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»Du sollst mich nicht Kleiner nennen. Ich bin …«
»Sechzehn, ich weiß. Das ist es ja. Du gehörst nicht in dieses Loch. Du gehörst in die Schule und dann an die Uni, verdammt noch mal.«
»Ach ja? Und wer bezahlt mein Studium? Du und deine feinen Freunde? Ihr seids doch eh die Nega.«
»Eben! Willst du unbedingt auch so enden?«
Es war hoffnungslos. Er setzte die Mütze auf und machte sich auf den Weg zur Garage. Zlatko hatte endlich einen Kunden für die Fliesen gefunden, die noch im Lieferwagen lagen.
»Wenn ich wenigstens Leinwand hätte, könnte ich vielleicht ein paar Bilder verkaufen«, rief ihm Lorenz nach.
Er stoppte abrupt, als wäre er gegen die Wand gelaufen. Auf die Idee, jemand könnte das Geschmier kaufen, wäre er im Leben nie gekommen. Aber vielleicht lag der Kleine richtig. Er machte sich jedenfalls eine Gedankennotiz: Leinwand. Leintücher würden bestimmt irgendwo in dieser großen Stadt herumliegen.
An der Abzweigung, wo der Bentley das Graffiti des Kleinen geküsst hatte, stand wieder eine Luxuskarosse, ein Maserati Quattroporte. Er hatte eben angehalten. Im Rückspiegel sah Ferdl den charakteristischen weißen Schopf über den Hosenträgern. Der Galerist war wieder da. Diesmal mit einem Ersatzwagen für den Bentley. Klar, ein Maserati musste es schon sein, mindestens. Noch etwas hatte er dabei, der nette Herr Horvath.
Ferdl trat auf die Bremse, dass die Reifen quietschten. So etwas hatte er lange nicht gesehen, schon gar nicht aus der Nähe. Eine Göttin stieg aus dem Maserati. Dunkelblonde, lange Haarsträhnen umrahmten ein Gesicht, in dem sich eine Enttäuschung spiegelte, die sie wohl erwartet, aber doch nicht erleben zu müssen, gehofft hatte. Ihre Lippen formten ein Lächeln so bittersüß, dass ein Kerl wie Ferdl sie einfach küssen musste. Was spielte es da für eine Rolle, dass sie mindestens zehn Jahre älter war? Er musste aussteigen. Es ging nicht anders.
Sie beachteten ihn erst nicht, zu beschäftigt mit dem Ablichten des Graffitis. Als er sich näherte, hörte er ihre Stimme, das reine Glockenspiel. So also tönte es bei den Göttern.
»Herr Horvath, nicht wahr?«, sagte er, die Augen auf sie gerichtet.
Der Galerist drehte sich verblüfft um. Sein Gesicht hellte sich auf. Die Wangen glühten. Er wandte sich freudig an seine Begleiterin:
»Das ist er, Elli, der Herr, dem ich diese Entdeckung zu verdanken habe.«
»Und den kaputten Bentley«, fügte sie hinzu, Ferdl misstrauisch musternd.
Horvath lachte. »Das habe ich schon selber verbockt.«
Er stellte die Göttin als Magistra Elli Popov vor, Kunsthistorikerin in den Diensten der Galerie Horvath am Theatermuseum, Sie wissen schon … Frau Magistra gab ihm ihr Kärtchen.
»Und mit wem habe ich die Ehre?«
Ferdl wähnte sich in jenem Film, der auf ein grandioses Happy End zusteuerte. Er hatte den Schluss zufällig im Fernsehen gesehen, weil er nach dem Match vergessen hatte, die Kiste abzuschalten und vorübergehend eingepennt war. Auf das Happy End wartend, vergaß er zu antworten.
»Stimmt«, rief Horvath aus. »Ich war an dem Abend so verwirrt, habe ganz vergessen, den Herrn nach seinem Namen zu fragen.«
»Gruber, Ferdl Gruber«, antwortete er abwesend.
Diese Augen waren tiefer als der Ozean. Wie viele arme Kerle da wohl schon eingetaucht und nie mehr gesehen worden waren? Er musste der Nächste sein, unbedingt. Freudig und mit offenen Augen würde er sich ins Verderben stürzen.
