- -
- 100%
- +
Mir war nur zu bewusst, was das bedeuten konnte: eine eventuelle Trennung oder aber eine, danach sah es mittlerweile aus, endlose unerträgliche Lüge, wenn wir zusammenblieben. Das Ergebnis wäre eine Lebenslüge, wie ich sie von Kindesbeinen an selbst hatte miterleben müssen, obwohl ich mir doch geschworen hatte, selbst nicht so zu handeln.
Nun spürte ich am eigenen Leib, wie schwer es ist, sich der neuen Lebenslage zu stellen, ohne die Flucht anzutreten, die Flucht in die Arbeit, die Flucht in den Alkohol oder die Flucht in eine Traumwelt.
Tage und Nächte verbrachte ich wie in Trance. Meine Fantasie erschuf immer neue Szenarien einer möglichen Zukunft. Doch immer endete es in der Gewissheit, loslassen zu müssen, neue Wege zu gehen und unbekanntes Territorium zu betreten.
Meine Kinder wären vor die Wahl gestellt, bei wem sie bleiben wollten. Doch eine Frage stellte sich immer wieder: Welchen Preis hat das eigene Leben? Kann die eigene Entwicklung, das Geschenk des Lebens, in Geld, in materielle Dinge aufgewogen werden? Welchen Wert haben die eigene Zufriedenheit, der innere Frieden und das eigene Wachstum? Ist es in Ordnung, den eigenen Weg zu gehen? Wo fängt Egoismus an und was ist im Rahmen der Selbsterfahrung ›erlaubt‹, um die eigene Persönlichkeit zu fördern? Ist es in Ordnung, sich auch in einer Beziehung selbst zu verwirklichen? Wer steckt den Rahmen ab? Wann ist eine Beziehung zerrüttet? Wo fängt der Selbstbetrug an?
Fragen über Fragen, die nach Antworten verlangten.
Ich stellte eine Liste auf. Eine Liste, ähnlich einer Bilanz. Auf der einen Seite sollten die Bedingungen und Situationen aufgeführt werden, die für mich tragbar waren. Ebenso alle Gründe, die für eine Beziehung, also den Erhalt unserer Ehe sprachen.
Ganz klar gehörten auf diese positive Seite auch die Kinder. Das war mit Abstand der größte Brocken: die Kinder! Auf der einen Seite wollte ich ihnen auf gar keinen Fall eine Lüge vorleben. Andererseits wusste ich um die Belastung, die eine Trennung für die Kinder bedeuten konnte.
Natürlich konnte niemand vor allen Schicksalsschlägen bewahrt werden, doch wollte ich insgeheim nicht die Verantwortung dafür übernehmen, für meine Kinder selbst einen Schicksalsschlag herbeizuführen. Sollte eines der Kinder einen Schaden davontragen, wüsste ich, dass dieser für dessen Seele auch eine Herausforderung barg, an der das Kind wachsen könnte. Andererseits aber hätte ich die Verantwortung dafür zu tragen, umso mehr, als ich mir die Aufgabe gestellt hatte, vor allem meinen Kindern gegenüber zu beweisen, dass sie der Wirkweise des Universums vertrauen konnten. Ich müsste ihnen also die Bürde mit der These erleichtern, dass in diesem Universum nichts zufällig passiert, und dafür sorgen, dass sich diese theoretische Behauptung in der Praxis auch bewahrheitete.
Jede Möglichkeit, die ich sah, hatte bei genauer Betrachtung und absoluter Ehrlichkeit zwei Seiten.
Es war zum Haare raufen, die Bilanz funktionierte nicht. Alle Betrachtungsweisen auf der Negativseite hatten auch positive Aspekte auf der Plusseite.
Etwas entnervt und enttäuscht, auch auf diesem Weg nicht zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, entschloss ich mich zu einem letzten Versuch. Ich nahm die Liste wieder hervor und packte meinen Pendel aus. Nun sollte dieser mir bei der Entscheidungsfindung behilflich sein.
