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Die Anwältin Heike Sommer kannte sich in Land- und Immobilienpreisen, Gesetzen und anderen Dingen aus, die sich der gute Bruder Anselm in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen konnte.
»Darf ich fragen, wie viel die NAPHTAG zu zahlen bereit ist?«
Anselm antwortete ohne Zögern:
»Hundert Euro pro Quadratmeter. Es geht um 20‘000 Quadratmeter.«
»Das ist nicht sehr viel.«
Anselm erschrak. »Wie bitte?«
»Land in dieser Gegend für profitable industrielle Nutzung müsste eigentlich teurer sein.«
»Aber …«
Sein Einwand hatte den Bruder sichtlich erschüttert.
»Sie müssen pokern«, sagte er mit ernster Miene. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das zuwiderläuft, aber es geht nicht anders. Die NAPHTAG wird es auch tun. Verlangen Sie einen deutlich höheren Preis, sagen wir 120 Euro.«
Bruder Anselm wusste nicht, wohin mit den Augen. Sein Argument stürzte den Gottesmann in einen schier unlösbaren Gewissenskonflikt. Das Kloster brauchte dringend Geld, stand auf seinem Gesicht geschrieben. Feilschen – was für ihn als Händler tägliches Brot war, musste dem Mönch wie ein Elixier des Teufels erscheinen. Plötzlich streifte Luc ein verwegener Gedanke.
»Es könnte natürlich sein, dass die NAPHTAG auf den hundert Euro beharrt«, fuhr er fort. »In diesem Fall rate ich Ihnen, in NAPHTAG Aktien zu investieren.«
Damit hatte er Anselm endgültig überfordert. Bevor der Mönch die Sprache wieder fand, erläuterte er den Plan:
»Ich will damit nicht sagen, sie sollen Aktien kaufen. Es gibt einen viel eleganteren Weg. Vereinbaren Sie ein Paket Gratisoptionen. Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Er ging in seine Zelle, schaltete das Handy ein und hielt es aus dem Fenster, wo ein Empfang möglich war. Nach wenigen Klicks kehrte er zu Anselm zurück, hielt ihm den Bildschirm hin und erklärte die Zahlen:
»Diese Anzahl Kaufoptionen auf NAPHTAG Aktien entsprechen aus heutiger Sicht einem Wert von rund 200‘000 Euro. Die NAPHTAG würde Ihnen also die zwei Millionen Cash bezahlen für das Land plus 200‘000 Euro in Form von Optionsscheinen. Da der Kurs der Aktie unterbewertet ist, wird der Wert der Optionen binnen kurzer Zeit steigen. Sie können ohne Weiteres mit einer Verdoppelung in den nächsten zwei Wochen rechnen. Heißt im Klartext: Sie werden die Optionen für 400‘000 Euro verkaufen oder ausüben können. Insgesamt hätte Ihnen die NAPHTAG also 2.4 statt zwei Millionen bezahlt, was einem Preis von 120 Euro pro Quadratmeter entspricht. Können Sie mir folgen?«
»Rechnerisch schon, aber wo ist der Haken?«
»In diesem Fall gibt es eigentlich keinen. Ihr einziges Risiko ist, dass es bei den zwei Millionen Cash bleibt, die Ihnen der Konzern geboten hat. Die Optionen könnten wertlos verfallen, falls der Aktienpreis wider Erwarten sinkt, aber Sie haben ja auch nichts dafür bezahlt, also verlieren Sie nichts.«
Eine lange Pause entstand, bis Anselm misstrauisch fragte:
»Und Sie glauben, die NAPHTAG lässt sich auf diesen Handel ein?«
»Wenn meine Anwältin verhandelt, bestimmt«, antwortete er grinsend.
KONSTANZ WOLLMATINGEN
Eine neue Nachricht tropfte auf den Bildschirm des Laptops. Das Ge-räusch erinnerte verblüffend an den Wassertropfen aus einem undichten Hahn, der in die Blechwanne fällt und zerplatzt. Maria Herzog fand ihre Wahl des Geräuschs für die Chats mit Emma genial. Der tropfende Hahn war die perfekte akustische Metapher für den stundenlang locker vor sich hin tröpfelnden Austausch kurzer Textmeldungen in den Nächten, die sie nicht zusammen verbringen konnten. Sie steckte die pH-Messsonde auf den Glaszylinder, bevor sie Emmas Text las.
