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»Haben Sie wirklich keine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte?«
Lange konzentrierte sich auf sein Glas. Als das nichts fruchtete, sagte er verschmitzt:
»Hosch abr a schee Audo.«
»Wie bitte?«
»Ein schönes Auto hast du.«
»Was hat das mit Schmitz zu tun?«
»Kann man mal eine Runde drehen?«
Sven lachte laut auf. »Sie haben getrunken, Mann! Besitzen Sie überhaupt einen Führerausweis?«
»Ja, bin i denn halbbache! Ich meine doch, du sollst mich herumkutschieren.«
»Geht nicht. Das ist ein Dienstwagen.«
Lange spitzte die Lippen und hob das Glas, um den letzten Tropfen herauszusaugen.
»Das wäre ja auch eine Dienstfahrt«, sagte er nach einer Weile.
Sven sah ihn verwirrt an und wartete auf eine Erklärung.
»Brauchst nicht so verstört zu gucken. Vielleicht weiß ich ja, wo sich der Nazi versteckt.«
Schwäbische Alb
Sven fluchte leise, als die Tankanzeige aufleuchtete. Er wollte die Fahrt mit dem übel riechenden Beifahrer so schnell wie möglich hinter sich bringen. Schon die zehn Minuten bis Reutlingen reichten ihm. Jeder Unterbruch qualifizierte als Folter und verstieß klar gegen die Menschenrechte. Griesgrämig hielt er bei der nächsten Tankstelle an.
»Gut, ich muss nämlich mal«, grinste Lange.
Sven füllte den Tank, bezahlte, aber sein Beifahrer blieb verschwunden. Hinter dem Haus fand er ihn. Die brennende Zigarette im Mund, pinkelte er sichtlich vergnügt an die Wand.
»He, was soll das? Machen Sie sofort die Zigarette aus. Das ist eine verdammte Tankstelle.«
Dass Langes Abwasser ins Kellerfenster tropfte, störte ihn nicht, aber er war noch zu jung, um lebendig flambiert zu werden. Die Zigarette fiel dem Sandler aus dem Mund und erlosch in seinem Strahl. Zufrieden zog er den Reißverschluss zu, strich die Hände an der Hose ab und kam auf ihn zu.
»Im Haus gibt’s Pissoirs und fließendes Wasser«, brummte Sven angewidert.
»Ich kann nicht in geschlossenen Räumen. Ist schlecht für meine Kreativität, weißt du.«
»Ihre Kreativität wird gleich noch mehr leiden, wenn ich Sie wegen Behinderung der Justiz einbuchte. Ich frage zum letzten Mal: Sind Sie sicher, dass wir Schmitz hier finden?«
»Sicher ist nur der Tod.«
Er verspürte nicht übel Lust, den sturen Langen einfach stehen zu lassen, die Fahndung nach Schmitz einzuleiten und auf schnellstem Weg nach Wiesbaden zurückzufahren.
»Die Albstraße hinauf nach Sankt Johann, du wirst schon sehen«, sagte Lange und setzte sich mit erwartungsfrohem Grinsen auf den Beifahrersitz.
Sein Spyder war kein Auto für Bergrennen, dennoch reizte es ihn, dem Langen ein wenig Angst einzujagen. Auf der Geraden vor der ersten Spitzkehre beschleunigte er weit über die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Erst kurz vor der Kurve bremste er hart ab, um sogleich wieder abrupt aufs Gas zu drücken. Er schielte kurz zu seinem Beifahrer hinüber. Der hing angespannt, mit weißen Knöcheln, aber glücklich lächelnd im Gurt. Wenigstens kam er so ein paar Sekunden schneller ans Ziel, tröstete er sich. In der Ferne tauchten die ersten Häuser von Sankt Johann auf.
»Wo finden wir nun den Schnapsladen?«, fragte er.
»In Sankt Johann.«
»Sehr hilfreich. Da sind wir jetzt.«
Da sie nun wieder vorschriftsmäßig unterwegs waren, wagte Lange, sich ein wenig zu entspannen. Er reckte den Hals, als würde er sein Zoomobjektiv ausfahren.
