- -
- 100%
- +
»Ist uns auch schon bekannt.«
Cornwallis blickte ihn bestürzt an, dann sah er das vorläufige Täterprofil an der Wand und lächelte.
»Ja, Sir, die Größe deckt sich mit Scottys Aussage. Der Unbekannte könnte der Täter gewesen sein.«
Er hüstelte, legte eine Kunstpause ein, bevor er hinzufügte:
»Scotty hat gehört, wie der Unbekannte laut und eindringlich auf seine Mutter einredete. Er hat zwar nicht verstanden, worum es ging, ist aber überzeugt, dass der Mann mit ausländischem Akzent gesprochen hat. Wahrscheinlich Holländisch oder Deutsch, gibt er an.«
»Der Kleine beherrscht ja beide Fremdsprachen, nehme ich an«, spottete Adam.
Cornwallis schüttelte beleidigt den Kopf. »Er kennt den Klang der Sprachen von den Hafenarbeitern und Seeleuten, sagt er. Sir, ich meine, wir sollten den Jungen ernst nehmen. Es könnte eine wichtige Spur sein.«
Das brauchte der Sergeant einem alten Hasen wie ihm nicht zu erläutern. Angenommen, Scotty irrte sich nicht, dann gab seine Beobachtung dem Fall eine neue Wendung, die ihm gar nicht gefallen wollte. Cornwallis traute er zu, den Zeugen richtig einzuschätzen, also entschied er sich, großes Geschütz aufzufahren.
»Wir dehnen die Untersuchung aus«, sagte er. »Täterprofil und Tathergang werden an Interpol weitergeleitet. Ich will wissen, ob sich ähnliche Fälle in Deutschland oder den Niederlanden ereignet haben. Gibt es entsprechende Täter, die seit Kurzem wieder auf freiem Fuß sind, und so weiter, das ganze Programm.«
Wiesbaden
Der Applaus fiel höflich aus. Das Konzert im Atrium riss die Zuschauer nicht von den Stühlen. Chris hatte sich mehr versprochen von der Bigband aus Schweden. Die Musiker spulten die Evergreens routiniert und technisch perfekt ab, doch wurde sie den Verdacht nicht los, die wollten gar nicht hören, was sie spielten. Das Publikum zerstreute sich rasch. Ein paar ältere Herren unterhielten sich auf der Allee, unschlüssig, welche Kneipe es sein sollte. Ein junges Paar kam ihr entgegen. Eng umschlungen, mit sich selbst beschäftigt, traten sie auf die Straße. Chris löste die Kette vom Fahrrad. Sie nahm die schnelle Bewegung am Ende der Straße nur aus den Augenwinkeln wahr. Ein Sportwagen schlitterte mit quietschenden Reifen vom Siegfriedring in die nächtliche Allee und raste mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu.
»Achtung!«, schrie sie. »Weg von der Straße!«
Statt zu bremsen, ließ der Irre im 3er Cabrio den Motor aufheulen. Die Leute auf der Straße reagierten viel zu langsam, wie in Zeitlupe. Chris sprang ins Scheinwerferlicht, ruderte mit den Armen und rief aus Leibeskräften:
»Anhalten, Polizei!«
Der Schock traf den Fahrer hart. Er trat augenblicklich auf die Bremse. Seine motorisierte Waffe rutschte näher, zu schnell, um den Zusammenstoss zu vermeiden. Von der Ringstraße brausten Blaulichter heran. Instinktiv sprang sie auf und landete auf der Motorhaube. Ihr Rücken prallte hart an die Frontscheibe, aber der Scheißkerl stand still.
»Anhalten, Polizei!«, rief sie nochmals, während sie ächzend vom Wagen rutschte.
Der Fahrer, ein süß parfümierter Schnösel, noch grün hinter den Ohren, starrte sie entsetzt an und regte sich nicht.
Sie zückte ihren Ausweis. »Aussteigen!«
Er schien sie nicht zu hören. Die Streifenwagen schlossen auf, da löste sich die Schockstarre. Er griff an den Schalthebel, doch sie war schneller. Ohne Zögern drehte sie den Zündschlüssel und zog ihn heraus. Das Brummen des Motors erstarb.