»Also, Herr Gruber, Sie wohnen doch in der Gegend«, vermutete sie, »und Sie wissen wirklich nicht, wer dieses Meisterwerk geschaffen hat?«
Was waren Horvaths Worte? Der Künstler sei ein Genie. Lorenz hatte ein Meisterwerk geschaffen. Diesmal kam das Lob aus dem Mund der Kunsthistorikerin, die es wissen musste. Er war sonst nicht der Schnellste, wenn es um wichtige Entscheidungen im Leben ging, aber angesichts dieser göttlichen Übermacht rückte er mit der Wahrheit heraus, der ganzen Wahrheit und nichts als der Wahrheit.
»Ihnen kann ich es ja verraten«, sagte er. »Sie sind vom Fach.«
Damit meinte er sie und nur sie. Das Misstrauen in ihrem Gesicht wich einem erfreuten Lächeln.
»Sie kennen also den Künstler?«
Er nickte. »Sehr gut sogar. Er ist mein Bruder, Lorenz Gruber.«
Schon war das Misstrauen wieder da. Ferdl beeilte sich, die Behauptung zu belegen, indem er von den zahlreichen Entwürfen erzählte, die zu Hause im Atelier herumlagen. Horvath und Elli brauchten sich nur kurz anzusehen, um sich zu verständigen. Sie nickte, er fragte:
»Herr Gruber, wäre es allzu vermessen, den Meister Lorenz kennenlernen zu wollen?«
»Also – Meister würde ich ihn nicht unbedingt nennen. Er ist sechzehn.«
»Dann wird der Herr Lorenz wohl jetzt in der Schule sein«, vermutete Elli.
»Leider nicht, Gnä‘ Frau. Er beschäftigt sich halt lieber mit Pinsel und Spraydose als mit Schreibstift und gescheiten Büchern.«
»Wann würde den Herren denn ein Besuch konvenieren?«, fragte Horvath.
Aus Verlegenheit sah Ferdl lange auf seine Uhr, dann in die göttlichen Augen. Schließlich antwortete er, wieder seriöser Geschäftsmann:
»Ich habe noch ein paar dringende Lieferungen zu besorgen, aber ich denke, heute Abend nach sechs ließe sich das einrichten.«
Die beiden sahen ihn schweigend wartend an, bis Elli wieder ihr bittersüßes Lächeln aufsetzte.
»Wo sollen wir uns denn melden?«
»Ach so! Sie müssen wissen, wo wir wohnen. Aber klar doch, natürlich, Entschuldigung die Dame …«
Er gab ihnen die Adresse und beeilte sich, wegzukommen. Bevor er sich in den sicheren Lieferwagen rettete, rief er ohne einen Blick zurück:
»Wir sehen uns um sechs.«
Zlatkos Kunde empfing ihn ohne Begeisterung.
»Wo bleiben Sie denn, Mann! Ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Noch zehn Minuten, und das Geschäft wäre geplatzt.«
Ferdl fehlte die Zeit für lange Diskussionen. Es blieben nur noch vier Stunden, um Wohnung und Atelier für den Besuch vorzubereiten. Verdammt wenig, denn er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal aufgeräumt hatten. Er stieg kurzerhand wieder in den Wagen mit der Bemerkung:
»Ich kann die Fliesen auch gleich wieder mitnehmen.«
Man muss Prioritäten setzen, hatte er einmal im Fernsehen aufgeschnappt. Panik ergriff den Kunden. Er wedelte mit den sicherlich genau abgezählten Geldscheinen.
»Laden Sie schon aus, Mann!«
Zwanzig Minuten später platzte Ferdl aufgeregt in die alte Fabrik.
»Lorenz!«
Der Kleine stand keine drei Schritte entfernt vor einem neuen Werk. Er fuhr erschrocken herum. Dabei verschmierte der blaue Fleck zum zornigen Strich.
»Siehst du nicht, dass ich arbeite?«, schrie er zurück, dann wandte er sich wieder dem Gemälde zu.
Farbe tropfte auf den Boden, während Lorenz den artistischen Unfall auf dem Karton betrachtete, in dem bis vor Kurzem eine Matratze Marke ›Concord Big Dream‹ gelegen hatte.
