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Hinz hatte sein Gesicht weniger gut unter Kontrolle.
»Was gibt es da zu grinsen?«, fuhr der Kommissar ihn an. »Ich will die ganze Bande auf dem Präsidium. Keiner entwischt uns, verstanden?«
Sie nahm Rappold beiseite, um ungestört mit ihm sprechen zu können.
»Ich fürchte, wir werden die Leute zu früh aufscheuchen mit dieser Generalmobilmachung«, sagte sie nur für seine Ohren.
»Sprechen Sie es ruhig aus: Der Rappold spinnt. Ist mir scheißegal. Wir kassieren die Brüder jetzt!«
»Wie Sie meinen.«
Die Kavallerie setzte sich in Bewegung Richtung Reichenau. Sie bildete das Schlusslicht. Der heilige Pirmin bei der Brücke am Ende des Damms grüßte die Kolonne blinkender Polizeifahrzeuge freundlich, wenn auch etwas skeptisch. Er fragte sich wohl auch, ob es wirklich so viele Autos brauchte, um das kleine Paradies im Untersee einzunehmen. Nebelschwaden flüchteten über die verlassenen Felder. Je näher der einsame Stall bei Mittelzell rückte, desto lächerlicher erschien ihr die Übung. Sie dachte ernsthaft daran, umzukehren und Rappold die Schmach eines missglückten Einsatzes allein zu überlassen, als ihr ein Radfahrer auffiel, der gesenkten Hauptes vom Dorf her an der Kolonne vorbei schoss. Sie kannte die hagere Gestalt, trat hart auf die Bremse, wendete auf der schmalen Straße und nahm die Verfolgung auf. Ein Stück weit fuhr der Flüchtende auf der Mittelzeller Straße nach Süden, bis er in einen Feldweg abbog, auf dem sie ihm nicht folgen konnte. Sie studierte die Karte auf dem Navi. Falls der dürre Herr Hansen die Insel fluchtartig verlassen wollte, gab es in dieser Gegend nur eine Möglichkeit: die Schifflände. Sie bog an der nächsten Kreuzung rechts ab und trat kräftig aufs Gaspedal. Das Blaulicht brauchte sie nicht einzuschalten. Außer einem Bauern, der seinen Kartoffelacker umpflügte, schliefen alle Bewohner zu dieser frühen Stunde.
Er näherte sich dem Bootssteg, als sie auf dem Parkplatz wendete. Sie stieg aus und zückte den Dienstausweis.
»Polizei. Herr Hansen, wir müssen uns unterhalten.«
Er war abgestiegen. Wie hypnotisiert starrte er auf den Ausweis.
»Sie sind zu früh«, sagte sie lächelnd. »Es fährt noch kein Schiff.«
Erst als sie auf ihn zutrat, erinnerte er sich ans verhasste Wort Polizei. Plötzlich ragten Hörner aus ihrem Blondschopf. Er schlug einen Haken und rannte um sein Leben.
»Idiot.«
Sie schwang sich auf sein Rad und folgte ihm durch zwei enge Gassen aufs offene Feld, wo sie ihn schließlich stoppen konnte. Er stürzte. Sie kniete auf seinem Rücken, bog ihm unsanft die Arme nach hinten. Die Handschellen schnappten zu.
»Sie haben ihr Rad vergessen«, keuchte sie.
Ihr Knie musste ihn hart getroffen haben, da ihm die Pufferzone aus Fettgewebe fehlte. Dennoch lag er reglos unter ihr wie ein erlegtes Reh, ohne einen Ton von sich zu geben.
»Kann ich Sie loslassen, ohne dass sie wieder abhauen?«
Ein leises Stöhnen war die Antwort.
»War das ein Ja?«
Sie lockerte den Griff und ließ ihn aufstehen. Sein Blick streifte das Fahrrad, dann erinnerte er sich an die Handschellen und blieb stehen.
»Wo ist Thorsten Kramer alias Barbarossa?«
Er schien die Frage nicht gehört zu haben.