»Wahrscheinlich auf der andern Seite am Ausgang des Dorfs«, murmelte er unsicher.
»Ich höre wohl nicht richtig«, fuhr Sven auf. »Sie wissen gar nicht, wo Schmitz’ Schwager wohnt?«
»Sagte ich doch schon. Die Adresse habe ich vergessen, aber das Haus kenne ich, wenn ich es sehe.«
»Das beruhigt mich ungemein.«
Er fuhr langsam durch das Dorf, das aus kaum mehr als der Hauptstraße bestand, gesäumt mit Fachwerkbauten und einigen moderneren Geschäften. Sie hatten die letzten Häuser fast erreicht, da bemerkte er die Reklametafel: ›Scholz Branntwein aus der Schwäbischen Alb‹.
»Da!«, rief Lange überflüssigerweise.
Einen Schnapsladen gab es zwar auch, wie er behauptet hatte, aber der Hauptzweck von Karsten Scholz’ Firma war nicht der Verkauf über die Ladentheke, sondern das Brennen von Hochprozentigem aus Trauben, Obst und Gerste. Scholz betrieb eine der wenigen Whisky-Destillerien auf der Alb. Wahrscheinlich für Kunden, die dem Scotch nicht trauten, dachte er beim Betrachten der Auslage.
»Es gibt heute leider keine Führung«, sagte die Frau hinter der Theke mit einem misstrauischen Blick auf seinen Begleiter. »Schauen Sie sich nur ungeniert um. Sie können auch gerne von unsern Produkten kosten.«
Er schüttelte den Kopf. »Danke, aber wir möchten nur mit Herrn Scholz sprechen, Karsten Scholz.«
»Mein Mann ist im Lager. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
Lange öffnete den Mund, doch Sven schnitt ihm das Wort ab:
»Das kann ich mir gut vorstellen. Wir sind nämlich auf der Suche nach Alois Schmitz.«
Die Freundlichkeit wich augenblicklich aus ihrem Gesicht. Sie warf ihm einen erschrockenen Blick zu, dann murmelte sie verlegen: »Moment«, und entwischte durch die Hintertür.
Es dauerte nicht lang, bis ein vierschrötiger Mann mit grimmiger Miene den Laden betrat.
»Hier gibt es keinen Alois Schmitz«, behauptete er. »Und jetzt machen Sie, dass Sie weiterkommen, sonst rufe ich die Polizei.«
»Karsten Scholz?«, fragte Sven ungerührt, während er seine Dienstmarke aus der Tasche zog.
»Habe ich mich nicht klar …«
Scholz stockte, sobald er begriff, wer vor ihm stand.
»Kriminalkommissar Hoffmann, BKA«, stellte Sven sich vor.
Lange grinste breit, trat rasch einen Schritt vor und sagte, bevor er ihn daran hindern konnte:
»Lange, verdeckte Ermittlung.«
Sven dachte schnell ans stinkende Leder im Boxster, um den Lachreiz zu unterdrücken, doch auf Scholz schien der Schwindel großen Eindruck zu machen. Er sah ein, dass es zwecklos war, den Bruder seiner Frau weiter zu verleugnen.
»Was wollen Sie von Alois?«, fragte er kleinlaut.
»Wir müssen mit ihm sprechen. Ist er hier?«
Er brauchte Zeit, sich die Antwort zurechtzulegen.
»Ich weiß nicht«, begann er endlich zögernd. »Wir haben kein sehr enges Verhältnis, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Seine Frau kehrte zurück und beobachtete sie ängstlich aus dem Hintergrund.
»Ist er oben in der Hütte?«, fragte Lange unvermittelt zu aller Verblüffung.
Die Frau stieß einen Schreckensruf aus. Sven hatte keinen Schimmer, wovon der verdammte Lange sprach, doch dessen Frage traf offensichtlich ins Schwarze.
»Schmitz ist also in der Hütte«, sagte er mit vorwurfsvollem Blick Richtung Scholz. »Ich muss Sie bitten, uns zu begleiten.«
Wenig später folgte der weiße Porsche mit Mühe dem Geländewagen des Schnapsfabrikanten. Die schmale Bergstraße mündete bald in eine raue Naturstraße, dass der hart gefederte Boxster tanzte und schlingerte wie eine Jolle auf schwerer See.