»Leckomio! Jetzt schau dir das an. So ist‘s doch viel besser.«
Ferdl bemerkte keinen Unterschied. Sie brauchten jetzt dringend einen Plan, um dieses Chaos in den Griff zu bekommen. Während er sich umsah, sank sein Herz immer tiefer in die Hose.
»Hör zu, Kleiner, wir müssen aufräumen.«
»Sonst geht‘s dir gut? Und nenn mich nicht Kleiner.«
»Halt einfach die Goschn und spitz die Ohren!«
Er bemühte sich redlich, den Grund für seine neue Ordnungsliebe zu erklären. Lorenz‘ Antwort bestand nur aus einer rhetorischen Frage:
»Du checkst es nicht, oder?«
Damit hatte er nicht gerechnet. Lorenz interpretierte sein leeres Gesicht als ein fettes Ja und erklärte ihm:
»Wir Künstler brauchen das kreative Chaos, Ferdl. Wir können einfach nicht in einem sterilen OP arbeiten. Da stellt es uns den Schnauf ab, verstehst?«
»Ach ja, ist das so? Die Herren Künstler brauchen also die dreckigen Unterhosen und böckelnden Strumpferl am Boden für die göttliche Inspiration? Ich sag dir jetzt was. Um sechs wird hier eine Göttin einfahren, um deine inspirierte Kunst zu bewundern, und dann liegt hier nichts anderes mehr herum. Haben wir uns verstanden?«
Die ganz schlimmen Sachen steckten im Wäschekorb, als er den letzten Müllsack in den Hof trug. Zwanzig Minuten. Er betete, sie möge nicht zu früh eintreffen, denn er war noch nicht geduscht. Immerhin sah der Herr Künstler jetzt nicht mehr nur verwahrlost aus, sondern gewollt verwahrlost. Philosophisch bedeutete das einen riesigen Unterschied, den die Elli sicher erkennen würde.
Ferdl knöpfte sich das Hemd zu, als es klopfte. Die Klingel war schon seit Jahren nur noch Kulisse. Hastig spritzte er sich etwas Herbes ins Gesicht, dann rannte er zur Tür.
»Pinsel!«, mahnte er Lorenz unterwegs.
Der Kleine hielt doch sonst stets Pinsel oder Spraydose in der Hand. Warum ausgerechnet jetzt nicht, da es drauf ankam? Er grüßte den Galeristen kurz und höflich, bevor er strahlend Ellis Hand ergriff und sie zum Mund führte, um ein Luftküsschen darauf zu hauchen.
»Küss die Hand, Gnä‘ Frau.«
Die Vorstellung gelang ihm perfekt, als hätte er sie mit der Muttermilch eingesogen. Elli fand das völlig normal. Sie wandte sich sofort dem Kleinen zu, bittersüß, unwiderstehlich – und der Duft! Vornehm und sehr teuer.
»Sie müssen der Künstler sein«, sagte sie, freudig die Hand ausstreckend.
Er wich einen Schritt zurück, ignorierte die Hand und murmelte:
»Lorenz.«
»Er ist etwas scheu Fremden gegenüber«, warf Ferdl eilig ein, während er dem Kleinen einen verstohlenen Tritt ans Schienbein versetzte.
Gleichzeitig durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Stich ins Herz: An alles hatte er gedacht, nur nicht ans Gläschen Sekt wie sonst üblich an Vernissagen. Errötend kramte er in Erinnerungen aus alten Filmen, um die richtige Formulierung zu finden. Schließlich platzte er heraus:
»Ich bin untröstlich, meine Herrschaften! Ich kann Ihnen nicht einmal Sekt anbieten. Alles, was wir im Haus haben, sind ein paar Büchsen Sechzehner-Blech.«
Horvath blühte auf. »Fantastisch, ist schon Jahre her seit meinem letzten Ottakringer. Her mit dem Blech, wenn ich so frei sein darf, Herr Gruber.«
»Wenn Sie vielleicht einen Kaffee hätten«, sagte Elli.
Es klang ein wenig wie die Totenglocke zum letzten Geleit des Ferdl Gruber. Kaffee gab es nicht in der alten Fabrik.