»Ich kann Sie auch gerne in Handschellen aufs Präsidium abführen, wenn Sie hier nicht mit mir sprechen wollen.«
Er blickte sie an wie ein begossener Pudel. Die Kunst der Rhetorik war auf der kurzen Flucht verloren gegangen. Immer noch nach einem Aus-weg suchend, den es nicht gab, bequemte er sich endlich zu fragen:
»Was wollen Sie?«
»Ich will, dass Sie meine Frage beantworten.«
»Welche Frage?«
»Sie haben Humor, Herr Hansen. Das gefällt mir.«
Zu seiner Überraschung löste sie die Handschellen und sagte:
»Nehmen Sie das Fahrrad und stoßen Sie es zum Parkplatz zurück. Wir unterhalten uns dort. Geht es so oder muss ich dem Rad erst die Luft rauslassen?«
Er trottete schweigend neben ihr her. Erst als sie das Fahrrad in den Kofferraum packte, protestierte er:
»Das dürfen Sie nicht!«
»Ist doch bequemer im Auto – und wir sind schneller in Konstanz.«
»Wieso Konstanz? Verdammt, ich will nicht nach Konstanz.«
»Sie sind aber dort gemeldet. Wohnen Sie denn nicht an ihrer Konstanzer Adresse?«
Der Ärger vernebelte sein Gehirn. Es dauerte eine Weile, bis er die Ironie verstand, dann gab er auf.
»Sie wissen ganz genau, wo ich wohne. Ihr Bullen schnüffelt doch jedem hinterher. Für euch gibt‘s so etwas wie ein Privatleben schon lang nicht mehr. Ihr wisst alles über uns.«
Sie schüttelte den Kopf. »Stimmt nicht. Wir wissen zum Beispiel nicht, wo Barbarossa steckt – also?«
Er widerstand ihrem durchdringenden Blick nur eine Sekunde lang, dann zuckte er die Achseln und murmelte:
»Mich brauchen Sie nicht zu fragen.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Das haben wir alles dieser verfluchten Judith zu verdanken.«
»Wer ist Judith?«
Er musterte sie misstrauisch.
»Sie wissen es wirklich nicht?«, fragte er zögernd.
»Klären Sie mich auf.«
»Ich kenne sie nur als Judith. Sie hat sich bei uns eingeschlichen, um an die Informationen über die NAPHTAG zu kommen, wenn Sie mich fragen. Sie wollte unbedingt in jener Nacht zur Bohrstelle.«
Chris glaubte, sich verhört zu haben. »In der Nacht des Anschlags?«
»Seither sind beide verschwunden.«
Sein Gesichtsausdruck verriet Ratlosigkeit. Sie würde später nachhaken.
»Um welche Informationen handelte es sich?«
»Nichts Weltbewegendes. Wir haben ein wenig recherchiert. Man muss ja wissen, wogegen man protestiert. Die war ganz scharf auf alles, was wir über das Fracking Projekt gesammelt hatten.«
»Wo ist das Material jetzt? Im Stall?«
Er nickte. »Das Wichtigste haben Sie sicher schon gestern auf den Transparenten gesehen.«
»Wo finde ich Judith?«
»Keine Ahnung, sagte ich doch schon.«
»Wo waren Sie in der Nacht des Anschlags?«
»Wir haben im Stall gepennt – alle außer Barbarossa und Judith. Waren ziemlich breit.«
»Das werden wir überprüfen.«
»Die andern werden es bezeugen. Kann ich jetzt gehen?«
»Sie müssen mit aufs Präsidium kommen, fürs Protokoll.«
Er antwortete mit einem Fluch, stieg aber ohne Widerstand ein.
Rappolds Kavallerie war am Aufbrechen. Der Kopf des Kommissars leuchtete wie der rote Traktor von Bauer Lorenz im Licht der aufgehenden Sonne. Kaum hatte er sie erblickt, rannte er in großen Sätzen auf sie zu. Sie zog es vor, sitzenzubleiben, kurbelte nur das Seitenfenster herunter.
»Himmel Donnerwetter, wo stecken Sie die ganze Zeit?«
Statt zu antworten, deutete sie auf ihren Beifahrer. »Ich habe Ihnen jemanden mitgebracht. Das ist Herr Markus …«
»Hansen – die Krähe – ich weiß«, rief er. Sein Gesicht strahlte jetzt mit der Sonne um die Wette. »Der hat uns noch gefehlt.«
»Spinnt der?«, fragte Hansen leise, unruhig auf dem Sitz hin und her rutschend.
