGE DEMO!
stand als Überschrift auf dem Zettel, darunter ein paar Schlagzeilen, die sie nicht zum ersten Mal sah:
Gift im Grundwasser!
Fracking Chemikalien erzeugen Krebs!
Brennendes Trinkwasser!
Wohin mit dem giftigen Rückfluss?
Wollt ihr mehr Erdbeben?
Noch ein Desaster wie die Kernkraft?
Clean Fracking ist eine Lüge!
Fucking statt Fracking!
Demo Freitag 11:00 Uhr
»Ziemlich aufgeheiztes Klima«, flüsterte Hinz ihr zu.
»Gut für uns. Augen auf, Hinz. Uns interessieren die Wortführer und Organisatoren der Demo. Knipsen Sie unauffällig und sammeln Sie Namen. Am besten teilen wir uns auf. Sie folgen der Demo, ich ermittle in der Uni.«
Sie sah ihm an, dass er sich am liebsten augenblicklich in seine dunkle Ecke verkrochen hätte, aber er wagte nicht zu widersprechen. In der Aula lief der Film ›Gasland‹, eine Dokumentation des Amerikaners Josh Fox über die Folgen des Fracking Booms in vier US-Bundesstaaten. Drastische Szenen wie aus einem Katastrophenfilm wurden mit Buhrufen quittiert: explodierende Brunnen und Häuser, Trinkwasser, das so viel Erdgas enthielt, dass es brannte, als hätte jemand Wasser- und Gasleitung vertauscht, Haustiere mit plötzlichem Haarausfall, Klärschlamm als Grundwasser, vom zuständigen Konzern als unbedenklich eingestuft. Sie kannte den Film, hatte selbst erlebt, wie leicht auch ein kritischer Geist durch die drastischen Bilder und Einzelschicksale Augenmaß und Objektivität verlieren konnte. Glaubte man den Bildern auf der Leinwand, musste man unausweichlich zum Schluss kommen, Fracking wäre vom Teufel persönlich erfunden worden, um die Menschheit zugrunde zu richten. Sie las Verwirrung, Abscheu und Entrüstung in vielen Gesichtern. Nur wenige Zuschauer zeigten sich unbeeindruckt. Ein spindeldürrer Typ in flatterndem grünem T-Shirt bemächtigte sich des Mikrofons, kaum war die letzte Abblendung über die Leinwand geflimmert.
»Leute, wir dürfen nicht länger schweigen!«, brüllte er in den Saal, dass es draußen durch die Gänge hallte. »Wir wissen jetzt, was Fracking anrichtet. Wir wollen diese Sauerei vor unserer Haustür unter keinen Umständen zulassen. Probebohrungen nennen sie das, was in Überlingen geschieht, dabei hat die NAPHTAG schon ganze Landstriche unter Kontrolle. Wir sagen: Wehret den Anfängen! Schnappt euch den Flyer mit unsern Schlachtrufen und ein Transparent am Ausgang. Auf dem Parkplatz und bei der Bushaltestelle gibt‘s Mitfahrgelegenheiten. Wir versammeln uns auf der Marktstätte beim Bahnhof. Um elf geht‘s los. Auf in den Kampf!«
»Auf in den Kampf!«, erscholl es vereinzelt aus dem Publikum.
Es war nicht gerade der Sturm auf die Bastille, aber der Hagere hatte doch genügend Wir-Gefühl verbreitet, dass der Großteil der Versammelten dem Aufruf folgte. Sie versuchte vergeblich, den Wortführer abzufangen. Seine Entourage erwies sich als undurchdringlich. Eine junge Frau stand etwas abseits, verächtlich den Kopf schüttelnd angesichts der Aufregung. Chris näherte sich unauffällig und fragte:
»Wer ist der Spinner?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Ich kenne ihn nur als ›die Krähe‹.«
»Das passt«, sagte Chris lachend. »Ganz unrecht hat er ja nicht mit seinen Schreckensvisionen.«
»Ja schon, aber wir befinden uns doch nicht im Krieg. Er ist voll überzeugt, sie hätten Barbarossa gekillt.«
»Ich dachte, der wäre schon vor ein paar Hundert Jahren gestorben.«
Sie sagte es nur, um Zeit zu gewinnen. Bis sie begriff, worüber die junge Dame sprach, hatte die sich einem Kommilitonen zugewandt. Chris erinnerte sich: Barbarossa war der Spitzname des Umweltaktivisten Thorsten Kramer.
