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»Wir haben noch fünf Minuten. Soll ich dir einen blasen?«
Elli sah eine fremde Frau im Spiegel. Die alte Elli blickte ihr entgegen, als wäre nichts geschehen. Wie konnte das sein? Es war Frühling geworden im September. Das musste man ihr doch ansehen. Die Frau im Spiegel verzog keine Miene. Kein Lächeln, nichts, was auf Sonnenschein im Herzen hindeutete, nur der Weltschmerz und der pflichtbewusste, kritische Blick. Keine Spur vom Besuch in der alten Fabrik.
Jener Abend hatte ihr die Augen geöffnet, und das sollte die Welt da draußen ruhig bemerken. Lorenz hatte sie sofort erobert. Sie konnte sich schon nicht mehr vorstellen, ihn sechzehn Jahre lang nicht gekannt zu haben. Der Junge weckte Muttergefühle in ihr. Sie musste es zugeben und staunte selbst darüber, dass so etwas in ihr schlummerte. Sie hatte stets einen großen Bogen um Teenager seiner Generation gemacht, mit guten Gründen. Lorenz aber belehrte sie eines Besseren. Es gab also Sechzehnjährige, die wunderbar in ihr Weltbild passten wie die starken Farben zu van Gogh. Sie war unverhofft Mutter geworden. Damit konnte sie gut leben. Sie freute sich auf die Aufgabe, Lorenz auf seinem Weg in den Olymp zu begleiten. Lächle, Elli! Die Frau im Spiegel versuchte es, und es sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen.
Mit der Zeit würde sie es lernen. Was aber löste der ältere Bruder bei ihr aus? Der erste Eindruck hatte sich an jenem Abend nicht bestätigt. Ein Taugenichts, hatte sie gedacht, aber so einfach war es nicht. Wie Ferdl Gruber sich rührend um Lorenz und die Gäste gekümmert hatte – schon beeindruckend, musste sie zugeben. Auf seine Art sorgte er sich um die Zukunft des Bruders wie ein Vater. Ferdl war also der Vater des jungen Künstlers, sie die Mutter. Was lag da näher als …
Sie wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. »Das geht sich nicht aus«, bestätigte auch die Frau im Spiegel. Sie wirkte allerdings nicht sehr überzeugend. Keine Unbekannte in Wiens Kaffeehäusern, würde sie sich diesmal doch ganz anders fühlen. Normalerweise lud sie die Kunden ein und bezahlte die Rechnung aus Horvaths Schatulle. Wann war sie das letzte Mal eingeladen worden, noch dazu von einem feschen jungen Mann, der ein Auge auf sie … Sie durfte nicht weiter fantasieren. Bisher hatte sie diese Seite zwischenmenschlicher Interaktion keine Sekunde vermisst. Der Job, die Kunst, die Galerie, die exklusive Kundschaft füllten sie aus. Die Frau im Spiegel war vollkommen zufrieden mit ihrem Leben. Warum sollte sich das jetzt ändern? Es ist eine ganz gewöhnliche, geschäftliche Besprechung, versuchte sie sich einzureden. Einladung – was bedeutete das schon. Ferdl war einfach nett, nichts weiter, vergiss den Rest. Was bildete sie sich überhaupt ein? Sie könnte fast auch seine Mutter sein. So sah es aus. Jetzt lächelte die Frau im Spiegel.
Das Hawelka war angenehm ruhig, die Gästeschar übersichtlich, als sie gegen vier Uhr eintrat. Nach einem kurzen Blick in die Runde atmete sie auf: keine Bekannten, die vielleicht falsche Schlüsse ziehen würden. Ferdl Gruber saß am Tisch in der Ecke und beobachtete eine hübsche Blondine, die in der Nähe Zeitung las. Elli hatte ihn schon fast erreicht, als er sie bemerkte. Er sprang auf, stieß dabei an den Marmortisch, dass die Mokkatasse tanzte, und errötete.
»Warm hier drin, nicht wahr?«, spottete sie.
Er erholte sich rasch, spielte das »Küss die Hand, Gnä‘ Frau« Ritual perfekt wie in der alten Fabrik und bat sie formell an den Tisch. Das Theater passte so gar nicht zu seinem Typ, dass sie unwillkürlich lachen musste.