Das Ergebnis war das Gleiche: unbefriedigend!
Die Entscheidung brachte das Leben selbst.
Meine Frau entschloss sich, einen weiteren Urlaub allein zu verbringen, in einer Zeit, in der ich, wie sie wusste, beruflich sehr angespannt war und kaum Zeit hatte, das heißt, auch kaum zu Hause war. Unbeeindruckt davon buchte sie den Urlaub, holte sich das nötige Geld, beauftragte eine Tagesmutter für die Kinder und verschwand für drei Wochen in den Urlaub.
Diese Tatsache brachte die Entscheidung!
Ich nahm mir eine Wohnung, packte die nötigsten Sachen und reichte die Scheidung ein.
Gleichzeitig beantragte ich das Sorgerecht für die Kinder.
Heute leben sie bei der Mutter, das Sorgerecht bekam ich nicht zugesprochen, ihre Angewohnheit, allein ohne die Kinder in den Urlaub zu fahren, hat sie trotzdem beibehalten.
Dies ist keine Anklage, weder meiner Frau noch meinen Kindern oder sonst irgendjemandem gegenüber.
Es war eine Herausforderung des Lebens, eine Chance für alle Beteiligten, das Beste für das eigene Wachstum zu erkennen und zu nutzen.
Hier geht es um kein Urteil, um gut oder schlecht, sondern nur um Chancen.
Ich selbst nutzte die Chance und kam erst einmal zur Ruhe.
Für mich hatte ein neuer Lebensabschnitt begonnen und es hatte sich eine völlig neue Situation eröffnet.
Ich ließ mich mit allen damit verbundenen Konsequenzen scheiden.
Nach Wochen der Trauer und dem Eingeständnis, dass die Beziehung gescheitert war, nach Wochen der Enttäuschung und dem Gefühl, versagt zu haben, kehrten die Lebensgeister zurück.
Die Erkenntnis, eine endgültige Entscheidung treffen zu müssen, die dem alten Leben eine neue Richtung vorgibt und eine unerschütterliche Veränderung auslöst, trifft einen bekanntlich erst dann mit voller Gewalt, wenn wieder Ruhe eingekehrt ist und die Dinge wieder an ihrem Platz stehen, bereit für eine neue Ordnung.
So war es auch bei mir. Mein Leben hatte sich von Grund auf erneuert, völlig neue Perspektiven taten sich auf und erschlossen Ressourcen, an die ich in der Vergangenheit nie geglaubt und die ich nie auch nur erahnt hätte.
Allmählich spielte sich das neue Leben ein. Die Kinder gewöhnten sich an die ungewohnte Situation und spürten, dass die getroffene Entscheidung auch etwas Gutes in sich trug, nämlich, dass inzwischen Ruhe für alle eingekehrt war und sich daraus auch für die Kinder und meine geschiedene Frau neue Möglichkeiten der Lebensplanung eröffneten.
Auch hier zeigten sich für alle Beteiligten völlig ungeahnte, diverse Handlungsspielräume mit vielschichtigen Chancen der Erweiterung: eine plötzliche neue Freiheit mit völlig neuen Perspektiven, deren Ausmaß sich mir nur langsam erschloss. Plötzlich erkannte ich, dass alle Dinge, alle Situationen und alle Lebensumstände nur ein Ziel haben: uns weiterzubringen.
Wo sollte die neue Lebensreise also hingehen und welche Ressourcen, welche Talente lagen brach, was war der innerste dringende Wunsch, der sich Bahn brechen wollte, um Sinnvolles zu tun?
Doch zunächst tat sich eine grausame innere Leere auf. Nun hatte ich alle Chancen, vollkommen neu anzufangen, jedoch keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen sollte. Eines war klar, es sollte etwas sein, das mich ausfüllte und etwas mit Menschen zu tun hatte, die auch bereit waren, loszulassen, Veränderungen in ihrem Leben zuzulassen und gewillt waren, alte Gedankenmuster aufzubrechen und neue Wege zu gehen.