»Außer dem verdammten Barbarossa«, fügte Rappold düster hinzu.
»Sie vergessen Judith.«
»Wer ist Judith?«
»Ich glaube, das besprechen wir am besten auf dem Präsidium. Was sagt die Spusi?«
Rappolds Miene verfinsterte sich schlagartig. »Jede Menge Propagandamaterial und Spraydosen aber keine Spur von Sprengstoff.«
»Hinweise auf das Fracking Testgelände?«
»Bisher nur auf Papier.«
Sie hatte so etwas vermutet, hielt aber den Mund. Zudem kannte offenbar niemand den Aufenthaltsort des Hauptverdächtigen Thorsten Kramer.
»Die Damen und Herren der Gruppe Gaia werden schon noch auspa-cken auf dem Präsidium«, schloss Rappold grimmig. Er winkte einen uniformierten Kollegen vom Transporter herbei und zeigte auf den dürren Herrn Hansen. »Abführen!«
»Man sieht sich«, sagte sie zum Abschied.
Hansens Fluch verstand sie nicht, wollte ihn auch nicht verstehen.
ÜBERLINGEN
Pater Raphael erhob sich mit einem schweren Seufzer von seinem Schreibtisch und trat ans schmale Fenster. Der Ausblick auf den Klostergarten und die Felder erfrischte die Seele und belebte den Geist wie die Meditation im stillen Gebet. So hatte er die kurzen Pausen stets empfunden. Der Duft von Rosmarin und Thymian wehte vom Kräutergarten herein. Zwei Brüder zupften wuchernden Klee aus, der die zarte Zitronenmelisse zu verdrängen drohte. In der Ferne zog Bauer Weber, sein Gutsverwalter und treuer Freund, die Furchen für die Aussaat von Winterraps – ein Zeichen für das baldige Ende des Sommers.
Der Prior atmete tief durch, versuchte, sich dem pastoralen Bild ganz hinzugeben. Der innere Frieden aber wollte sich nicht einstellen. So sehr er sich bemühte, den Blick nach draußen zu richten, wanderte er doch wieder zurück zum Schreibtisch. Das offene Buch enthielt keine Psalmen oder Geschichten aus dem Heiligen Land, die Trost und Zuversicht verbreiteten. Es war das genaue Gegenteil der Bibel, eine endlose Reihe von Zahlen und Einzelposten, vor allem auf der Kostenseite. Der Brief der Bank, den ihm Bruder Anselm danebengelegt hatte, besiegelte das weltliche Elend endgültig.
Es klopfte. Bruder Anselm trat ein. Seine Miene verriet, dass ihn der Inhalt des Briefes ebenso bedrückte wie ihn selbst. Vielleicht noch stärker, denn als Cellerar war er der Herr der Zahlen, verantwortlich für die Finanzen des Klosters. Anselm sah den Brief, nickte betrübt und fragte:
»Was meint seine Exzellenz, der Bischof?«
»Die Mittel des Bistums sind ausgeschöpft, sagt er.«
»Gott stehe uns bei!«, rief Anselm entsetzt. »Die Bank stundet die Rückzahlung nicht länger. Wir haben noch einen Monat, nicht einmal ganz.«
»Ich habe den Brief gelesen, Bruder Anselm.«
Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Rechnen war nie seine Stärke gewesen, aber er konnte sich denken, was es für das Kloster bedeutete, die 450‘000 Euro Schulden nicht zurückzahlen zu können. Der Betrieb müsste eingestellt werden. Das Gut käme unter den Hammer. Ohne weitere Einnahmen müsste das Kloster aufgegeben werden. Mariafeld wäre Geschichte. Er hatte sein halbes Leben hier verbracht, Wurzeln geschlagen wie die Linde im Klostergarten, die er bei der Ankunft gepflanzt hatte. Es war einer der Tage, an denen er die Last des Alters besonders stark spürte. Er fühlte sich matt und leer, am Ende seiner Kraft. Anselms Stimme unterbrach das lange Schweigen:
»Bruder Raphael?«
»Entschuldige, ich war in Gedanken versunken.«
»Du suchst nach einem Ausweg.«
Nicht einmal dazu reichte seine Energie.