»Aussteigen, Hände auf die Haube«, sagte sie ruhig und langsam genug, damit es auch schwache Schüler verstanden. Streifenpolizisten eilten herbei. Endlich begriff der Idiot, dass es vorbei war. Er ließ sich mit hängenden Schultern abführen.
»Sind Sie seine Begleitung?«, fragte ein Polizist in vorwurfsvollem Ton.
»Sehe ich so aus?«
Sein Blick auf ihren leuchtend blonden Zopf und in den tiefen Ausschnitt bestätigte genau das. Wütend hielt sie ihm die Dienstmarke unter die Nase und sagte zur Sicherheit:
»Kriminaloberkommissarin Christiane Hegel, BKA Wiesbaden. Und Sie sind?«
»Entschuldigung«, murmelte er verdutzt.
»Ich kam aus dem Konzert und sah, wie der Verrückte auf die Leute zuraste. Ich musste ihn aufhalten.«
»Sie könnten tot sein.«
»Berufsrisiko.«
Ihr Rücken schmerzte. Sie versuchte, sich die Stelle zu massieren. Dabei drohten ihre Brüste, unterstützt vom Push-up, dem Kollegen von der Streife ins Gesicht zu springen. Der junge Mann wusste nicht wohin mit den Augen, bis sein älterer Partner neugierig auf sie zutrat.
»Kommissarin Hegel vom BKA hat ihn gestoppt«, erklärte der Junge hastig.
»Oberkommissarin«, verbesserte sie.
Sie fand die feine Abstufung in der Funktionsbezeichnung lächerlich, aber es tat gut, den Jungen zu quälen.
»Oberkommissarin, Entschuldigung«, murmelte er verlegen.
»Sind Sie verletzt?«, fragte der Ältere.
Sie schüttelte den Kopf. »Danke, ich bin in Ordnung.«
»Sind Sie sicher? Sie haben ein ganz schönes Früchtchen aus dem Verkehr gezogen. Der Mann hat eine Person angefahren und Fahrerflucht begangen, deshalb waren wir hinter ihm her. Er wird wohl für eine Weile von der Straße verschwinden.«
»Hoffentlich ist er schon strafmündig«, lächelte sie.
Dadurch fasste der Junge neuen Mut. »Er ist immerhin schon achtundzwanzig«, grinste er.
Sie nickte ihm verständnisvoll zu. »Manche Leute entwickeln sich eben sehr langsam.«
Das betroffene Gesicht des Polizisten erinnerte sie entfernt an die erste Begegnung mit ihrem Jamie. Milder gestimmt, wehrte sie sich nicht dagegen, den Beamten fürs Protokoll aufs Revier zu folgen. Sie hielt den konfiszierten Zündschlüssel hoch und sagte zum Jüngling:
»Sie könnten mich ja fahren. Mein Fahrrad findet sicher Platz im Streifenwagen Ihres Partners.«
Der Junge blühte auf während der kurzen Fahrt, was nicht nur am schnittigen Sportwagen lag. Sie hatte beschlossen, in den nächsten zehn Minuten richtig nett zu ihm zu sein.
Am nächsten Morgen in der Zentrale des Bundeskriminalamts empfing sie ihr Partner mit besorgter Miene. Sven blickte sonst nicht von der Arbeit auf, wenn sie das Büro betrat, doch nun sprang er gar auf und betrachtete sie eingehend von allen Seiten.
»Bist du auch wirklich O. K.?«, fragte er leise, um sie nicht zu erschrecken.
»Dasselbe wollte ich dich fragen.«
Hatte sie etwas übersehen? Im Spiegel war ihr nur ein blauer Fleck aufgefallen, am Rücken unter dem rechten Schulterblatt. Den konnte er unmöglich sehen.