Beim Durchblättern einer Zeitschrift über spirituelle Veränderungen kam mir der erlösende Gedanke. Es wurde eine Reihe von Büchern vorgestellt, deren Themen Bewusstseinswandel, Körper- und Energiearbeit waren, darunter war auch ein Buch über Familienaufstellungen. Hier galt als der bedeutendste Autor zu diesem Thema Bert Hellinger.
Mit dem Entschluss, in dieser Richtung etwas zu tun, begann ein völlig neuer Lebensabschnitt.
Zwölf Jahre mussten vergehen, um dahin zu kommen, wo ich heute stehe.
SEI MUTIG UND ENTSCHEIDE DICH!
Auch heute noch, nachdem ich längst eine eigene Praxis betreibe, vergeht kein Tag, an dem ich nicht etwas Neues dazulerne, neue Sichtweisen und andere Einstellungen zu den vielfältigsten Herausforderungen des Lebens kennenlerne.
Egal, welche Aufgabe sich mir auch stellt, ich bin mir meiner Verantwortung gegenüber meinen Worten und Taten bewusst, wohl wissend, dass die einer Entscheidung innewohnende Verantwortung eine echte Herausforderung darstellt.
Ständig treffen wir Entscheidungen, die sich für unsere privaten und beruflichen Belange des Lebens und somit in der Familie auswirken.
Diese Entscheidungen stützen wir auf unser gegenwärtiges Wissen.
Täglich kommen zu mir Menschen in meine Praxis, die genau mit diesem Thema Probleme haben.
Es dürfte nur ganz wenige Menschen geben, die noch keine Entscheidungen treffen mussten, die ihr Leben in seinen Grundfesten erschütterte.
Grundsätzlich eröffnen Entscheidungen immer auch Optionen für ein neues, aus den erstarrten Strukturen herausführendes Freiheitsfeld. Wie auch immer die Entscheidung ausfallen mag, sie ist letzten Endes immer mit Verantwortung verbunden.
Genau hier liegt eines unserer häufigsten Probleme. Das Problem, die Verantwortung für eine Entscheidung zu übernehmen. Das gilt in besonderem Maße für Entscheidungen mit großer Tragweite, wenn es zum Beispiel darum geht, sich zu entscheiden, ob bei einem Menschen die lebenserhaltenden Apparaturen abgeschaltet werden sollen, um ein eventuell längeres Leid für alle Beteiligten zu verhindern. Hier geht es buchstäblich um Leben oder Tod und um die Frage, wann ein Leben noch lebenswert ist und wann nicht.
Natürlich greift hier auch der Gesetzgeber ein, der den Verantwortungsrahmen eingrenzt und uns damit einen Teil der Entscheidung abnimmt. Als Beispiel sei hier die Palliativmedizin angeführt, die oft sehr emphatische, liebevolle Arbeit leistet. Der Gesetzgeber regelt hier recht offen, wobei er dazu neigt, die Verantwortung in die Hände der Ärzte und ihre medizinischen Möglichkeiten zu legen.
Trotz allem bleiben für uns noch riesige Entscheidungsspielräume im Alltagsleben offen.
In meiner Praxisarbeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein großer Teil der Menschen die Entscheidung trifft, sich nicht zu entscheiden. Das ist sicher die schlechteste aller Entscheidungen, da sie uns jeglicher Verantwortung, aber auch jeglichen Freiheitspotenzials beraubt.
Nur allzu gern geben wir dem Wetter, dem Chef oder anderen die Schuld für eine aufoktroyierte missliche Situation, ohne uns zu fragen, wie groß unsere eigene Schuld an der entstandenen Situation sein könnte.
Hier sind wir oft geneigt, nicht die Situation aus der Perspektive unserer eigenen Person zu betrachten, sondern jemand anderen für das Dilemma verantwortlich zu machen.