»Auch ich habe lange nachgedacht«, fuhr Anselm weiter. »Am Ende sehe ich keinen andern Weg aus der Schuldenfalle als den, über den wir uns schon einmal gestritten haben.«
»Der Verkauf an den Chemiekonzern.«
»Der Verkauf eines Streifens Land an die NAPHTAG«, präzisierte Anselm. »Die 20‘000 Quadratmeter kann unser Gut ohne große Einschränkungen verkraften, und der Preis, den die NAPHTAG dafür zu zahlen bereit ist, würde all unsere finanziellen Probleme auf einen Schlag lösen. Mariafeld wäre gerettet. Das ist es doch, was zählt.«
Er blickte seinem Cellerar tief in die Augen, versuchte zu ergründen, was Bruder Anselm sich dabei dachte. Hatte die Aussicht auf den zweifelhaften Geldsegen am Ende den Dämon Gier geweckt? In Anselms Augen lag nichts als bange Hoffnung auf eine Zukunft für das Kloster, ihr Zuhause und das ihrer Brüder.«
»Hundert Euro für den Quadratmeter sind ein fürstlicher Preis für Ackerland«, gab Anselm zu bedenken.
Dieses ungewöhnlich großzügige Angebot der NAPHTAG war nicht zuletzt ein Grund, weshalb er den Verkauf bisher kategorisch abgelehnt hatte. Wenn ein gewinnorientierter Konzern bereit war, zwei Millionen für 20‘000 Quadratmeter zu bezahlen, musste er entschlossen sein, alles aus dem Streifen Land zu pressen, was menschenmöglich war. Maria Herzogs Warnung vor Umweltschäden und giftigen Nebenwirkungen für das Klostergut überschattete für einen Augenblick alle andern Gedanken. Schlimmer noch: Musste er wirklich in letzter Not ausgerechnet mit einem Unternehmen Geschäfte machen, das Marias junge Firma sabotierte?
»Zwei Millionen Euro«, sagte Anselm eindringlich. »Eine solche Gelegenheit, unser Kloster zu retten, gibt es wohl nie wieder. Das sollten wir bedenken.«
Eine lange Pause entstand, bis das Marienglöcklein zur Vesper rief.
»Lass uns eine Nacht darüber schlafen«, sagte er.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Ich weiß – eine Nacht noch. Morgen werden wir uns mit Gottes Hilfe entscheiden. Gelobt sei Jesus Christus.«
»In Ewigkeit, amen.«
Sie verließen das Arbeitszimmer des Priors, um sich mit den andern Brüdern in die Kapelle zu begeben.
Luc Kaiser beobachtete vom winzigen Fenster seiner Zelle aus, wie die Mönche in die Kapelle strömten, und schüttelte den Kopf. Was zum Geier sollte am Klosterleben weniger strapaziös sein als die Arbeit am Handelspult?, fragte er sich. Die Glocken läuteten ununterbrochen wie sein Telefon, und die Brüder fanden kaum Zeit, richtig zu scheißen zwischen den vielen Gebeten und Gesängen. Um keinen Preis würde er mit denen tauschen, selbst wenn er an all die Märchen und Wunder der Kirche glaubte.
Naserümpfend dachte er ans bevorstehende Mahl im Refektorium, das ihn schon das erste Mal ans einzige Ferienlager auf der schwäbischen Alb erinnert hatte. Die Eltern glaubten damals, sein Interesse an der Natur zu wecken, erreichten allerdings nur, dass er sich mehr denn je nach seinem Computer sehnte, bis er es nicht mehr aushielt, ausbüxte und eine Großfahndung auslöste. Er hatte seinen Punkt gemacht, und der galt bis heute. Die paar Tage als Gast im Kloster Mariafeld waren dennoch seinem kranken Hirn entsprungen. Die drei Kollegen, die er zu diesem Extrem-Urlaub überredet hatte, Aktienhändler verschiedener Banken, mit denen er sonst nur am Computer verkehrte, fanden den Trip in die Steinzeit anfangs ganz unterhaltsam. Nach zwei Tagen ohne Telefon und stummen Essens am langen Holztisch statt vor dem Bildschirm zeigten sich allerdings auch bei ihnen erste Ermüdungserscheinungen. Nein, von Erholung konnte hier keine Rede sein. Das Klosterleben war selbst für Laien wie sie der pure Stress. Sein »Selbstfindungs-Wochenende« war ein Flop, eine ausgewachsene Schnapsidee.