»Geht das noch lange so?«, fragte Sven mürrisch.
Lange zuckte die Achseln. »War nie in der Hütte.«
Die Straße, nicht viel mehr als ein Saumpfad, führte durch ein Waldstück. Kurz bevor sie den Schutz der Tannen verließen, hielt Scholz an und stieg aus.
»Ich hole ihn«, sagte er. »Ist besser, wenn er nur mich sieht.«
»Kommt nicht infrage. Ich komme mit«, knurrte Sven. Lange schärfte er ein: »Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle. Nichts anfassen, kapiert?«
Die Alm und der angrenzende Wald gehörten zum Besitz der Brennerei. Schmitz verbrachte jedes Jahr im Spätherbst ein paar Tage in der Hütte des Schwagers, wie Lange ihm erzählt hatte. Offiziell um Holz zu hacken, doch jedes Mal kehrte er mit einem Rucksack voll erlesener Wässerchen und einem ansehnlichen Schinken nach Tübingen zurück. Das war der Grund, weshalb die andern Obdachlosen den Nazi am Ammerkanal überhaupt duldeten.
Sie näherten sich der Hütte. Scholz stieß die Tür auf. Schmitz war nicht zu Hause. Schmutziges Geschirr auf dem Tisch, das Stück Brot daneben und der Beutel am Boden neben dem Ofen deuteten auf den Bewohner hin.
»Weit kann er nicht sein«, murmelte Scholz mit einem Blick auf die halb volle Weinflasche, »vielleicht auf dem Abtritt.«
Er meinte das Klohäuschen hinter dem Haus. Sven bemerkte es, als er den Kopf aus dem Fenster streckte. Tatsächlich trat ein Mann mit schütterem Haarkranz unter der Glatze auf die Wiese. Seine Füße steckten in schweren Kampfstiefeln. Er kehrte zur Hütte zurück und blieb erschrocken stehen unter dem Türrahmen, als er die unerwarteten Gäste entdeckte.
»Keine Sorge, Alois«, beruhigte Scholz sogleich. »Das ist Kommissar Hoffmann. Er möchte dir nur ein paar Fragen stellen.«
Schmitz’ blitzschnelle Reaktion verblüffte beide. Als hätte er den Leibhaftigen gesehen, nahm er Reißaus, stürmte auf den Wald zu und verschwand zwischen den Bäumen.
»Herrgottssakrament! Alois! Lass den Scheiß und komm zurück!«, schrie Scholz ihm nach, doch der Wald hatte seinen Schwager verschluckt.
»Vielen Dank für die gelungene Vorstellung«, sagte Sven ätzend.
Scholz rannte hinaus und lief laut rufend und fluchend hinter dem Flüchtenden her.
»Das hast du toll hingekriegt, Kommissar Hoffmann«, brummte Sven zerknirscht.
Er dachte nicht daran, dem Sandler nachzurennen. Falls er nicht wieder auftauchte, würde er die Fahndung auslösen. Er sah sich nochmals gründlich um in der Hütte, fand jedoch außer dem Beutel mit Schmitz’ Habseligkeiten nichts, was ihn interessierte. Er packte den Sack und machte sich auf den Weg zurück zum Auto. Scholz war bereits dort. Er unterhielt sich mit Lange. Daneben stand Schmitz mit einem Gesicht, als ginge ihn das alles nichts an.
Sven zeigte ihm den Ausweis und fragte: »Alois Schmitz, sind Sie jetzt bereit, meine Fragen zu beantworten?«
Statt den Mund zu öffnen, griff Schmitz nach dem Beutel, um ihn an sich zu reißen. Sven war schneller.
»Ihre Sachen sind beschlagnahmt. Zeigen Sie mir bitte die rechte Schuhsole.«
Schmitz duckte sich, als wollte er ihn schlagen, und suchte ängstlich nach einem Ausweg wie ein in die Enge getriebenes Reh. Alles deutete darauf hin, dass er im nächsten Augenblick wieder ausbüxen würde.
»Mir reicht’s«, schnaubte Sven.