Verantwortung heißt, diese auch für eine Situation mitzutragen und daraus Entscheidungen zu fällen, die wiederum Verantwortung nach sich ziehen und so weiter.
Eine kniffelige Sache also.
Da ist es das Leichteste, sich nicht zu entscheiden – sollen sich doch die anderen die Finger verbrennen!
Die Konsequenz lässt allerdings nicht lange auf sich warten. Ein Blick auf unsere derzeitige Welt genügt, um diese Aussage klar zu untermauern.
Niemand hat den Mut, eine definitive Entscheidung zu treffen. Ständig schielen alle nach rechts oder links, sichern sich ab, drohen, manipulieren, schmeicheln, um individuelle oder kollektive Zustimmung zu erfahren.
Natürlich stehen auch im globalen Rahmen Entscheidungen an, in besonderem Maße in der Politik, um zum Beispiel Steuern zu erhöhen oder Kriege zu führen, Atombomben zu zünden und Menschen hinzurichten oder zu begnadigen. Große weltbewegende Ereignisse aufgrund von Entscheidungen, die nur einen Schönheitsfehler haben: Es sind Entscheidungen von Lobbyisten, ausgelöst, um für eine meist kleine Gruppe ›Mensch‹ Profit zu generieren.
Eine wahrhaftige Entscheidung aber entbehrt einer Reaktion und fußt auf einer verantwortungsvollen Aktion aus selbstlosen Beweggründen heraus, die zu einer Entscheidung führen, die keine Verlierer aufkommen lässt, insofern niemand bewusst geschädigt wird.
Hierzu ein Beispiel:
Eine Nation zettelt einen Krieg an und droht mit Angriff. Eine Reaktion hierauf ist zum Beispiel die Entscheidung, den Krieg anzunehmen und große Verluste in Kauf zu nehmen. Gewinner gibt es dabei nicht, sondern nur Verlierer, und auch wenn sich eine Partei als Gewinner ausruft, sind beide doch Verlierer mit nicht wiedergutzumachenden Verlusten.
Nun gibt es bei Streitigkeiten fast immer Verluste, doch eine mit allen derzeit verfügbaren Fakten abgesicherte verantwortungsvolle Entscheidung kreiert immer auch neue Wirklichkeitsräume beziehungsweise Realisierungsfelder, sodass man in Analogie zu kosmologischen Zusammenhängen von der Geburt eines neuen Sterns sprechen kann. Ein Stern repräsentiert bekanntlich eine in sich selbst ruhende Realität, die menschlichen Anfeindungen und Manipulationsversuchen gegenüber unangreifbar ist.
Eine in sich gefestigte Meinung ist aus liebevoller, achtsamer Verantwortung und dem Willen geboren, aus dem oben beschriebenen Wissen eine in sich schlüssige Entscheidung zu treffen.
Für Kinder ist diese Einstellung selbstverständlich. Kinder finden es doof, anderen wehzutun, oder anders gesagt, etwas zu tun, was nicht ihrem Innersten entspricht.
Nun mag jemand einwenden, dass doch gerade Kinder bei ihren Spielen recht grausam sind und sie es meist sowohl an Diplomatie als auch an Gerechtigkeit in unserem Verständnis mangeln lassen.
Genau hier, im spielerischen Bereich, liegt aber der signifikante Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen.
Die Entscheidungen der Kinder entspringen einem natürlichen Gerechtigkeitssinn. ›Natürlich‹ heißt hier, dass sie ohne manipulative Gedanken einzig und allein die natürlich gegebenen Grundprinzipien wie Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Gemeinsamkeit zur Entscheidungsgrundlage machen.
Manipulative Verhaltensweisen wie lügen, vertuschen (eine subtilere Form des Lügens), ausgrenzen (oder, wie es heute heißt: mobben) stammen letzten Endes von ihren ›Vorbildern‹, den Erwachsenen, aber nicht von unseren Kindern!
Hier wäre also der alte Spruch aus der Bibel angebracht, wo es heißt: »Ihr müsst werden wie die Kinder!«