»Richter hat ganz aufgeregt nach dir gefragt. Es gab einen Verkehrsunfall?«
»So kann man es auch sehen«, lachte sie. »Wollte der Staatsanwalt etwas von mir?«
»Du möchtest dich bitte bei ihm melden, sobald es die Umstände zulassen. Seine Worte.«
»Du meine Güte! Das sind ja ganz neue Töne.«
Oberstaatsanwalt Richter gab sich im Normalfall keine Mühe, besonders höflich zu sein. Woher wusste er überhaupt Bescheid über den nächtlichen Zwischenfall? Andererseits – er war einer der Mächtigen beim BKA, und das besaß große Ohren. Sein Büro stand offen. Er kam ihr freudestrahlend entgegen, sobald er sie entdeckte.
»Dr. Hegel, Gott sei Dank. Wie fühlen Sie sich?«
Nicht besonders wohl in meiner Haut, dachte sie beunruhigt. Sie kannte nur zwei Gründe, die ihn bewogen, sie mit dem akademischen Titel anzureden: Entweder drohte eine Standpauke, oder er wollte etwas Unangenehmes von ihr.
»Es geht mir gut«, log sie. »Warum fragen Sie?«
»Na hören Sie mal. Ich fürchtete schon, sie würden zur Verkehrspolizei abwandern.«
»Die Leute dort sind wirklich nett. Ich werd’s mir überlegen.«
Er schüttelte schmunzelnd den Kopf und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.
»Sie sind also wieder voll einsatzfähig? Keine Nachwirkungen? Mein Gott, Sie könnten tot sein!«
Dreimal ja. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis sein Mitgefühl erlosch:
»Gut, gut, dann wollen wir – in medias res, sozusagen.«
Er nahm ein Blatt aus der Aktenmappe, die vor ihm lag, und überreichte es ihr.
»Interpol braucht unsere Unterstützung«, bemerkte er dazu.
Sie las die in umständlichem Amtsenglisch verfasste Anfrage. Irritiert legte sie den Zettel schließlich auf den Tisch.
»Ein Dolchstoß ins Herz in einem Kaff in Suffolk – was hat das mit uns zu tun?«
»Drehen Sie das Blatt um.«
»Ach so, Entschuldigung.«
Widerwillig las sie weiter. Offenbar bestand der Verdacht, es könnte sich um einen deutschen Täter handeln. Ziemlich an den Haaren herbeigezogen, fand sie. Vor allem verstand sie immer noch nicht, warum Richter ausgerechnet ihr diese Anfrage zeigte. Es arbeitete in ihrem Gesicht, was ihn zu belustigen schien.
»Sie fragen sich, warum ich die Sache nicht an die Zentralen Dienste leite. Das hatte ich vor, doch dann erinnerte ich mich an diese Meldung aus dem LKA Stuttgart.«
Er schob ihr ein zweites Blatt hin. Es war die Nachricht vom Mord an einem Schwarzen in Tübingen, die sie im Radio gehört hatte. Tod durch einen einzigen Dolchstoß ins Herz, genau wie im Fall aus England.
»Das könnte ein Zufall sein«, sagte sie.
Er nickte. »Genau, darum möchte ich, dass Sie das schnell bestätigen, damit wir die Sache vom Tisch haben.«
Das Damoklesschwert sauste mit voller Wucht auf sie herunter. Das war also der Grund für die akademische Anrede. Noch ein lästiger Auftrag. Sie, ihr Partner und ein paar andere Leute konnten sich ja nicht gerade über Arbeitslosigkeit beklagen, was Richter bestens bekannt war. Sie suchte hastig nach der besten Ausrede, als ihr Blick auf die Information über die zuständige englische Dienststelle fiel. Sie entspannte sich augenblicklich, nahm die Akte an sich und verabschiedete sich vom verdatterten Staatsanwalt mit einem Lächeln.