Der Beutel fiel zu Boden. Er drehte Schmitz mit geübtem Griff die Arme auf den Rücken und ließ die Handschellen zuschnappen. Schmitz gab immer noch keinen Ton von sich. Sein Schwager protestierte umso lauter, worauf der verdeckte Ermittler Lange ihn sofort in die Schranken wies:
»Er will es nicht anders. Sonst kann er die Klappe doch auch nicht halten.«
Svens Handy klingelte. ›Chris‹ kündigte das Display an. Er ließ es klingeln. Das Letzte, was er jetzt brauchte, waren ironische Kommentare seiner Partnerin. Zuerst musste er diesen Albtraum beenden.
»Alois Schmitz, Sie kommen mit nach Wiesbaden zur Vernehmung«, sagte er kurz entschlossen. »Sie fahren mit Herrn Scholz nach Sankt Johann zurück. Ich sorge dafür, dass Sie eine Streife dort abholt.«
»Das hast du jetzt davon«, grinste Lange zu Schmitz, der immer noch nicht reden konnte.
»Lange, Sie fahre ich nachher wieder zum verdeckten Einsatzort.«
Langes Grinsen drohte das Gesicht zu sprengen, während er seine Spinnenbeine umständlich im Boxster verstaute.
Wiesbaden
Chris beobachtete Sven durch den halbdurchlässigen Spiegel. Seit einer Viertelstunde versuchte er, Schmitz zum Reden zu bringen, doch der saß blass und reglos vor dem Mikrofon, als hätte ihn die Totenstarre erfasst. Das wird nix, dachte sie. Sven zog offensichtlich denselben Schluss. Er stand auf, beugte sich über den Tisch und schaute dem ›Toten‹ tief in die Augen.
»Ihr Schweigen hilft Ihnen nicht«, sagte er mit eindringlicher Stimme. »Sie waren am Tatort, das beweist Ihr Schuhabdruck im Blut. Sie haben kein Alibi für die Tatzeit. Das Handy des Opfers lag in Ihrem Beutel, mit Ihren Fingerabdrücken. Sie hassen Ausländer, insbesondere Schwarze, beschimpfen sie als Neger. Und Sie sind geflohen. Es sieht gar nicht gut aus für Sie, Alois Schmitz.«
Damit ließ er ihn sitzen und verließ den Verhörraum. Gereizt trat er auf Chris zu.
»Sag jetzt nichts! Eine, zwei Nächte in der Zelle, und er wird reden, jede Wette.«
Es klang nicht, als glaubte er selbst daran.
»Kaffee?«, fragte sie.
»Verflucht!«
Sie übersetzte das mit Ja und ging voran zum Automaten. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigte, dann bemerkte sie beiläufig:
»Vielleicht hat er einfach Angst vor dir.«
»Dazu gibt’s auch verdammt gute Gründe.«
»Sicher, bloß wird er so nicht gesprächiger.«
Er sah sie mürrisch an. »Kannst es gern selbst versuchen, wenn du das meinst.«
Sie nickte lächelnd. »Warte, es dauert nur eine Minute.«
Eilig holte sie ihre Tasche im Büro und zog sich damit auf die Toilette zurück. Vor dem Spiegel löste sie die Masche vom Zopf, schlang ihn um den Kopf und befestigte das Kunstwerk so gut es ging mit den zwei Klammern, die ihre Tasche hergab. Das Spiegelbild entsprach nicht ihrer Idealvorstellung, aber der Effekt musste genügen. Die Lippen glänzten zu stark. Mit einem feuchten Tuch rieb sie etwas Farbe ab. Zuletzt knöpfte sie die Bluse bis oben zu, machte ein strenges Gesicht und hielt nochmals stille Zwiesprache mit dem Spiegelbild.
Sven erschrak, als er sie so sah.