»Die Krähe ist einer von Kramers Leuten?«, fragte sie hastig.
Sie bekam keine Antwort. Das Pärchen entfernte sich und verschmolz mit der Masse.
Mit Transparenten und Tröten bewaffnet, setzten sich die Fracking Gegner in die Fahrzeuge und fuhren ab Richtung Innenstadt, begleitet von einem ansehnlichen Aufgebot der Stadtpolizei. Sie konnte sich nur wundern über die professionelle Organisation und Vorbereitung der Demo. Wer steckte dahinter? War dies die Handschrift der Gruppe Gaia? Sie rief Hinz an. Nachdem sie ihm die Krähe besonders ans Herz gelegt hatte, entschloss sie sich, ins Hotel zurückzukehren, um die gesammelten Informationen durch den BKA-Computer zu schicken.
Zwei Kollegen der Stadtpolizei standen mit einem älteren Mann im blauen Overall am Eingang. NAPHTAG = KILLER hatte jemand in schwarzer Farbe an die Wand gesprüht. Sie fand den Text nicht so spannend wie die Sonnenblume, dem Gerücht nach das Logo von Gaia. Vielleicht ein Trittbrettfahrer – vielleicht auch nicht. Sie war der geheimnisvollen Gruppe noch nie so nah gewesen, und doch wurde sie das Gefühl nicht los, bei jedem Griff ins Leere zu fassen.
Der Eindruck verstärkte sich während der Arbeit am Computer. Einzig die Identität der Krähe spuckte die BKA-Datenbank nach nervtötender Suche aus. Der Name Markus Hansen sagte ihr nichts, aber der Mann war aktenkundig wegen massiv überhöhter Geschwindigkeit in einem Kölner Vorort, wo er vor dem Studium gewohnt hatte. Also doch nicht so grün, das grüne T-Shirt. Herr Hansen war fällig für ein längeres Gespräch auf dem Präsidium. Sie griff zum Telefon, zögerte und legte es wieder weg. Ein Fanatiker wie Hansen würde nur unter massivem Druck auspacken, und dazu fehlten die rechtlichen Mittel. Es gab eine bessere Möglichkeit, mehr über die Gruppe Gaia und den flüchtigen Kramer alias Barbarossa zu erfahren. Das andere Flugblatt lag immer noch im Instrumentenkoffer. Open Stage in der ›Blechnerei‹, Frei-tagnacht. Der halbe Campus würde sich dort versammeln, und heute war Freitag.
Wegen der musikalischen Qualität der Darbietung auf der offenen Bühne hätte sie sich die Nacht in der ›Blechnerei‹ sparen können. Als Erstes fiel ihr der Mangel an Rhythmusgefühl des Trios auf, als Nächstes der Blasse mit den roten Wangen, dem sie den Flyer verdankte.
»Wo ist dein Saxofon?«, fragte er konsterniert.
»Ich will mich erst umhören.«
»Jammerschade.« Er wiegte ein paar hölzerne Takte mit der Musik. »Cool, was?«
Sie zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen blickte sie sich nach weiteren bekannten Gesichtern um. Hinz hatte ein halbes Dutzend Männer und Frauen abgelichtet, die möglicherweise zu den Organisatoren gehörten und nicht auf der offiziellen Liste der Behörde standen, welche die Demo bewilligt hatte.