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Kapitel 2
Tübingen
Der weiße Porsche Boxster Spyder bog beim Wurstpalast am Holzmarkt rechts ab und hielt nach wenigen Metern in der schmalen Straße an. Sven stieg aus, ohne sich um den Stinkefinger des Fahrers zu scheren, der seinen Kombi millimetergenau an den geparkten Autos vorbei navigieren musste. Er fand die ganze Aktion in Tübingen, zu der Chris ihn verknurrt hatte, schlicht zum Kotzen. Daher versuchte er gar nicht erst, seinen Widerwillen zu unterdrücken, als er sich preußisch kurz bei der Polizei Innenstadt anmeldete:
»Kriminalkommissar Sven Hoffmann, BKA Wiesbaden, Herr Schröder erwartet mich.«
Die Miene des Polizeihauptmeisters ließ darauf schließen, dass auch er alles andere als begeistert war vom Eindringen des Bundeskriminalamts in seine heile Welt. Immerhin stellte er ihm einen Becher Kaffee und ein Kännchen mit Rahm hin, bevor er mürrisch sagte:
»Offen gestanden, weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen kann, Kommissar.«
»Sie brauchen mir nicht zu helfen. Ich bin lediglich an den Akten im Mordfall am Ammerkanal interessiert.«
»Die hätten wir Ihnen schicken können.«
»Sicher, doch ich muss auch wissen, was zwischen den Zeilen steht, und ich möchte den Tatort sehen.«
»Da werden Sie nicht mehr viel sehen. Die Gegend beim Nonnenhaus ist sehr beliebt bei Einheimischen und Touristen.«
»Umso erstaunlicher, dass niemand etwas vom Mord am Schwarzen bemerkt haben soll.«
Schröder errötete und setzte zu einer Bemerkung an, doch dann stand er auf, ging zum Aktenschrank und zog ein dünnes Dossier heraus. Er legte es wortlos auf den Tisch und schaute Sven beim Lesen zu, bis er die Geduld verlor.
»Brauchen Sie mich noch?«
Sven nickte. »Ich habe sicher noch Fragen dazu.«
Ungerührt las er weiter.
»Schießen Sie los, fragen Sie«, drängte Schröder, den es kaum mehr auf dem Sessel hielt.
Wie befürchtet, erwies sich die Aktenlage als dürftig und lückenhaft. Er ließ den Polizeihauptmeister noch eine Weile zappeln, bevor er sich äußerte:
»Ich finde hier nur die Aussage des Notarztes aber keinen Obduktionsbericht.«
Schröder nippte angewidert an seinem Kaffee, bevor er kurz angebunden antwortete:
»Die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen.«
»Wie bitte? Nach zwei Tagen?«
Schröder schien seine Empörung zu freuen.
»Die haben viel zu tun in Stuttgart«, erklärte er, als wäre er stolz darauf.
»Na klar, war ja auch der einzige Mordfall im letzten Monat im Ländle. Da braucht man sich nicht zu beeilen.«
Allmählich verlor er die Geduld mit diesem Schwaben. Er breitete die Tatortfotos aus. Das Bild des Opfers im Kanal fehlte. Darauf angesprochen, deutete Schröder ärgerlich auf ein Foto, das zwei weiße Markierungen auf dem Pflaster am Kanal zeigte.
»Dort unten hat er gelegen.«
Sven sah sein Gegenüber mit großen Augen an. Wollte Schröder ihn für dumm verkaufen, oder war dies der unergründliche schwäbische Humor? Er zwang sich, den Spaßvogel ruhig zu fragen:
»Wie hat das Opfer im Kanal gelegen? Gesicht nach unten, oben, Kopf zum Steg oder umgekehrt, Gelenke verrenkt, gerade, krumm, was lag unter Wasser, was darüber? Ich finde nichts dazu in den Protokollen.«
Schröder senkte verlegen den Blick. Innerlich kochend, zog er die Akten zu sich und begann, darin zu blättern, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Tatsächlich«, murmelte er nach kurzer Zeit. »Muss ein Versehen sein. Ich kümmere mich gleich darum.«
Er stand auf und ging zur Tür.
»Warten Sie, das hat Zeit. Sagen Sie mir einfach, wie genau Sie das Opfer vorgefunden haben.«
Schröder blieb stehen, schielte unschlüssig zum Ausgang, bis ihm offenbar einfiel, wie er den Kopf aus der Schlinge ziehen konnte.
»Kalle kann Ihnen das erklären. Er war als Erster am Tatort.«
Damit schlüpfte er hinaus. Sven hörte einen lauten Wortwechsel. Kurz danach trat ein Uniformierter, etwa in seinem Alter, kreidebleich ins Zimmer. Die mitleiderregende Gestalt erleichterte es ihm, den Ärger über Schröder zu verdrängen und seine Sonnenseite hervorzukehren. Er erhob sich, ging auf den Mann zu und schüttelte ihm freundlich die Hand.