»Julian schläft endlich. Vermisse dich.«
»Solltest du auch – schlafen meine ich«, tippte sie als Antwort. »Morgen gibt es etwas zu feiern.«
Wieder fiel ein Tropfen. »Bist du sicher?«
Sie kontrollierte den pH-Wert. 4.05: Zu sauer, stellte sie fest und wollte korrigieren, doch ein Knacks schreckte sie auf. Sie wähnte sich allein im Haus. Die Kollegen hatten das Labor und die Büros längst verlassen. Außer dem Licht ihrer Tischlampe herrschte stockfinstere Nacht. Das fremdartige Geräusch war vom Flur ins Labor gedrungen. Sie schaltete die Deckenbeleuchtung an.
»Felix, bist du das?«
Wer sonst sollte um diese Zeit im Haus sein? Das Geräusch wiederholte sich, diesmal lauter, gefolgt vom vertrauten Knarren einer Tür. Es kam von draußen. Das Kippfenster zum Hof stand offen. Jemand machte sich an der Tür des Schuppens zu schaffen. Sie rannte ums Haus. Das Schloss des Lagers für Stroh und unbedenkliche Chemikalien wie Alkohol war aufgebrochen. Der Strahl einer Taschenlampe strich über die Regale. Das Licht erlosch sofort, als sie die Tür aufstieß.
»Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«, rief sie, weil ihr im ersten Schreck nichts anderes einfiel.
Ihr Herz wollte aus der Brust springen. Es blieb ruhig. Sie nahm allen Mut zusammen und rief noch einmal:
»Kommen Sie heraus!«
Vorsichtig trat sie in die Öffnung, um den Lichtschalter zu betätigen. Die Tür schlug ihr ins Gesicht und schleuderte sie hinaus. Sie fiel auf den rauen Teer, sah aus den Augenwinkeln, wie eine schwarze Gestalt davonrannte. Sie hörte eine Autotür zuschlagen, Motorengeräusch, dann kehrte unheimliche Stille ein. Ächzend erhob sie sich. Der linke Ellenbogen schmerzte. Als sie darüber strich, spürte sie Blut. Im Licht der Lampe des Schuppens besah sie sich den Schaden. Eine Schürfwunde, nicht weiter schlimm. Trotzdem schmerzte der Arm, als wäre er gebrochen.
Im Schuppen fehlte auf den ersten Blick nichts, aber das Schloss musste ausgetauscht werden. Es gab nichts wirklich Wertvolles im Lager, jedenfalls keine Drogen oder Chemikalien, die man zur Herstellung von Crystal Meth oder Ähnlichem benutzen könnte. Beim Alkohol handelte es sich um Industriesprit. Er war mit Pyridin versetzt und völlig ungenießbar – und alle Flaschen waren noch da. Was wollte der Kerl? Sie hatte einen Mann gesehen, dessen war sie sich ziemlich sicher: kräftige Statur, kein Teenager im Hoodie. Der Gedanke, die Polizei zu rufen, streifte sie nur kurz. Sie hatte den Einbrecher rechtzeitig in die Flucht geschlagen, und für eine Fahndung würden ihre Angaben sowieso nicht reichen. Sie wollte sich und dem Staat das Anlegen einer weiteren sinnlosen Akte ersparen. Dennoch prüfte sie genau, ob der nächtliche Besucher auch Spuren im Haus hinterlassen hatte. Die Schlösser waren alle intakt. Kein Wunder, denn sie ließ die Türen stets unverschlossen, während sie allein im Labor arbeitete. Es war eine Vorsichtsmaßnahme. Falls ihr wider Erwarten etwas zustieß bei der Arbeit, sollten Feuerwehr und Rettung ungehinderten Zugang haben. Das galt natürlich auch für ungebetene nächtliche Besucher. War der Kerl im Haus gewesen? Hatte er sie heimlich beobachtet?
Fröstelnd setzte sie sich wieder an den Computer. Der virtuelle Wasserhahn tropfte jetzt beinahe ohne Unterlass.