»Ich weiß, die Hosen stören«, grinste sie. »Was meinst du, sieht das arisch genug aus?«
Er räusperte sich verlegen, bevor ihm die passende Antwort einfiel:
»Richard Wagner wäre begeistert.«
»Gut, das reicht.«
Sie betrat das Verhörzimmer mit dem Gesichtsausdruck der Walküre vor dem Ausritt, den sie geübt hatte. Schmitz bewegte sich keinen Millimeter, aber seine Augen erwachten zu neuem Leben, verfolgten jede ihrer Bewegungen. Sie setzte sich ihm gegenüber, rückte nah an den Tisch, damit er nur das altdeutsche Oberteil sehen konnte, dann richtete sie Block und Stifte peinlich genau senkrecht zur Tischkante aus. Sie schaltete das Aufnahmegerät ein und sprach ins Mikrofon:
»Sechsundzwanzigster August, vierzehn Uhr fünfunddreißig. Fortsetzung der Vernehmung von Alois Schmitz. Anwesend sind Kriminaloberkommissarin Dr. Hegel und Alois Schmitz.«
Sie sah ihn schweigend an, bis er den Blick senkte. Zu seiner Verblüffung stoppte sie die Aufnahme wieder und schob das Mikrofon beiseite. Dann formulierte sie die erste Frage in einer Sprache, die er verstehen musste:
»Hat der Neger Sie provoziert? Haben Sie deshalb zugestochen?«
Ein Ruck ging durch seinen Körper, als spürte er selbst den Dolch zwischen den Rippen.
»Ich hab die Sau nicht …«
»Man hat es oft nicht mehr leicht als Deutscher in Deutschland. Ich verstehe …«
»Ich hab ihn nicht – er war schon tot, wie ich …«
»Wie Sie was?«
»Ich bin hingegangen, nachschauen, als er weg war.«
»Wer, der Täter? Haben Sie gesehen, wer es getan hat?«
Er schüttelte den Kopf. »Die haben gestritten.«
Schmitz war soweit. Sachte zog sie das Mikrofon wieder heran und schaltete unauffällig auf Aufnahme.
»Sie haben nichts zu befürchten, wenn Sie unschuldig sind«, beruhigte sie. »Erzählen Sie mir einfach von Anfang an, was in jener Nacht geschehen ist.«
Kaum ein ganzer Satz kam aus seinem Mund, aber er redete, nur das zählte. Am Ende der mühsamen Unterhaltung fügten sich die Bruchstücke zu einer geradlinigen Geschichte zusammen. In jener Nacht konnte er nicht schlafen. Plötzlich hörte er Schritte im Durchgang beim Nonnenhaus, dann Stimmen. Zwei Männer stritten sich, behauptete er. Das Gespräch brach unvermittelt ab. Es blieb kurze Zeit ruhig, bis er hörte, wie etwas Schweres ins Wasser plumpste. Er traute sich nicht, nachzusehen, wartete, bis der Harndrang zu stark wurde. Beim Urinieren entdeckte er die Leiche im Kanal. Etwa zehn Minuten später, als er sicher war, dass alles ruhig blieb, wagte er sich an den Tatort im Durchgang. Er sah das zertrampelte Handy am Boden liegen, hob es auf und steckte es ein, wie er alles erst einmal einsteckt, was er findet. Dabei trat er aus Versehen in die Blutlache. Kurz danach weckte er den Langen und den Benjamin. Soweit hörte sich seine Version ganz plausibel an, dachte sie, bevor sie nachhakte:
»Die Männer, die stritten – haben Sie verstanden, worüber sie sprachen?«
»Wie denn«, lachte er verächtlich. »Die versteht doch keine Sau, die Neger.«
»Wie bitte?«, fuhr sie überrascht auf. »Habe ich Sie richtig verstanden? Sie glauben, es waren zwei Schwarze?«
»Gesehen habe ich nichts, aber die hatten beide so komische Stimmen.«
Sie beendete die Vernehmung und suchte als Erstes die Toilette auf, um sich zu modernisieren. Sven unterhielt sich mit dem Staatsanwalt, als sie hinzutrat.
»Nun, haben wir ihn?«, fragte Richter.
Sein zufriedenes Gesicht ließ nur eine Antwort zu, die falsche.
»Schmitz’ Geschichte passt zu den Indizien und Zeugenaussagen«, gab sie zu bedenken.