»Habe ich was falsch gemacht?«, fragte er entsetzt.
»Eben nicht!«
Die Antwort verwirrte ihn noch mehr. Von wegen geschäftliche Besprechung! Der Mann war ein einziges Nervenbündel. Dagegen wirkte ihre Nervosität geradezu beruhigend. Der Kellner trat auf sie zu.
»Also, die Buchteln kann ich sehr empfehlen, Frau Elli«, warf Ferdl hastig ein.
»Ich weiß«, sagte sie lachend und bestellte »das Gleiche wie der Herr«.
»Sie sind zu bescheiden, Frau Elli.«
In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit. Eine peinliche Pause entstand, bis der Mokka auf dem Tisch stand.
»Tja, da sitzen wir nun, wir beide«, sagte sie, »und die Hauptperson fehlt.«
»Der Lorenz! Richtig, um ihn geht es ja, nicht wahr?«
»Nur um ihn.«
»Es ist halt so eine Sache mit dem Kleinen«, seufzte er mit schlecht gespieltem Bedauern. »Er geht nicht gern unter die Leute, fühlt sich nicht wohl in Gesellschaft.«
Das passte zum Ausnahmetalent. Die Künstler, die sie kannte, waren entweder Einsiedler oder Partylöwen. Sie nickte lächelnd.
»Verstehe, ihm genügt die Kunst.«
»Die schöne Welt der Kunst.«
Er musterte sie verträumt und ungeniert, dass sie sich fragen musste, was er mit der schönen Welt genau meinte.
»Täuschen Sie sich nicht, Herr Gruber. Schön sind oft nur die Werke. Der Rest des Kunstbetriebs ist knallhartes Business.«
Das Stichwort Business riss ihn aus den Träumen.
»Jetzt verstehen wir uns«, unterbrach er grinsend. Er rückte etwas näher. »Glauben Sie ernsthaft, die Bilder des Kleinen könnten einen Markt finden?«
»Mit der richtigen Förderung und Connections, kein Zweifel.«
»Connections, genau! Die sind entscheidend – auch in meinem Geschäft.«
»Was ist denn eigentlich Ihr Geschäft, Herr Gruber?«
Er zögerte kurz, als suchte er das passende Wort.
»Logistik – ich besitze ein kleines Transportunternehmen. Läuft ganz gut, aber wie Sie richtig sagen: Ohne Connections geht gar nix.«
Er schwärmte so begeistert vom kleinen Geschäft, dass sie kein Wort glaubte. Vom Lieferwagen schweifte er zu Horvaths Bentley ab, dann zu seinem Traum vom Lamborghini Gallardo, in dem sie mit wehenden Haaren … Sie musste einschreiten.
»Sportwagen finde ich uncool. Ich bin eher der romantische Typ, wissen Sie.«
Bevor sein Mund zuklappte, sprach sie weiter:
»Ich muss Sie das jetzt fragen, Herr Gruber. Lorenz ist ja noch nicht volljährig, kann also keine rechtsgültigen Verträge unterzeichnen, deshalb die Frage. Haben Sie das offizielle Sorgerecht für Lorenz? Sind Sie seine rechtsgeschäftliche Vertretung?«
Die juristischen Fachausdrücke verwirrten den Kleinunternehmer Gruber. Er nickte nur stumm.
»Es geht nämlich darum, dass die Galerie Horvath gern mit Herrn Lorenz ins Geschäft kommen möchte. Zu diesem Zweck hat Herr Horvath vorgeschlagen, einen Vertrag aufzusetzen.«
»Vertrag? Was für ein Vertrag?«, fuhr Ferdl misstrauisch auf.
Sie lächelte beruhigend. »Keine Angst, es kostet Sie nichts. Es geht nur darum, die Zukunft Ihres Bruders Lorenz als Künstler zu sichern.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Habe ich Sie jetzt erschreckt?«, fragte sie lächelnd.