»Was ist los? Schläfst du? Wach auf! Ist alles in Ordnung? Soll ich vorbeikommen? WZTWD?«
Emmas Texte füllten den ganzen Bildschirm. Sie beantwortete die letzte Frage – wo zum Teufel warst du? – nicht, schrieb nur:
»AKLA« – »Alles klar.«
Der Timer am Bioreaktor piepste. Sie stieß eine Verwünschung aus, sprang auf und entnahm mit zittriger Hand eine Probe zur Untersuchung. Hoffnungslos, dachte sie ärgerlich, als sie ein paar Tropfen der gelblichen Flüssigkeit aus dem Reaktor auf den Objektträger des Chromatografen träufelte. Durch das Intermezzo mit dem Einbrecher hatte sie vergessen, den pH-Wert rechtzeitig zu korrigieren. Nur um auch diesen Versuch sauber abzuschließen, schaltete sie das Gerät ein. Das Resultat interessierte sie kaum. Sie wandte sich wieder dem Chat zu, bis ein leises Klingeln das Ende der Analyse ankündigte. Sie drückte automatisch auf die Taste, um die Grafik auszudrucken, die der Chromatograf berechnet hatte. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf, und ihr Herz blieb stehen. Dann begann es zu pochen, als stünde sie zwei Einbrechern mit Krummsäbeln gegenüber. Was sie sah, war unmöglich. Es musste ein Irrtum sein.
Hastig überprüfte sie die Versuchsanordnung, kontrollierte Zusammensetzung, Temperatur, chemische und physikalische Eigenschaften des Gemischs aus Nährstoffen, Enzymen und Mikroben im Tank. Sie las die Messwerte ein zweites und drittes Mal ab und fand keinen Fehler außer dem falschen pH-Wert. Es musste am Chromatografen liegen. Sie nahm sich die Zeit, das empfindliche Gerät vollständig neu zu kalibrieren. Die Grafik, die es danach produzierte, war identisch mit der ersten Analyse. Der Gedanke, keinen Fehler zu finden, schmerzte wie ihr Ellenbogen. Vielleicht sollte sie eine Nacht darüber schlafen und das Ganze morgen in Ruhe wiederholen – aber wer wollte schlafen bei diesem Output? Die banale Zeichnung aus farbigen Kurven, die nur Fachleute verstanden, war es wert, einst auf ihrem Grabstein verewigt zu werden wie Diracs Gleichung der Quantenmechanik in der Westminster Abbey. Die Kurven behaupteten nichts Geringeres, als dass ihre programmierten Bakterien das Stroh vom Mariafeld zu 85 Prozent in Bernsteinsäure umgewandelt hatten, also praktisch vollständig. Dieser Wirkungsgrad entsprach dem Doppelten aller bisherigen Versuche – und war zwanzigmal besser als alles, was die Konkurrenz je zustande gebracht hatte.
Obwohl der digitale Hahn des Chats zu tropfen aufgehört hatte, begann sie wie besessen auf die Tastatur zu hämmern. Sie fühlte sich leicht und frei wie nie, befreit, als wäre sie am Ende eines langen Tunnels angelangt, träte zum ersten Mal nach jahrelanger Suche in der Finsternis wieder ins grelle Tageslicht und atmete frische Luft. Die Suche war zu Ende, nichts weniger behauptete das Blatt Papier aus dem Chromatografen. Sie versuchte, die Bedeutung der Entdeckung in Worte zu fassen, die ihre Geliebte verstehen konnte, und war froh, sie nicht am Telefon zu haben. Schreibend konnte sie sich besser konzentrieren, drückte sich präziser aus. Die Erzeugung der wichtigen Grundchemikalie Bernsteinsäure aus nachwachsenden Rohstoffen war nun nicht nur möglich, sondern auch wesentlich kostengünstiger als die klassische Herstellung in der chemischen Industrie. Kunststoffe, Farben und Baumaterialien aus Stroh, unabhängig von Erdöl, Erdgas und Fracking – der Abschied von der Petrochemie begann in dieser Nacht in ihrem Labor.
Kaum war sie fertig mit dem Tippen ihrer Erfolgsgeschichte, fiel der nächste Tropfen.
»Was willst du mir eigentlich sagen?«
»Ach Emma«, seufzte sie, »es gäbe noch so viel zu sagen.«
Lächelnd sandte sie einen letzten Text übers Wasser ins Paradies:
»Schlaf gut, Liebes.«
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