»Sven Hoffmann«, stellte er sich vor.
Der junge Polizeimeister hieß Kalle Klein. Er war sichtlich erleichtert, vom Kriminalkommissar aus Wiesbaden nicht auch als Fußabtreter behandelt zu werden.
»Als Erstes möchte ich bitte eine Kopie dieser Akten, geht das?«, fragte Sven höflich.
»Selbstverständlich, sofort.«
Sein neuer Freund raffte die Papiere und Fotos zusammen, sauste damit hinaus und saß ihm Sekunden später wieder gegenüber. Er schilderte in allen Einzelheiten, was er in jener Nacht beobachtet hatte. Hin und wieder ließ Sven die Bemerkung fallen, dieses oder jenes doch in den Akten festzuhalten, was Klein pflichtbewusst auf seinen Block notierte. Noch eine, zwei Stunden, dachte Sven, und die Akte Ammerkanal würde zum Vorbild für alle künftigen Ermittlungen in Tübingen.
»Das Opfer konnte also noch nicht identifiziert werden«, sagte er, nachdem er sich ein einigermaßen vollständiges Bild gemacht hatte. »Keine Brieftasche, kein Handy – Raubmord?«
Klein nickte eifrig. »Davon müssen wir ausgehen.«
»Nichts in den Taschen, kein Autoschlüssel, Hotelschlüssel. Besteht kein Zweifel, dass das Opfer nicht aus der Gegend stammt?«
»Kein Zweifel«, bestätigte Klein bestimmt. »Wir haben alle gemeldeten Schwarzen überprüft, ebenso die bekannten Unterkünfte der Illegalen. Da waren ein paar Somalier dabei, sonst viele aus Nordafrika, aber kein Schwarzafrikaner.«
Die Sekretärin brachte die Akten mit den Kopien. Er zog die Fotos des Toten hervor und betrachtete sie nachdenklich.
»Das Opfer sieht gepflegt aus, gut situiert, vielleicht ein Geschäftsmann, würde ich sagen.«
Klein nickte zustimmend und machte eine Notiz.
»Möglich, dass er nur zu einer Sitzung hergekommen ist.«
»Das ist sogar sehr wahrscheinlich, pflichtete Klein ihm bei. »Wir haben alle Hotels und Geschäfte abgeklappert. Niemand hat den Mann gesehen.«
Was hatte ein offensichtlich fremder Geschäftsmann, oder was immer er war, nachts um halb zwei in jener Gegend zu suchen?
»Gibt es Kneipen, Nachtklubs, die zur Tatzeit noch nicht geschlossen waren?«
Klein schüttelte den Kopf. »Nicht in diesem Viertel. Wir haben alle Nachtklubs überprüft: negativ.«
»Und andere Kneipen?«
»Waren alle geschlossen.«
»Habt ihr sie überprüft?«
Klein lief rot an. »Noch nicht«, gab er kleinlaut zu und kritzelte eilig eine Notiz auf den Block.
»Hier steht, ein Alois Schmitz hätte die Leiche entdeckt. Ich finde aber seine Aussage nirgends.«
Klein seufzte. »Das ist eine Geschichte für sich, Herr Kommissar. Schmitz gehört zu den Obdachlosen, den Stadtstreichern, die bei warmem Wetter am Kanal nächtigen. Sein Kollege, der Lange, behauptet, Schmitz habe das Opfer entdeckt. Ein weiterer Sandler bestätigt dies. Leider konnte Schmitz sich unbemerkt aus dem Staub machen in der ersten Aufregung. Wir haben ihn am nächsten Tag aufgegriffen und befragt. Der sture Bock hat keinen Ton gesagt. Wir mussten ihn wieder laufen lassen. Es lag nichts weiter gegen ihn vor.«
»Ich möchte mit ihm sprechen – und mit den andern Zeugen, diesem Langen und dem Wirt.«
Klein nickte. »Am besten führe ich Sie zum Tatort. Dort finden Sie alle.«
Draußen prüfte Sven seinen Wagen von allen Seiten. Kratzer im Lack fand er keine, nur einen Bußenzettel an der Scheibe.