Sven rümpfte die Nase. »Du glaubst ihm?«
»Außer dem kaputten Handy haben wir nichts Verdächtiges bei ihm gefunden. Außerdem gibt es keinen Hinweis auf die Tatwaffe. Sein Taschenmesser kommt nicht für die Tat infrage. Und – warum soll er den Streit zwischen zwei Schwarzen erfunden haben?«
»Scheint mir naheliegend bei diesem Nazi«, entgegnete Sven.
»Wir suchen also den unbekannten Dritten«, stellte Richter ärgerlich fest. »Das gefällt mir gar nicht, müssen Sie wissen, ganz und gar nicht. Ich will diese Sache so schnell wie möglich vom Tisch haben. Es gibt wahrlich anderes zu tun.«
Kopfschüttelnd eilte er zu den Aufzügen.
»Kannst du mir verraten, was in seinem Kopf vor sich geht?«, fragte Sven mürrisch.
Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es der zunehmende Realitätsverlust im Alter.«
Sven beobachtete durch den Spiegel, wie Schmitz unruhig auf und ab lief. Unvermittelt stand Chris’ Freundin Caro von der Kriminaltechnik neben ihnen.
»Ich fürchte, er muss mal«, schmunzelte sie.
»Den Gedanken hatte ich auch schon«, murmelte Sven.
Caro reichte Chris ein Blatt Papier. Es war ein Fax aus Stuttgart.
»Ich dachte, das würde euch interessieren«, bemerkte sie dazu.
Die Techniker des Landeskriminalamts hatten Schmitz’ DNA mit den Spuren an der Leiche verglichen: Ergebnis negativ. Die Konsequenz lag auf der Hand.
»Wir müssen ihn laufen lassen«, sagte Chris. »Ich informiere Richter.«
»Viel Spaß«, knurrte Sven grimmig.
Tübingen
Er wusste jetzt, wer der Mann war, mit dem der Reporter so lang über seinen Freund gesprochen hatte. An jenem Abend hatte er ihn am Schlossberg aus den Augen verloren. Ein paar grölende Spätheimkehrer, die eigentlich noch keinen Alkohol trinken durften, hatten ihn kurz abgelenkt, da war der Alte zwischen den Häusern verschwunden. Erst am nächsten Morgen bei Tageslicht entdeckte er den Pfad zum Schloss hinauf. Oben im Schutz der Bäume beim Schlossgraben hatte er den ganzen Nachmittag den kleinen Parkplatz und die wenigen Häuser an der Straße beobachtet. Er durfte auf keinen Fall aufgeben. Der Alte war zu gefährlich. Endlich, gegen Abend, geschah es. Sein Mann tauchte oben am Ende des Fußwegs auf und überquerte die Straße. Er ging auf eine altertümliche Villa zu, leerte den Briefkasten und betrat das Haus. Seither hatte er es nicht mehr verlassen. Es war eine einsame Gegend. Neugierige Touristen verirrten sich kaum hierher, sodass er ungestört auf seinen Augenblick warten konnte. Es begann zu dunkeln. Die Vögel im Geäst über ihm gaben endlich Ruhe. Nach und nach erloschen die Lichter in den Häusern. Wer in dieser Gegend wohnte, ging früh zu Bett. Auch im Haus des Alten wurde es dunkel, bis auf einen Lichtschimmer im Garten über dem Neckar.
Es war soweit. Geräuschlos und unsichtbar wie ein Phantom huschte er auf das Grundstück, ums Haus herum zur Terrasse und spähte ins Zimmer, aus dem der Lichtschein drang. Der alte Mann saß lesend am Fenster. Sonst befand sich an diesem Abend niemand im Haus. Das glaubte er sicher zu wissen. Selbst wenn jemand in einem der Zimmer schliefe, spielte es keine Rolle. Das Phantom würde niemanden wecken. Wie aus dem Nichts materialisierte er vor der Terrassentür und klopfte leise an die Scheibe. Der Alte reagierte genau wie erwartet. Statt zu erschrecken, blickte er ihn nur verwundert an, legte das Buch beiseite und öffnete die Tür.
Wiesbaden
Chris hob den Hörer ab.