Das Essen verlief in stummer Eintracht, wie es die Brüder offenbar liebten. Die Gäste kommunizierten über ironische Blicke, die ausnahmslos nur eines zum Ausdruck brachten: Wir müssen raus hier. Beim Verdauungsspaziergang im Kreuzgang fiel die Entscheidung.
»Heute Nacht brechen wir aus«, sagte Luc.
Ein Kollege hatte den Fluchtweg über die Lücke in der Mauer des Klostergartens entdeckt.
»Ohne Auto?«, wunderte sich ein anderer.
Luc erläuterte seinen Plan:
»Ich bestelle uns ein Taxi zum Kreisverkehr. Vom Kloster dorthin sind es nicht mehr als 500 Meter. Wir fahren nach Konstanz ins Casino, wo ihr eure Boni unter die Leute bringen könnt. Danach chillen im ›Lulu‹. Ihr seid eingeladen. Guter Plan?«
Der Plan würde ihn einige Tausender kosten aber er war es wert, wie ihm die leuchtenden Augen bestätigten. Einer fand trotzdem einen Einwand.
»Was sagt deine Heike zu einem Puffbesuch?«
»Gar nichts, wir sind ja im Kloster, schon vergessen?«
»Wie könnte ich.«
»Eben – und zudem ist die Heike zwar ein rattenscharfes Luder aber nur meine Anwältin.«
»Ja klar«, war das einstimmige Echo aller Drei.
Auf dem Weg zu den Zellen hielt ihn der Mönch zurück, der ihren Aufenthalt im Kloster organisierte. Bruder Anselm nannte er sich. Er war so etwas wie der CFO des Klosters, der Chief Financial Officer, soweit er verstanden hatte.
»Herr Kaiser, darf ich Sie kurz sprechen?«
Oha, war die Kunde von der geplanten Massenflucht schon bis zu ihm gedrungen? Sie setzten sich auf eine steinerne Bank am Ende des Kreuzgangs.
»Es ist mir etwas peinlich, Sie mit diesem Anliegen zu belästigen, begann der Bruder, schließlich sind Sie ja hergekommen, um Einkehr zu halten und etwas Ruhe und Abstand vom hektischen Alltag zu finden.«
»Das hat bisher ganz gut geklappt«, log er. »Was haben Sie auf dem Herzen, Bruder Anselm?«
Das Problem musste den Mönch sehr aufgewühlt haben, nach seinem Gesicht zu urteilen. Er war es nicht gewohnt, Emotionen hinter einem Pokerface zu verbergen. Es war eine andere Welt hinter diesen Klostermauern.
»Sie sind doch ein Finanzexperte«, sagte Anselm.
Er nickte überrascht.
»Und Sie haben sich auf Aktien im Energiesektor spezialisiert.«
»Sie sind erstaunlich gut über mich informiert. Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte er schmunzelnd. »Ich muss allerdings ergänzen, dass diese Aktien nur ein Standbein meiner Firma darstellen. Ich bin ebenso aktiv im Bereich Risikofinanzierung für junge Unternehmen. Das ist sozusagen meine karitative Seite.«
Der Bruder antwortete mit einem ironischen Lächeln. Er konnte sich ausmalen, dass auch sein »karitativer« Hedgefonds satte Gewinne abwarf.