»Aber selbstverständlich, verehrte Frau Magistra.«
»Elli«, korrigierte sie, »und schwarz wie die Nacht bittschön.«
Sie und Horvath wandten sich an den Herrn Künstler. Prioritäten setzen, sagte er sich, verzweifelt nach Ausreden suchend. Er brachte Horvath das Blech. Ein Problem weniger. Da sein Gehirn etwas zu langsam arbeitete an diesem Abend, lächelte er blöd und sagte:
»Der Kaffee kommt gleich, Frau Elli.«
Die beiden verstanden es offenbar, Lorenz in ein ernsthaftes Gespräch unter Kunstsachverständigen zu verwickeln. Ferdl brauchten sie nicht dabei.
Er entfernte sich unauffällig, verließ die Fabrik und rannte die zwei Blocks zur Trafik. Er hatte keine Ahnung, wie Frau Swobodas Kaffee schmeckte, aber es war Kaffee, den er Elli schwer atmend vorsetzte. Sie bedankte sich bittersüß und rührte etwas Zucker hinein. Mit spitzen Lippen kostete sie die schwarze Brühe, um den Becher erschrocken wieder abzusetzen. Es gab ihm einen Stich ins Herz, als hätte er das Gift selbst getrunken.
Elli wandte sich wieder der Kunst zu. Sie diskutierte leise aber angeregt mit Horvath beim Betrachten der Werke des Kleinen. Lorenz hatte sie mehr oder weniger chronologisch aufgereiht. Das ergab schon eine beeindruckende Gesamtschau seiner künstlerischen Entwicklung. Der Meister selbst stand etwas abseits, ein stiller Beobachter mit Karton und Filzstift in der Hand. Elli war offensichtlich genauso hingerissen von den Bildern wie Horvath. Ferdl verstand nicht, was sie sagten, schnappte nur hin und wieder ein Wort auf, das in seinem Wortschatz fehlte. Kaminski oder Kandinsky war so eins. Es klang wie eine geheime Zutat zur Sachertorte.
»Was meinen Sie, wird das was?«, fragte er als Einleitung zum geschäftlichen Teil.
Horvath und Elli tauschten Blicke. Sie verstanden sich scheinbar mittels Gedankenübertragung. Beide nickten. Der Galerist übersetzte für ihn und den Kleinen:
»Diese Bilder zeugen von Kraft und Originalität. Da steckt großes Potenzial drin.«
»Sie meinen, man könnte das Zeugs verkaufen?«, platzte er wie elektrisiert heraus.
Der Kleine rettete ihn, dämpfte die Wirkung der deplatzierten Frage mit der altklugen Bemerkung:
»Es geht doch jetzt nicht ums Geld.«
Elli stimmte lächelnd zu. »Jetzt nicht, Herr Lorenz, aber ich denke, die Werke hätten gute Chancen auf dem Markt, wenn es klassische Bilder wären und man sie in geeignetem Rahmen ausstellte. Herr Horvath wird mir sicher zustimmen.«
Der Galerist widersprach jedenfalls nicht, doch Lorenz warf Ferdl einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Da hast du es! Richtige Leinwand müsste her.«
Es war Horvaths Stichwort. »Das ist das kleinste Problem, Herr Lorenz. Wir können Ihnen Leinwand und Keilrahmen zu sehr günstigen Bedingungen besorgen.«
Ferdl wollte es genau wissen. »Was heißt günstig?«
»Zum Beispiel, indem wir einfach die bescheidenen Materialkosten vom Erlös der Bilder abziehen. So brauchen Sie a priori nichts zu investieren.«
Schon wieder unbekannte Wörter, aber Horvath hörte sich sehr seriös an.
»Sie meinen …«
»Besuchen Sie uns doch in den nächsten Tagen in der Galerie, dann besprechen wir alles Weitere in Ruhe.«
Ferdl sah den Kaffeebecher, kalt und immer noch voll. In diesem Augenblick fiel ihm die Idee seines Lebens ein.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte er zu Elli gewandt. »Wie wär‘s, wenn wir uns ganz unverbindlich zu einem richtigen Kaffee in einem gemütlichen Kaffeehaus treffen würden, um die Sache in Gang zu bringen? Lorenz kann in der Zwischenzeit schon mal in der Galerie schnuppern. Was sagen Sie dazu?«
Horvath schien nicht eifersüchtig zu sein, ein gutes Zeichen. Der Galerist war ein Kerl, wenn auch etwas degeneriert, aber er hatte verstanden und grinste bis über beide Ohren. Elli bekundete mehr Mühe. Als Lorenz ihr die Skizze überreichte, die er mit Filzstift angefertigt hatte, brach das Eis.