»Nein – Nein – natürlich nicht. Ich bin nur etwas erstaunt, wie schnell das alles geht.«
»Ganz so weit sind wir schon noch nicht, aber Herr Horvath sagt immer: Man muss die Gelegenheit beim Schopf packen.«
»Meine Rede, Frau Elli, meine Rede. Aber ich bitte Sie, nennen Sie mich doch einfach Ferdl. Ich meine jetzt, wo wir miteinander so schön ins Geschäft kommen, wir beide.«
Er stutzte. Sein Gesicht, das sich eben noch fürs Geschäft echauffierte, fiel auseinander.
»Das darf jetzt nicht wahr sein«, seufzte er mit Verzweiflung in der Stimme, die Augen auf zwei junge Damen gerichtet. Sie steuerten in aufreizender Kleidung auf ihren Tisch zu, dem einen oder andern Herrn über fünfzig zuzwinkernd.
»Kennen Sie die Damen?«
Er brauchte nicht zu antworten. Die beiden süß parfümierten Frauen nickten ihr kurz zu, dann drückte jede Ferdl drei herzhafte Küsse auf die Wangen, bevor sie sich setzten.
»Ihr gestattet doch?«, fragte eine der Form halber, ohne eine Antwort zu erwarten.
»So, Ferdl, willst du uns deine neue Bekanntschaft nicht vorstellen?«
»Mizzi …«
Seine Stimme erstarb aus reiner Verzweiflung. Er wagte nicht mehr, sie anzusehen.
»Ich denke, wir sind uns einig, Herr Gruber«, sagte sie und erhob sich. »Ich melde mich, sobald der Vertrag aufgesetzt ist, und freue mich auf unsere Zusammenarbeit.«
Sie verabschiedete sich mit dem gleichen kurzen Nicken von den Damen und wandte sich zum Ausgang.
In der Ecke neben den Büsten von Leopold und Josefine Hawelka änderte sich der Tonfall schlagartig. Chris unterbrach die Lektüre des Kuriers. Sie würde ohnehin nichts Neues mehr erfahren, nachdem sie bereits die Presse, das Heute, die Krone und den Standard nach Informationen zum Tod von Ministerin Strasser durchkämmt hatte. Der Friede des ungleichen Paares auf der Eckbank war dahin, als die beiden etwas laut gekleideten Blondinen auftauchten. Chris fragte sich, wie sich der Stenz wohl aus der peinlichen Affäre ziehen würde. Die Blondinen schienen nichts von seiner neuen, um einiges älteren Freundin zu halten und setzten sich dreist an seinen Tisch. Sie kannten den jungen Mann offenbar sehr gut. Die Affäre ist vorbei, ehe sie richtig begonnen hat, dachte Chris amüsiert, froh über die heitere Unterbrechung ihrer düsteren Gedankengänge.
Die Affäre nahm die Handtasche, stand auf und verließ das Kaffee ohne einen Blick zurück. Nach einer Schrecksekunde sprang ihr Galan auf, wollte ihr nachrennen und prallte in den Herrn Ober.
»Der Herr möchten bezahlen?«, sagte der Kellner, unbeeindruckt von der Eile des Gastes.
Dieses Haus war voller Geschichten. Es lebte nicht nur von den Legenden, die man über das Lokal erzählte. Etwa über Leopold Hawelkas gescheiten Kommentar, nachdem er den Krieg in der Wehrmacht unversehrt überlebt hatte: Im Krieg soll man nicht ehrgeizig sein. Das Haus erzählte selbst Geschichten, erfand sie jeden Tag neu.
Die SMS von Jamie weckte sie aus ihren Träumen. In einer Stunde am Mumok. Das ließ sich einrichten. Das Museum für moderne Kunst im Museumsquartier gehörte nun mal zum Programm, auf das sie sich eingelassen hatte, ohne lange nachzudenken. Damals vor der Abreise in den ersehnten Kurzurlaub war die Vorstellung von Wien als Ort der Erholung und kulturellen Bereicherung noch intakt gewesen. Jetzt war es eine Stadt wie Berlin, in der schlimme Dinge geschahen, nichts Besonderes also.