»Es liegt mir fern, Ihre Geschäftstätigkeit zu kommentieren«, versicherte Anselm. »Der Grund, weshalb ich Sie darauf anspreche, ist ein anderer. Ich gehe davon aus, dass Sie sich umfassend informieren, bevor Sie in eine Firma investieren.«
»Stimmt, der Aktienkurs und ein paar Kennzahlen allein sagen nichts aus über die Perspektiven einer Unternehmung.«
»Das dachte ich mir. Damit komme ich zu meinem Punkt. Der Konzern, der die Probebohrung bei Überlingen durchführt, möchte Land vom Klostergut kaufen.«
»Die NAPHTAG?«
Bruder Anselm nickte bedächtig. »Ich muss Sie bitten, diese Information vertraulich zu behandeln. Noch ist nichts entschieden. Sie werden verstehen, dass wir als exponierte Institution der Kirche genau darauf achten, mit wem wir Geschäfte machen.«
Allmählich begriff er, was Anselm von ihm wollte.
»Nun möchten Sie wissen, was ich von der NAPHTAG halte?«, fragte er grinsend.
»Ja.«
Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr dem Mönch.
»Mit der NAPHTAG darf auch eine Institution der Kirche bedenkenlos Geschäfte tätigen«, beruhigte er. »Der Konzern ist ein absolut seriöses Unternehmen, das im Übrigen auf soliden finanziellen Füßen steht. Eine uneingeschränkte Kaufempfehlung würde der Fach-mann sagen.«
»Aber der Sprengstoffanschlag, die Verunsicherung über die Auswirkungen der Bohrungen …«
Luc lachte. »Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Nach dem Anschlag aufs Fracking Testgelände ist zwar der Aktienkurs etwas eingebrochen, aber soll ich Ihnen verraten, was das bedeutet?«
Bruder Anselm blickte ihn verwirrt an.
»Das bedeutet, dass der Titel jetzt deutlich unterbewertet ist. Wer jetzt kauft, wird bald einen schönen Gewinn einfahren.« Sibyllinisch fügte er hinzu: »Daran sind natürlich nur wir weltlichen Sünder interessiert.«
Zu seiner Überraschung widersprach der Mönch. Er schüttelte den Kopf und sagte:
»Auch ein Kloster braucht Geld, um zu überleben – leider. Sie würden uns also nicht abraten von einem Landverkauf an die NAPHTAG?«
»Ich wüsste nicht, aus welchem Grund.«
Anselm wirkte dennoch unsicher. »Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Bohrungen ein, wenn das Versuchsgelände auf unser Land ausgedehnt wird? Man hat uns gewarnt.«
»Ach die linken Angstmacher«, entgegnete er lachend. »Da wird meiner Meinung nach maßlos übertrieben. Wissen Sie, meine Schwester Emma befindet sich auch auf diesem Trip. Beweise für erhöhte Erdbebengefahr oder Verschmutzung des Grundwassers durch die hierzulande angewandte Technik hat sie bisher nicht geliefert.«
Bruder Anselm atmete erleichtert auf. Lucs geschultes Auge erkannte auf den ersten Blick: Der Finanzminister des Klosters Mariafeld wollte oder musste unbedingt verkaufen. Ein Plan reifte in Windeseile in ihm, eine Möglichkeit, sein zweifelhaftes Image als profitgieriger Finanzhai aufzupolieren.
»Wenn Sie möchten, kann sich unsere Juristin den Verkaufsvertrag ansehen, bevor Sie etwas unterschreiben. Sie hat große Erfahrung im Umgang mit solchen Konzernen. Das würde Sie natürlich nichts kosten.«
Das unerwartete Angebot erschreckte den braven Mönch. Sein Mund klappte auf und zu. Ihm fehlten die Worte. Luc stand auf.
»Überlegen Sie sich‘s. Ich bin ja noch bis morgen Nachmittag da.«
Damit zog er sich in die Zelle zurück, um den nächtlichen Ausbruch vorzubereiten.
Am nächsten Morgen schritt Pater Raphael unruhig in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Fünf Schritte hin, fünf Schritte her, mehr waren nicht möglich. Jeden Augenblick würde sein Cellerar anklopfen, und er wusste noch immer nicht, wie er entscheiden sollte. Gab es überhaupt eine Alternative? Umschuldung, den teuren Kredit umwandeln – vielleicht war das eine Möglichkeit, die Zeit bis zum Verkauf der Ernte zu überbrücken. Der Gutsverwalter rechnete nach der Missernte im letzten Jahr heuer mit gutem Ertrag. Er dankte dem Herrn für diesen Hoffnungsschimmer.