»Warum nicht«, sagte der bittersüße Mund.
Abends auf dem Weg zum Beisl in der Kuhgasse sickerte Ferdl allmählich ins Bewusstsein, welch ungeheure Chance sich für den Kleinen und ihn nun eröffnete. Die Gasse hieß nur unter Freunden Kuhgasse, weil es da nachts dunkel war wie in einer Kuh. Die Straßenlaterne diente seit Jahren nur noch den Hunden und Besoffenen als Pissoir und Orientierungshilfe, dass es da links zum Grantler Toni ging. Tonis Wirtsstube war eine der wenigen übrig gebliebenen Beisln im Grätzl, wo es sonst nur noch Wettcafés, Handyläden und Kebabs gab, die den Namen Würstelstand nicht verdienten.
Als er eintrat, hatte er einen Entschluss gefasst. Heute würde er eine Runde schmeißen. Es war an der Zeit, Großzügigkeit zu zeigen. Es spielte keine Rolle mehr, dass er im Grunde nur den Zlatko mochte. Seinem Bruder Mirko hingegen traute er nicht. Ohne Zlatko wäre er nie mit denen ins Geschäft gekommen. Die beiden saßen am Stammtisch. Einer fehlte noch.
»Wo ist der Bubi?«, fragte er ohne sonderliches Interesse statt eines Grußes.
»Beim Rennen, wo sonst«, brummte Zlatko.
»Was hockt der dauernd im Wettcafé herum, statt sich um seine Damen zu kümmern?«
Die Mizzi tat ihm leid. Seit das ganze Viertel Verbotszone war, gab es keine Möglichkeit mehr, legal auf der Straße anzuschaffen. Woher sollten die Freier wissen, dass über der Eisdiele so ein heißer Feger wie die Mizzi auf Kunden wartete? Sie war nicht allein mit diesem Problem. Die lieben Nachbarn wollten ihre Ruhe haben. Seither waren die Damen gezwungen, illegal anzuschaffen, immer mit den Kieberern im Nacken. Nicht, dass er sich selbst groß um die Gesetze gekümmert hätte, aber wenn der Schaas wie hier sogar durchgesetzt wurde, kamen Jobs in Gefahr. Da hörte der Spaß auf. Es war echt kein Leben mehr für die Mizzi. Bubi Vesely sollte sich viel mehr um sie und vor allem um Kundschaft bemühen. Bei solchen Zuständen konnte man direkt selbst zum Strizzi werden, dachte er. Sein Bier stand schon auf dem Tisch, als er sich setzte.
»Danke, Toni.«
Der Wirt blickte ihn zornig an und knurrte:
»Dein Fassl ist jetzt lala, nur noch Luft drin, verstehst?«
Ferdl zog grinsend Horvaths zweitletzten Hunderter aus der Tasche.
»Und jetzt?«
So schnell hatte er noch nie einen Geldschein verschwinden sehen.
»He! Dafür geht heute alles auf mich. Und her mit den Stamperln. Auch eins für den Bubi.«
Der Strizzi fiel eben mit der Tür ins Haus.
»Burschen, das glaubt’s jetzt nicht!«, rief er aus, kaum saß er am Tisch.
»Sag nicht, du hast gewonnen«, staunte Mirko, der manchmal zum Strizzi aufschaute, als wäre er Bubi Scholz persönlich.
»Eh nicht, die bescheißen dich doch, wo sie können.«
»Warum tust du‘s denn?«, wunderte sich Ferdl.
»Schon mal was von Investitionen gehört? Ist wahrscheinlich nichts für einen wie dich. Da brauchst du langfristiges Denken, verstehst?«
»Ehrlich gesagt nein. Ich dachte immer, verluderte Marie eigne sich nicht zum lnvestieren.«
Bubi wischte die zwingend logische Bemerkung mit einer Handbewegung ärgerlich vom Tisch.