»Suchst du jemanden?«
»Die Krähe.«
Er lachte verächtlich. »Was willst du denn von dem? Der linke Spinner würde sich nie hierher verirren, viel zu bourgeois für den. Komm lieber an unsern Tisch.«
Ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. Die Annahme, Hansen und seine Jünger hier zu treffen, erwies sich als Irrtum. Sie hatte um ziemlich genau 180° falsch gedacht. An diesem Abend versammelten sich nicht die Grünen und Linken in der ›Blechnerei‹, sondern die wirtschaftsfreundliche Sektion, BWL- und Jus-Studenten, Ökonomen und allerlei Arrivierte. Enttäuscht wollte sie das Lokal verlassen, als sie eine Bemerkung des Blassen zurückhielt:
»Dieses Gaia Pack geht mir so was von auf den Geist.«
»Was ist Gaia?«
»Das willst du lieber nicht wissen.«
Am Tisch des Blassen war schon reichlich Alkohol geflossen, was die Zungen löste. Das Schlagwort Gaia beschwor eine unerwartet heftige Attacke auf das »grüne Gesindel« herauf.
»Die haben die Demo doch nur organisiert, um den Sprengstoffanschlag zu rechtfertigen«, lallte einer, der sich nicht zwischen zwei Biergläsern entscheiden konnte und deshalb aus beiden trank.
»Du bist besoffen.«
»Recht hat er.«
Chris hörte sich noch ein paar tiefgründige Kommentare an, bevor sie nachhakte:
»Hat die Krähe etwas mit dem Anschlag zu tun?«
Eine Studentin, die sie schon im Stadtgarten gesehen hatte, schüttelte verächtlich den Kopf.
»Große Klappe, nichts dahinter«, fasste sie ihre Einschätzung von Markus Hansen alias die Krähe zusammen. »Die treibende Kraft hinter Gaia ist Barbarossa.«
»Den Namen habe ich schon gehört.«
»Im Geschichtsunterricht«, rief einer.
Er lachte als Einziger über seinen Scherz.
»Der Kerl ist allerdings genauso feige wie die andern – versteckt sich in seinem Stall.«
Chris spürte, wie sich die Nackenhaare sträubten. Bevor sie weiter fragen konnte, befand sich die Studentin auf dem Weg zur Toilette. Schlagartiger Harndrang trieb sie hinterher. Am Waschbecken konnte sie ihre Frage endlich stellen:
»Kann es sein, dass ich die Krähe auch im Stall finde?«
»Gut möglich. Soweit ich weiß, ist der Stall das Nest von Gaia.«
»Und wo finde ich diesen Stall?«
Die Studentin zuckte die Achseln. »Auf der Reichenau, mehr weiß ich nicht.«
Ein Stall auf der Insel Reichenau – eine genauere Adresse der Gruppe Gaia gab es nicht an diesem Abend. Überrascht stellte sie wenig später am Computer fest, dass die spärlichen Angaben genügten. Die Suche nach der Verbindung von Thorsten Kramer zur Insel Reichenau ergab einen eindeutigen Treffer. Die Familie Kramer hatte früher mehrmals Sommerferien auf einem Bauernhof bei Mittelzell verbracht, und auf diesem Hof gab es Wohnungen für Studenten. Zurzeit war dort eine junge Frau gemeldet, deren Foto Hinz an der Demo aufgenommen hatte.
»Na also«, sagte sie, streckte sich und griff zum Telefon.
Sie traute ihren Augen nicht, als sie morgens um vier beim Präsidium vorfuhr. Rappold hatte alles aufgeboten, was an diesem Samstag an Polizeikräften zur Verfügung stand, so schien es. Der sonst nicht eben flinke Kommissar wieselte zwischen den Einsatzwagen, Motorrädern und Technik Trucks hin und her, erteilte Anweisungen und konsultierte zwischendurch die Landkarte, als bereite er die Invasion der Insel Reichenau vor.
»Wo bleibt die Luftwaffe?«, fragte sie mit steinerner Miene.