Bruder Anselm klopfte an und trat ein, leichten Fußes, mit entspanntem Lächeln im Gesicht, wie er es bei ihm seit Langem vermisst hatte.
»Gestern Abend habe ich ein interessantes Gespräch geführt«, platzte er heraus.
»Ich höre.«
»Ich habe mich mit einem unserer Gäste unterhalten, Luc Kaiser. Er ist Finanzspezialist, und es stellte sich heraus, dass er die NAPHTAG sehr gut kennt.«
Der Prior horchte auf. »Rein zufällig nehme ich an.«
»Na ja – ich habe den Konzern wohl erwähnt wegen der Bohrung.«
»Und weiter?«
»Herr Kaiser hat mir bestätigt, dass die NAPHTAG einen makellosen Ruf genießt. Ich schließe daraus, dass wir uns auf die Aussagen und Zusicherungen des Konzerns voll und ganz verlassen können.«
»Können wir uns denn auch auf diesen Herrn Kaiser verlassen?«
Bruder Anselm nickte zuversichtlich. »Er ist ein ausgewiesener Fachmann.« Nach kurzer Pause fügte er an: »Und er macht einen durchaus ehrlichen Eindruck.«
»Hoffen wir, dass du dich nicht täuschst, Bruder Anselm. Du möchtest also verkaufen?«
»Wir würden das Richtige tun.«
Er war noch nicht überzeugt und erwähnte die Idee mit der Umschuldung. Anselm wiegelte sofort ab.
»Ich habe diese Möglichkeit zuallererst durchgerechnet. Wir müssten einen hohen Preis bezahlen und würden trotzdem weiter auf den Schulden sitzen, sollten wir überhaupt einen neuen Kredit erhalten. Und was passiert, wenn die Zinsen wieder anziehen? Nein, das ist leider keine Lösung.«
Die Vorstellung, den Schuldenberg und die Zinslast durch den Verkauf mit einem Schlag loszuwerden, war bestechend. Da musste er dem Cellerar zustimmen. Obwohl er innerlich entschieden hatte, zögerte er mit der Antwort. Schließlich sagte er:
»Ich möchte mir selbst ein Bild über Herrn Kaiser machen, bevor ich dem Verkauf zustimmen kann.«
»Gut, tu das, Bruder, aber du musst dich beeilen. Die Gäste reisen nach dem Mittagessen ab.«
Luc blickte dem Prior verwundert nach. Die Unterredung mit dem alten Herrn hatte keine drei Minuten gedauert und im Wesentlichen aus forschenden Blicken bestanden. Sollte es eine verkappte Standpauke sein wegen des Ausflugs nach Konstanz, obwohl er nichts dergleichen angedeutet hatte? Er wurde nicht schlau aus diesem Heiligen. Es war Zeit zu packen. Auf dem Flur fing ihn Bruder Anselm ab.
»Ich möchte mich bedanken«, sagte er.
»Wofür?«
»Für Ihren Rat gestern Abend. Der Prior hat sich jetzt doch entschlossen, das Stück Land an die NAPHTAG zu verkaufen – vorausgesetzt, seine Exzellenz der Bischof stimmt zu.«
»Rechnen Sie mit der Zustimmung des Bistums?«
»Oh ja, das ist nur eine Formalität. Schließlich geht es um die Zukunft des Klosters.«
»Sie werden also das Geschäft durchziehen?«
Bruder Anselm nickte lächelnd.
»Das freut mich, obwohl es mich eigentlich gar nichts angeht.«
»Ohne Ihren Rat …«
Den Rest sprach der Mönch nicht aus. Luc wollte sich verabschieden, doch Anselm zögerte.
»Darf ich auf Ihr Angebot zurückkommen, Herr Kaiser?«
Luc schmunzelte. »Die Anwältin – selbstverständlich, das Angebot steht.«
Anselm dankte beinahe unterwürfig. »Wir sind manchmal etwas weltfremd hinter den Klostermauern«, gab er zu. »Es wäre in der Tat äußerst hilfreich, wenn uns jemand beraten könnte, der sich auskennt. Zum Beispiel über den fairen Preis.«