»Gute Nachrichten«, sagte Caro. »Wir konnten die Daten auf dem Chip des Handys rekonstruieren. Der Telefonspeicher ist im Eimer, aber der Chip war noch lesbar.«
Die erste wirklich gute Nachricht in diesem Fall, der eigentlich gar nicht ihrer sein sollte.
»Na also, schieß los.«
»Ein wenig Begeisterung hätte ich schon erwartet«, gab Caro zu bedenken. »Die meisten Kontakte gehören zu Nummern mit der Vorwahl +264 61.«
Chris tippte die Ziffern wie elektrisiert ins Suchfenster auf ihrem Computer.
»Du brauchst nicht nachzusehen. Es ist die Vorwahl von Windhoek, Namibia. Der Besitzer des Handys heißt Usko Mwilima. Er ist – war – Journalist bei der Zeitung ›Namibian‹ in Windhoek. Du hast alles in der Mail.«
»Jetzt solltest du mich sehen!«, platzte Chris heraus. »Ich glühe vor Begeisterung. Vielen Dank, ich liebe euch Laborratten.«
Caros Mail enthielt nicht nur das Ergebnis der Analyse, sondern ein erstaunlich umfangreiches Dossier über den namibischen Journalisten, Artikel, die er veröffentlicht hatte und die Zeitung, für die er arbeitete. Sie wählte die Telefonnummer der Redaktion. Minutenlang hörte sie dem elektronisch verfremdeten Rhythm and Blues in der Warteschlaufe zu, bis eine Frauenstimme sie erlöste.
»Ich möchte bitte mit Usko Mwilima sprechen«, sagte sie, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
Die Antwort kam erst nach langem Zögern: »Ich werde Sie zurückrufen.«
Sie blieb ungeduldig sitzen, hörte mit einem Ohr zu, wie Sven immer abenteuerlichere Argumente vorbrachte, um den Preis der neuen Stoßdämpfer für seinen ruinierten Boxster zu drücken. Schließlich knallte er den Hörer auf die Gabel und holte tief Luft. Er kam nicht dazu, ihr sein Leid zu klagen, denn beide Telefone klingelten gleichzeitig. Die Frau aus der Redaktion hielt ihr Versprechen.
»Sie möchten Mr. Mwilima sprechen?«
»So ist es.«
»Es tut mir leid, Kommissarin. Mr. Mwilima ist außer Haus. Worum geht es?«
»Können Sie mir sagen, wann er zurückkehrt?«
Die Frau zögerte. »Nein – das ist schwer zu sagen, wenn er auf Recherche unterwegs ist.«
»Wo ist er denn unterwegs, woran arbeitet er?«
»Das ist vertraulich. Warum interessiert sich die deutsche Polizei für ihn?«
Die ausweichenden Antworten bekräftigten Chris’ Verdacht, die Redaktion tappte selbst im Dunkeln über Mwilimas Schicksal. Dabei würde es bleiben bis zur sicheren Identifikation des Opfers.
»Wann hatte er zuletzt Kontakt mit der Redaktion?«
»Vor etwa einer Woche, soweit ich mich erinnere. Hören Sie, ich muss jetzt wirklich wissen, weshalb Sie …«
»Es geht um eine Zeugenaussage«, flunkerte sie. »Um sie zu verifizieren, müssen wir mit Mr. Mwilima sprechen. Wir haben versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber er meldet sich nicht.«
Sie las die Handynummer von Caros Mail ab und fragte:
»Das ist doch seine Nummer, nicht wahr?«
»Ja!«, platzte die Frau überrascht heraus. »Woher haben Sie die?«
Punkt eins ist immerhin geklärt, dachte sie erleichtert. Aber war Mwilima auch das Opfer? In Caros Unterlagen fand sich nicht ein einziges Foto von ihm. Sie war auf die Mitarbeit dieser Frau angewiesen, also antwortete sie behutsam:
»Ich darf leider keine Einzelheiten über die laufenden Ermittlungen bekannt geben. Das werden Sie sicher verstehen. Trotzdem hätte ich eine Bitte: Wären Sie so nett, uns ein aktuelles Foto von Mr. Mwilima zu mailen?«
»Ein Foto? Warum?«
»Wie gesagt, wir müssen Zeugenaussagen verifizieren.«