Zeitgenössische Kunst – auch so ein Thema. Die meisten Kunstwerke erkannte man gar nicht ohne Beschriftung. Das sah sie als erwiesen an, seit sie einmal aus Versehen die Documenta besucht hatte. Aber was soll‘s, dachte sie. Jede Ablenkung war willkommen, um diesen Urlaub zu retten. Immerhin hatte Jamie wieder mit ihr zu kommunizieren begonnen nach dem Schock im Belvedere.
Die beiden Blondinen saßen allein am Tisch in der Ecke und aßen kichernd ihren Topfenstrudel, als sie das Hawelka verließ. Kaum draußen, klingelte das Handy. Haase war am Apparat.
»Langweilen Sie sich im Büro?«, fragte sie lachend.
»Ich wollte Sie nur warnen. Da braut sich etwas zusammen.«
Er sprach leise, wie hinter vorgehaltener Hand.
»Ist die Staatsanwaltschaft in der Nähe?«
»Staatsanwältin Winter hat jedenfalls schon zweimal gefragt, wann sie wieder auftauchen würden.«
»Steht doch im Kalender. Sie braucht nur den PC einzuschalten.«
»Vielleicht hat sie das Passwort vergessen. Was ich sagen wollte: Es gibt einen prominenten Toten.«
»Noch einen?«
»Wie meinen?«
»Nicht wichtig. Erzählen Sie.«
Beim prominenten Toten handelte es sich um Arno Schmitz, den Direktor des Zollkriminalamtes.
»Ungeklärte Todesursache. Die Staatsanwaltschaft glaubt nicht an einen Zufall«, sagte Haase. »Direktor Schmitz leitete die Operation Spider.«
»Sagt mir nichts.«
»Spider ist die größte Operation gegen den organisierten Waffenschmuggel, die Deutschland je auf die Beine gestellt hat.«
»Ach so – das ist was anderes. Aber was hat das mit uns zu tun?«
Die Antwort kam noch leiser aus dem Hörer.
»Ich glaube, man hat Sie im Auge für eine unabhängige Untersuchung. Direktor Schmitz ist nicht der erste Abgang bei Spider.«
Unabhängige Untersuchung stand für interne Ermittlung. Sie wussten es beide, und sie hasste solche Jobs. Kollegen bespitzeln – deswegen war sie nicht Kriminalkommissarin geworden.
»Ich bin begeistert«, murmelte sie.
»Kann ich mir vorstellen.«
»Wie ist Direktor Schmitz denn gestorben?«
»Die mauern. Ich kläre das ab. Sie kommt, ich muss auflegen!«
Chris konnte sich Staatsanwältin Winters Miene lebhaft vorstellen, mit der sie nun wohl zum dritten Mal nach ihr fragte. Sie trug den richtigen Namen. In ihrer Welt herrschte ewiger Winter.
Jamie wartete bereits am Eingang des Museums. Sie küssten und umarmten sich wie früher. Obwohl sie vor Neugier platzte, fragte sie nicht nach Neuigkeiten von Nick, mit dem er die letzten Stunden verbracht hatte. Sätze mit Nick blieben tabu.
»Sie sind abgereist«, sagte er, während sie unschlüssig vor dem Haus standen. »Mona bittet um Entschuldigung, dass sie sich nicht persönlich von dir verabschieden konnte.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Ich glaube, sie hat ein Auge auf dich geworfen.«
»Die schöne Mona … Eifersüchtig?«
Die rhetorische Frage blieb unbeantwortet. Sein Blick wanderte langsam vom Mumok hinüber zum Beisl und wieder zurück.
»Wollen wir uns das wirklich antun?«
Sie lachte. »Ich hoffte, du würdest fragen.«
Hand in Hand schlenderten sie weg von der abstrakten Kunst, hin zur konkreten Kunst in Küche und Keller. Kurz vor dem Beisl drohte ihr Klingelton die aufkeimende Eintracht gleich wieder zu ruinieren.
»Es hat garantiert nichts mit ihm zu tun!«, entschuldigte sie sich hastig, bevor sie abhob.
Haases Nachricht warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete.