»Halteverbot«, grinste Klein.
Dieses Geschäft beherrschten die Kollegen einwandfrei. Er grinste zurück, wobei er ihm den Zettel in die Hand drückte.
»Das ist ein Dienstwagen. Sie werden es Ihren Freunden sicher erklären.
Er öffnete den Wagen und stieg ein. »Na los, ich folge Ihnen.«
»Wir brauchen kein Fahrzeug. Zum Kanal hinunter sind es nur ein paar Schritte.«
»Zu Fuß? Das ist nicht Ihr Ernst!«
Er mochte sich nicht ausmalen, was die Leute auf dem Land unter ein paar Schritten verstanden. Zudem brauchte er unter Umständen Material aus seinem Kofferraum.
»Kommen Sie schon, steigen Sie ein.«
Klein nahm zögernd neben ihm Platz. Er sprach leise, während er ihn zur Hauptstraße und durch den Fußgängerbereich zu einem prächtigen Fachwerkhaus lotste. Er schien sich davor zu fürchten, als Uniformierter in diesem Sportwagen ertappt zu werden.
Der Weg zwischen Kanal und Nonnenhaus führte in einen überdachten Durchgang. Dort befand sich der Tatort, wie er aus den Akten erfahren hatte. Klein führte ihn an die Stelle, wo das Opfer offenbar zu Boden gesunken war und Blut verloren hatte, bevor der Täter den Leichnam in den Kanal stieß.
»Sie werden nicht mehr viel finden«, meinte er. »Der Tatort ist gründlich gereinigt worden. Die vielen Touristen, wissen Sie.«
Es war düster im schattigen Durchgang. Sven verglich das Tatortfoto mit der Umgebung, stellte sich vor, wie die Tat abgelaufen war, und fand nur bestätigt, was in den Akten stand. Auch bei genauem Hinsehen waren keine Spuren mehr zu entdecken.
»Warten Sie einen Moment, und halten Sie die Leute fern«, bat er. »Ich bin gleich zurück.«
Er holte die UV-Lampe, den Luminol-Spray und eine Decke aus dem Wagen. Die Sachen gehörten zum Instrumentarium der Kriminaltechnik, doch Chris bestand darauf, sie stets dabei zu haben. »Wichtiger als die ›Glock‹«, behauptete sie, und er musste ihr nach vier Jahren als ihr Partner widerwillig zustimmen. Am Tatort faltete er die Decke auseinander und hielt sie so, dass möglichst wenig Licht auf die Stelle fiel, wo das Opfer gelegen hatte.
»Halten Sie sie bitte mal genau so«, forderte er den verdutzten Polizeimeister auf.
Der zögerte, bevor er die Decke mit rotem Kopf um die Schultern schlang und die Arme ausbreitete wie Batman vor dem Abflug.
»Weitergehen, es gibt nichts zu sehen!«, herrschte er die immer zahlreicheren Gaffer an.
Sven sprühte die Chemikalie auf den Boden und schaltete das ultraviolette Licht ein. Trotz der Abschirmung war es immer noch störend hell im Durchgang. Die Hoffnung, doch noch etwas zu entdecken, schwand mit jeder Sekunde. Plötzlich leuchteten jedoch einzelne Flecke auf. Wie auf den Stein projiziert, zeichnete sich die Blutlache grünlich schimmernd ab, deutlich genug, um die Lage des Körpers zu sehen.
»Heidenei!«, rief Klein verblüfft aus. »Ich dachte, die hätten gründlich geputzt.«
»Blut ist eben ein ganz besonderer Saft«, lächelte Sven.
Wie auf dem Foto konnte er den Anfang der Schleifspur zum Kanal erkennen. Noch etwas bemerkte er, was auf dem Bild nicht zu sehen war.
»Was ist das?«
Er deutete auf ein viereckiges Muster am Rand der Spur. Klein beugte sich mit ausgebreiteter Decke über ihn, was den Zuschauern großes Vergnügen bereitete.