»Du kapierst rein gar nix, Ferdl. Ich sage nur: Negativzins! Aber ich wollte über etwas ganz anderes reden. Hörts her.«
Wie immer, wenn die Sitzung vertraulich wurde, hielten alle die Köpfe über dem Tisch zusammen. Es war gleichzeitig das Zeichen für Toni, mit den Schnäpsen zu warten. Bubis gedämpfte Stimme war kaum zu vernehmen im Lärm des fast vollen Beisls.
»Ich habe da einen ganz großen Fisch am Haken. Der bringt mindestens das Zehnfache vom Baumarkt.«
»Ja klar, und du kassierst endlich den Fünfer Häfn, wenn was schiefläuft«, warf Ferdl ein. »Bubi Vesely ist auf Bewährung, vergiss das nicht.«
»Was soll schiefgehen? Hör doch einfach zu, statt zu raunzen.«
Bubis Plan war erstaunlich O. K., musste er zugeben. Die ganze Lieferung Spielkonsolen und Computer der neusten Generation einfach umleiten – eigentlich genial. Aber bei so viel Geld musste es einen Haken geben, darum schüttelte er entschieden den Kopf.
»Ohne mich. Das ist mir zu heiß und überhaupt – ich muss jetzt Prioritäten setzen.«
»Prioritäten!«, brauste der Strizzi auf, »was für ein Schaas ist das jetzt wieder?«
»Ich glaube, der Ferdl beginnt gerade ein neues Leben«, spottete Zlatko und winkte endlich die Schnäpse herbei.
»Wisst ihr, ich werde jetzt meine Verantwortung wahrnehmen. Der Kleine hat eine ganz große Zukunft vor sich, müsst ihr wissen.«
»Dein Lorenz ist von der Schule geflogen«, brummte Bubi.
»Wie du, aber im Gegensatz zu dir kann er was und zwar verdammt gut. Darum muss ich mich jetzt kümmern. Burschen, ich glaube, ihr müsst einen andern Fahrer suchen.«
Bubi durchbohrte ihn lange mit seinen Blicken, bis er sich an die Brüder wandte.
»Glaubt der Herr Gruber, er sei der Einzige am Tisch mit Verantwortung? Bin ich etwa nicht verantwortlich für die Mizzi und die Svenja und die Petra?«
»Genau«, stimmte Mirko zu, heftig in Richtung Ferdl nickend.
Bubi erinnerte sich, dass er mit am Tisch saß, und fragte ihn direkt:
»Was glaubst, warum ich so scharf bin auf diesen Deal?«
»Geld?«
»Genau, jetzt hat er verstanden, der Herr Gruber. Ich habe nämlich Großes vor mit meinen Strichkatzerln, weil ich eben auch eine Verantwortung wahrnehme, Herr Gruber.«
Damit hatte er nicht gerechnet. Der Strizzi schmiedete Pläne für seine Damen, ganz was Neues. Auf seine verblüffte Frage antwortete Bubi mit einem Rätsel:
»Soschel Meedia, verstehst?«
Er brauchte eine Sekunde oder zwei, um zu begreifen, so ungewohnt waren Wörter wie diese aus seinem Mund.
»Du meinst das moderne Internet Zeug? Was hat das mit der Mizzi zu tun?«
»Frag sie doch selbst.« Er zeigte seine fünfzig Zähne, das Zeichen, dass jetzt ein ganz cooler Spruch fällig war. »Aber nur gegen Barzahlung«, fügte er zu Mirkos großer Freude an.
Allmählich ermüdete ihn die Unterhaltung.
»Ich habe noch immer bezahlt«, murmelte er eingeschnappt.
»Also, was ist jetzt? Du kannst uns nicht hängen lassen«, drängte Zlatko.
»Wie viel liegt drin?«
Bubis Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»Zehn Riesen für jeden – mindestens.«
Die Brüder stießen einen kollektiven Fluch aus, und er musste zugeben: Die runde Zehn hatte schon etwas für sich. Vielleicht konnte man ja das eine tun, ohne das andere zu lassen. Alle Augen richteten sich auf ihn.