»Direktor Schmitz ist offenbar völlig unerwartet eines natürlichen Todes gestorben, Ursache unbekannt«, sagte er. »Übrigens: Die verstorbene Schwägerin des Geiselnehmers Schröder arbeitete als leitende Beamtin im Hauptzollamt Bremen.«
Berlin
Sobald sie die sattsam bekannte Luft im BKA am Treptower Park einatmete, fragte sich Chris, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Den Urlaub abzubrechen für den Job, und das in einer Beziehungskrise – nicht wirklich empfehlenswert. Sie und Jamie steckten in einer Krise, da half kein positives Denken. Es war erst der Anfang, vermutete sie nach der Unterhaltung mit dem Rechtsmediziner in Wien. Sie hatte keinerlei Befugnis, ihn über die näheren Umstände des Todes von Ministerin Strasser zu befragen, aber beider »lange Bekanntschaft« mit Nick verband sie zu einer Art Schicksalsgemeinschaft. Der Mediziner gab offen zu, keine Ursache für die plötzlichen Krämpfe, Atemnot und die Herzlähmung, die letztlich zum Tod von Doris Strasser führte, gefunden zu haben. Ihr Tod blieb ein Rätsel, aber die Symptome waren eindeutig: Beschleunigte ALS, wie sie die neue Krankheit nannte.
Die Schwägerin des Geiselnehmers Schäfer war höchstwahrscheinlich derselben mysteriösen Krankheit erlegen. Machte Schäfer Nick dafür verantwortlich? War das sein Motiv? Litt sie selbst an Paranoia, was Nick betraf? Gab es eine Verbindung von Doris Strasser zu Nicks Klinik? All ihre Vermutungen kreisten um Jamies Freund Nick. Keine gute Voraussetzung für ein entspanntes Verhältnis. Dieser Nick war eine Gewitterwolke, die sich jederzeit heftig über ihnen entladen konnte. Wenigstens brauchte sie jetzt nicht mehr dauernd Versteck zu spielen und jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, um Jamie nicht zu verletzen. Die restlichen Tage in Wien würde er hoffentlich unbeschwert allein genießen, und sie konnte ihren Frust an Staatsanwältin Winter abreagieren.
»Gott sei Dank«, war das Erste, was sie von Kollege Haase hörte, als er sie sah.
»Das tönt ziemlich verzweifelt.«
»Sie haben keine Ahnung. Ristretto?«
Sie nickte dankbar. Besseren Kaffee gab es nirgends, und sie brauchte jetzt jede Menge Koffein.
»Feuer im Dach?«, fragte sie nach dem ersten Schluck.
»Noch ein paar solche Tage, und ich müsste selbst Urlaub nehmen – unbefristet.«
Niemand im BKA Berlin konnte sich erinnern, Haase je nicht im Büro gesehen zu haben. Haase im Urlaub, mindestens so unvorstellbar wie der Rücktritt des Papstes. Wobei – egal. Sie wischte den blöden Vergleich beiseite und konzentrierte sich auf das, was ihr Fallanalytiker zu sagen hatte. Weit kam er nicht, denn kaum war die Espressotasse leer, stand die Winter im Büro.
»Gott sei Dank«, seufzte auch die Staatsanwältin zur Begrüßung. »Kommen Sie, Dr. Roberts.«
Chris hasste Winters Büro wie den Winter.
»Können wir das nicht hier besprechen?«
»Leider nein.«
Was immer das wieder bedeutete. Sie folgte Winter mit hängenden Schultern. Die Stimmung hellte sich auf, als sie sah, wer in Winters Büro auf sie wartete. Der sportlich wirkende, braun gebrannte Herr in den Fünfzigern sprang auf und schloss sie freudig in die Arme.
»Chris, lange nicht gesehen. Wie geht es dir und deinem Mustergatten?«
»Frag mich was Leichteres«, sagte sie mit bitterem Lächeln.
Die Antwort beunruhigte Dr. Hendrik Richter, doch auf Winters drängenden Blick setzten sie sich. Private Angelegenheiten besprach man besser nicht in ihrem Iglu.
»Hendrik war mein Trauzeuge«, erklärte sie Winter.