»Könnte der Abdruck eines Etuis sein, ein Schlüsselbund vielleicht.«
Sven nickte. »Oder ein Handy, das dem Opfer aus der Tasche gefallen ist.«
Klein beugte sich tiefer. »Leuchten Sie mal hierher.«
Schwach zwar, aber doch deutlich erkennbar, zeichnete sich der Sohlenabdruck einer breiten Schuhspitze mit teilweise fehlendem Profil ab.
»Sieht aus wie ein Militärschuh«, murmelte Klein verlegen. »Davon steht nichts in den Akten.«
»Das Gefühl habe ich auch.«
Sven schluckte seinen Ärger hinunter und wies Klein an, den Tatort nochmals gründlich untersuchen zu lassen.
»Sie müssen wieder absperren«, fügte er hinzu, während er die neuen Spuren zur Sicherheit mit seinem Handy festhielt. Dann erhob er sich und erlöste Klein von seinem Umhang. Er wollte jetzt mit dem Zeugen Schmitz reden.
»Seit wann fährt ihr Bullen Porsche?«, grinste der lange, dünne Mann mit den fettigen Locken auf der Bank am Steg. Typ gescheiterter Künstler, dachte Sven. Der musste der Lange sein.
»Das ist Kriminalkommissar Hoffmann vom BKA«, sagte Klein mürrisch. »Er möchte mit euch sprechen wegen dem Toten.«
Der Lange schoss auf, wobei eine süßliche Alkoholfahne zu ihnen herüber wehte. Er versuchte eine zackige Achtungsstellung und rief aus:
»Lange meldet sich zur Stelle, Gomi – Kommissar.«
»Lass den Blödsinn«, wie Klein ihn zurecht. »Wo ist Schmitz?«
»Der Nazi? Ausgeflogen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Sven.
»Wie ich es sage. Kurz, nachdem ihr ihn wieder habt laufen lassen, hat er seine Sachen gepackt und ist ausgeflogen, der Vogel.«
Klein hakte ärgerlich nach. »Wie, seine Sachen gepackt. Macht er Ferien oder was?«
Lange ließ seinen Blick unschlüssig vom Polizeimeister zu ihm wandern. Wie es aussah, verspürte er wenig Lust, mit Klein zu reden. Die Alkoholfahne brachte Sven auf die rettende Idee. Er bedeutete Klein, sich um die Absperrung zu kümmern, dann schlug er Lange vor, die Unterhaltung in der Kneipe weiterzuführen. Der Sandler warf seinen Kumpeln einen triumphierenden Blick zu, bevor er mit Riesenschritten voranging.
Sven fragte gar nicht erst nach Kaffee. »Möchten Sie ein Bier?«
Lange rümpfte die Nase.
»Ein Glas Wein?«
»Trester.«
Das Schnapsglas war leer, bevor er selbst den ersten Schluck heißen Kaffee getrunken hatte. Er gab vor, Langes Blick aufs leere Glas nicht zu bemerken und forderte ihn auf, seine Version der Geschichte zu erzählen. Der chaotische Bericht drohte mehrfach auszuufern, denn Lange konnte es nicht lassen, seinem Ärger über die falsche Gesinnung des verschwundenen Zeugen Schmitz Luft zu machen.
»Was ist denn so falsch daran?«, wagte Sven zu fragen.
»Mensch! Der ist ein Nazi! Schwarze sind für den nur Neger, Abschaum. Ich glaube, der war richtig froh, den schwarzen Toten da unten im Kanal zu sehen.«
»Und Sie?«
Lange starrte ihn entsetzt an. »Sehe ich aus wie ein Nazi?«
»Man sieht den Menschen oft nicht an, was sie denken.«
»Hast du eine Ahnung. Schmitz sieht und hört man es von weitem an, mit den Kampfstiefeln und seinem beschränkten Wortschatz und allem.«
»Kampfstiefel?«
Lange nickte heftig und trommelte mit dem leeren Schnapsglas im Takt marschierender SS auf den Tisch. Kampfstiefel! Die Bedeutung des Zeugen Schmitz wuchs gerade exponentiell.