»O. K., ich überleg‘s mir«, sagte er, um die Spannung zu lösen, »aber jetzt stoßen wir erst einmal auf die Zukunft des kleinen Lorenz an.«
Zwei Bier und zwei Schnäpse später betrat er Mizzis Wohnung.
»Was darf‘s denn heute sein?«, fragte sie schnippisch.
»Nicht, was du denkst. Ich brauche deinen Rat.«
»Du willst labern? Mir soll‘s recht sein.«
Sie streckte die Hand aus. Er gab ihr den Schein. Ordnung musste sein, vor allem jetzt, da das Geschäft harzte.
»Sag mal, habe ich den Bubi richtig verstanden? Der will was auf dem Internet aufziehen?«
Sie lachte laut heraus. »Hat er das behauptet?«
Er nickte. »Im vollen Ernst. Social Media hat er erwähnt.«
»Der Bubi weiß doch nicht einmal, wie man das ausspricht. Abgesehen davon könnte ich gute Werbung schon brauchen. Lorenz ist doch ein ganz Heller. Kann der nicht …«
»Lorenz hat jetzt andere Prioritäten«, unterbrach er schnell.
Prioritäten rückte zu seinem neuen Lieblingswort auf. Die Mizzi wusste es noch nicht und starrte ihn daher mit offenem Mund an.
»Ja, du hast schon richtig gehört. Darum bin ich gekommen.«
»Wegen Prioritäten?«
»Ja, nein, indirekt.«
Mizzi dachte an ihren eigenen zukünftigen Erfolg auf Social Media.
»Also der Bubi packt das nicht«, murmelte sie, »das kann ich dir gleich sagen.«
»Wie kommt er überhaupt auf so eine irre Idee?«
Wieder lachte sie auf, diesmal mit bitterem Unterton. »Erst wollte er uns in ein Laufhaus stecken, der Oasch.«
Mizzi stammte zwar aus einer Gegend ziemlich weit östlich von Wien, aber ein paar wichtige einheimische Ausdrücke hatte sie voll drauf.
»Ich habe ihm gesagt: Bevor ich das mache, lauf ich schneller davon, als er laufen sagen kann.«
Diesmal war es an ihm, zu lachen. »Darum also jetzt das Internet.«
»Der Lorenz könnte doch …«
»Fang nicht wieder davon an, Mizzi. Der Kleine hat echt keine Zeit mehr für solche Sachen, der steigt nämlich jetzt wie eine Rakete die Karriereleiter hoch, bis wir ihn nicht mehr sehen.«
»Du spinnst doch, Ferdl Gruber.«
Er glaubte felsenfest daran. Die Entdeckung des Ausnahmekünstlers Lorenz Gruber durch die über jeden Zweifel erhabene Magistra Elli erfüllte ihn mit Stolz. Er platzte förmlich vor Stolz. Sein Redeschwall ergoss sich über die verblüffte Mizzi wie sonst nur Schmäh und Motschker.
»So, jetzt weißt du alles«, schloss er, »und ich muss jetzt wissen, wie ich die Elli am schnellsten herumkriege.«
»Das fragst du ausgerechnet mich?«
»Sowieso, du bist eine Frau und kennst die Männer.«
»Die Männer, die ich kenne, sind doch alle nicht ganz dicht.«
Er ignorierte die Spitze.
»Die Idee mit dem Kaffeehaus ist schon genial, oder?«, fragte er unsicher.
Mizzi verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Im Kaffeehaus gibt‘s auch nur ganz gewöhnlichen Kaffee wie bei Frau Swoboda.«
Das durfte nicht unwidersprochen bleiben.
»Normal ist gar nichts an ihrem Kaffee. Frau Swobodas Gebräu eignet sich nicht einmal als Salatessig, zu sauer.«
Die Zeit war fast um. Ein zweiter Zwanziger lag nicht drin. Immerhin gab sie ihm am Ende noch einen brauchbaren Rat mit auf den Weg:
»Frauen mögen Kerle, die sie zum Lachen bringen.«
Ihrem Gesicht nach zu urteilen, war der Rat ernst gemeint. Dann dachte sie wieder ans Geschäft.