»Ich weiß.«
Hendrik Richter kam zur Sache: »Ich nehme an, du bist schon informiert über den ungeklärten Todesfall im ZKA.«
»Der Tod von Direktor Schmitz im Zollkriminalamt. Ich habe davon gehört. Traurig, aber ich dachte, es handle sich um eine natürliche Todesursache.«
Hendrik schüttelte langsam den Kopf. »Direktor Schmitz stirbt genau im kritischen Moment, bevor die Operation Spider richtig in Schwung kommt, völlig unvorhergesehen, ohne medizinischen Grund sozusagen. Ich glaube nicht an solche Zufälle.«
»Gab es eine Obduktion?«
»Ja.« Er zog eine dünne Akte aus der Tasche. »Das ist der Befund. Hat leider nichts ergeben.«
»Dann frage ich mich, wieso Sie zweifeln, Herr Generalstaatsanwalt«, bemerkte Winter zögernd.
Richtig, Hendrik war inzwischen zum Generalstaatsanwalt in Köln aufgestiegen und damit auch für das ZKA zuständig.
»Ich fürchte, ich kann die Zweifel verstehen«, warf Chris ein, während sie den Befund überflog.
Die Obduktion hatte keine organischen Ursachen für den Tod des Direktors zutage gefördert. Einzig die Symptome, die zum Tod führten, stimmten nachdenklich. Es gab keinen medizinischen Fachausdruck dafür.
»Beschleunigte ALS«, sagte sie.
»Wie bitte?«
Beide blickten sie an, als spuckte sie Feuer. Sie erklärte ihre Wortschöpfung, ohne den schrecklichen Abend im Belvedere zu erwähnen.
»Eine unbekannte Krankheit?«, murmelte Hendrik und nahm ihr den Obduktionsbefund aus der Hand, um selbst nachzusehen. »Das wäre ein Grund mehr, misstrauisch zu werden.«
»Da drin wirst du nichts finden. Ich spreche nur von den auffälligen Symptomen, die mich eben an einen extrem beschleunigten Verlauf der Amyotrophen Lateralsklerose erinnert.« Winter öffnete den Mund. Sie schnitt ihr das Wort ab: »Es ist übrigens nicht der einzige derartige Todesfall im Einzugsgebiet der Generalzolldirektion.«
Der Pfeil traf ins Schwarze. Beide starrten sie mit offenem Mund an.
»Vor Kurzem verstarb eine gewisse Anna Schäfer, leitende Angestellte im Hauptzollamt Bremen, an exakt denselben Symptomen.« Sie wandte sich an Winter: »Bevor Sie fragen: Ich weiß das, weil ihr Tod möglicherweise das Motiv für die Geiselnahme in Wien gewesen ist, die ich live miterlebt habe. Der Geiselnehmer Oskar Schäfer war ihr Schwager.«
Nach einer Schrecksekunde murmelte Hendrik:
»Ich glaube, du musst uns einiges erklären – und dieser Schäfer soll sofort vernommen werden.«
»Dazu ist es leider zu spät. Oskar Schäfer hat die Geiselnahme nicht überlebt. Die Beamtin in Bremen war mit seinem Bruder verheiratet, und der hat sich kurz nach ihrem Tod erschossen.«
Totenstille kehrte ein, bis Winter sie aufforderte, die ganze Geschichte zu erzählen.
»Am besten von Anfang an«, präzisierte sie.
Chris hielt Nick konsequent aus der Geschichte heraus und Jamie so gut es ging. Hendrik lächelte erleichtert nach dem Bericht.
»Das ist der erste konkrete Hinweis, dass ich keine Gespenster sehe«, sagte er zu Winter, »und es bestätigt mir, dass Chris genau die Richtige ist für diesen Job.«
Sie horchte auf. Es hörte sich zu sehr nach Ärger an.
»Welcher Job?«
Die beiden Juristen tauschten Blicke, die verrieten, dass sie sich nicht einig waren über die Antwort. Winter kostete es offensichtlich Überwindung, den Mund zu halten. Sie hatte keine Wahl. Hendrik war der Senior in der Runde und besaß beste Beziehungen bis hinauf zum allmächtigen Generalbundesanwalt Osterhagen. Er antwortete:
»Es besteht der Verdacht, dass die Operation Spider sabotiert wird. Die ungelösten Todesfälle sind ein weiteres Indiz.«
Haase hatte sie gewarnt.
»Spider sagt mir nichts«, log sie.
»Spider sollte die größte Operation gegen den organisierten Schmuggel deutscher Hightech-Waffen in Kriegsgebiete im Nahen Osten werden. Die Operation musste jetzt sistiert werden, da man gewissermaßen der Spinne den Kopf abgeschlagen hat.«
Deutsche Hightech-Waffen, gibt‘s die?, war sie versucht zu fragen, doch sie biss sich auf die Lippen.
»Ist es nicht Aufgabe des ZKA, solche Ermittlungen durchzuführen?«, fragte sie stattdessen.
Hendrik schüttelte den Kopf. »Nicht bei einer Bedrohung von außen und wenn nationale Interessen auf dem Spiel stehen.«
Genau daran zweifelte Winter. Sie sah es in ihren Augen und musste ihr insgeheim zustimmen. Hendrik bemerkte die Skepsis und doppelte nach:
»Die Sache ist politisch äußerst brisant. Bei der Befreiung von Palmyra vom IS sind deutsche Panzerabwehrwaffen aufgetaucht. Menge und Alter lassen darauf schließen, dass es keine Zufallsfunde sind. Die Waffen werden professionell ins Kriegsgebiet geschleust. Spider ist jetzt zur Chefsache erklärt worden. Vizekanzler König persönlich leitet den Krisenstab.«
»Trotz allem«, widersprach sie, »die zwei ungeklärten Todesfälle müssen nicht mit der Operation Spider zusammenhängen.«
Winter nickte zustimmend. »Sie erwähnten den Krisenstab …«
»Ein hochkarätig besetztes Gremium. Ich kenne nicht alle Mitglieder, aber Generalbundesanwalt Osterhagen ist dabei, Dr. Jana Schubert, Direktorin Ihrer Abteilung für schwere und organisierte Kriminalität im BKA, und Norbert Hahn, Vizedirektor ZKA, Stellvertreter des verstorbenen Arno Schmitz.«
Chris rümpfte die Nase. »Gibt es auch jemanden, der am Fall arbeitet?«
Hendrik lachte kurz auf. »Genau da kommst du ins Spiel.«
Jetzt war es raus. Sie hatte so etwas erwartet seit dem Telefongespräch mit Haase in Wien. Trotzdem schmeckte der Brocken nicht, den Hendrik ihr zum Fraß vorwarf. Je prominenter die Besetzung des Krisenstabs, desto unproduktiver die Arbeit. Diese simple Relation hatte sich immer wieder bestätigt. Winters Problem war wohl ein anderes, aber im Endeffekt zogen sie am selben Strang. Die Staatsanwältin fürchtete sich vor den Grabenkämpfen zwischen Zollbehörden, BKA und Bundesanwaltschaft. Deshalb das Feuer im Dach. Der Name des Vizekanzlers hatte Winter kurzzeitig in Schockstarre versetzt. Sie und Chris öffneten gleichzeitig den Mund, um zu protestieren, doch Hendrik winkte ab.
»Tut mir leid, meine Damen, aber Generalbundesanwalt Osterhagen und Präsident Meister bestehen auf deinem Einsatz.«
Sie hätte sich mit Jana Schubert, der Chefin ihrer Abteilung, ohne Weiteres angelegt, sich jedoch gegen den BKA-Präsidenten zu sträuben, wäre beruflicher Selbstmord. Und Osterhagen … Der attraktive Single imponierte ihr. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb. Doch, sie wusste es, aber sie durfte es sich nicht eingestehen. Der letzte Fall, bei dem sie mit ihm zusammengearbeitet hatte, war erfolgreich abgeschlossen worden. Es könnte also klappen.
»Und wie stellt sich das erlauchte Gremium das Vorgehen vor?«, fragte sie nach einer Weile.
»Gar nicht«, war die schnelle Antwort. »Die nächste Sitzung findet heute Nachmittag um vier im Kanzleramt statt. Wir beide sind herzlich eingeladen. Dort wirst du dein Vorgehen präsentieren.«