- -
- 100%
- +
Doch berechtigte diese kleinmütige Haltung der parlamentarischen Opposition auch ihn, Bronstein, dazu, auch die Verfassung zu vergessen? Er wusste selbst nicht, weshalb ihm mit einem Mal nach vielen Jahren wieder Jelka einfiel. Die hatte ihm immer wieder gesagt, das eigene Gewissen stehe über allem Recht, und wenn das Recht zweifelhaft sei, dann wäre es die Verpflichtung des einzelnen, es zu ignorieren. Lex dubia non obligat, hatte sie dabei einmal einen Jesuitengeneral zitiert, was ihn, Bronstein, naturgemäß über alle Maßen amüsiert hatte, dass nämlich eine Kommunistin Anleihen bei einem Katholiken nahm. Doch sie hatte damals nur lächelnd gemeint, dass Jesus, würde er heute auf Erden wandeln, das Mitgliedsbuch der Kommunistischen Partei in seiner Tasche trüge.
Quälend langsam vergingen die Stunden bis zum Mittag. Weder Cerny noch Bronstein war nach Reden und so gingen sie beide stumm einer Beschäftigung nach. Cerny arbeitete alte Akten auf, Bronstein rauchte eine Zigarette nach der anderen und starrte dabei zum Fenster hinaus.
Wie hatte es überhaupt so weit kommen können? Gerade einmal eineinhalb Jahrzehnte war es her, dass alle politischen Kräfte voller Enthusiasmus die Republik begrüßt hatten. Mehr noch als Staatsoberhaupt und Regierung war das Parlament die Zierde des neuen Staates. Und jetzt sollte das alles nicht mehr zählen? Hatten denn alle vergessen, wie schwer Rote und auch Schwarze seinerzeit um das Recht gerungen hatten, im Hohen Hause mitwirken zu dürfen, damit dieses eine wahre Volksvertretung werde? Nicht nur die Begründer der Sozialdemokratie, auch ihre heutigen Gegner, die Christlich-Sozialen, waren einst Verfemte gewesen. Sollte diese Erfahrung die beiden Lager nicht weit eher einen als trennen? Und sah man nicht gerade in diesen Tagen in Deutschland, wohin solcher Parteienhader führte? Ob er sich nicht doch besser krank melden sollte?
»Auf geht’s!« Zu Bronsteins großer Überraschung hatte sich Steinhäusl höchstselbst in der Kantine eingefunden, um alle ihm zugeteilten Beamten persönlich einzusammeln. Bronstein rang noch einen kleinen Moment mit sich, ob er sich der Einberufung widersetzen sollte, doch als er sah, wie Dutzende andere Kriminalbeamte wortlos aufstanden und dem Leiter des Sicherheitsbüros willig folgten, da war es auch um seinen Mut geschehen. Umständlich tupfte er seinen Mund mit der Serviette ab, dann nickte er Cerny mit trauriger Miene zu, ehe er sich dem Zug der Steinhäusl-Kompanie anschloss.
Als sie die Treppen zum Ring hinuntermarschierten, überschlug er die Zahl der hier eingesetzten Kollegen und kam auf knapp hundert Mann, die sich nach rechts wandten, um über die Währinger Straße zur Universität zu gelangen. Gleich danach passierte der Trupp den Rathauspark, und schon kam das Parlament ins Blickfeld. Tatsächlich wehten vor den Toren die Fahnen, die das Abhalten einer Sitzung signalisierten, und Bronstein fragte sich, ob sich wirklich Deputierte in den Hallen finden würden. Über die Rampe zog der Zug der Kriminalisten in die Säulenhalle ein und wandte sich dort nach links, um zum Sitzungssaal des Nationalrates zu gelangen. Instinktiv griff Bronstein nach seiner Taschenuhr. Zwei Minuten nach zwei Uhr nachmittags.
Gedämpfter Lärm drang durch den schmalen Gang, und unwillkürlich sah Bronstein auf. Tatsächlich, eine namhafte Gruppe von Mandataren schickte sich eben an, den Plenarraum zu betreten. Steinhäusl hatte in der Zwischenzeit die Hälfte seiner Leute diverse Ausgänge besetzen lassen und befahl einem weiteren Dutzend, in der Säulenhalle Aufstellung zu nehmen. Mit gut 30 Kollegen sah sich Bronstein nun vor der großen Türe zum Präsidium stehen, die weit offen stand. Er schob sich an einigen Beamten vorbei und warf einen Blick in das Plenarrund. Die Reihen der Roten waren fast vollzählig gefüllt, und auch auf der rechten Seite blieb kaum ein Stuhl leer. Steinhäusl gab hektisch diverse Befehle, während sich Bronstein an den Türrahmen lehnte. Direkt unter seinen Augen huschte ein Mann vorbei, in dem er den Abgeordneten Forstner erkannte. Freundlich nickend zwinkerte er ihm zu, wobei er ansatzweise mit den Schultern zuckte. Forster, der seinerseits Bronstein erkannte, erwiderte die Geste und sah zu, dass er zu seinem Sitzplatz kam. Plötzlich öffnete sich die Pforte zum ehemaligen Speisesaal, und Bronstein wurde der Abgeordneten Gabriele Proft ansichtig. Mit einer galanten Bewegung seiner rechten Hand ließ er auch sie durch. Just in diesem Augenblick, die Proft nahm gerade die letzte Stufe hinab zur Rostra, fiel Steinhäusl auf, was hinter seinem Rücken vorgegangen war.
»Sind Sie komplett verblödet, Mann? Wir sollen die Sitzung verhindern, nicht ermöglichen!« Bronstein bemühte sich um einen dämlichen Gesichtsausdruck und zuckte abermals mit den Schultern. Steinhäusl setzte zu einem Schreianfall an, doch Bronstein nickte über dessen Kopf hinweg in Richtung des Ganges. Dort kamen der Wiener Bürgermeister und einer seiner Stadträte herbeigeeilt.
»Halt! Hier gibt es kein Durchkommen!«, belferte Steinhäusl und verhinderte, dass Seitz mit seinem Kompagnon in den Saal gelangte.
»Junger Mann, ich war schon unter dem Kurienwahlrecht Abgeordneter. Da werd’ ich mir jetzt nicht den Zutritt zum Plenum verbieten lassen«, entgegnete Seitz mit nasalem Schönbrunner Deutsch und schickte sich an, Steinhäusl zu passieren. Steinhäusl, der fünf Tage zuvor feuchtfröhlich seinen 54. Geburtstag gefeiert hatte, blieb die Luft weg. »Was … erlauben Sie … sich?« Er trat eilig drei Schritte zurück, um sich Seitz erneut in den Weg stellen zu können. »Das hier ist eine … untersagte Kundgebung. Sie … dürfen nicht …!«
»Wer sagt das?«
Automatisch zückte Steinhäusl die schriftliche Weisung, die Brandl von Dollfuß erhalten und an Steinhäusl weitergereicht hatte. Wie selbstverständlich nahm sie Seitz an sich, betrachtete sie kurz und meinte dann: »Sehr schön. Das geb ich dem Präsidenten! Das wird Folgen haben, mein Lieber. Darauf können S’ Gift nehmen!« Sprach’s und ließ den entgeisterten Steinhäusl stehen. Der brauchte einige Atemzüge, bis er sich wieder gefangen hatte. »Rote … Judensau!«, brüllte er.
»Entschuldigung, Herr Hofrat«, mischte sich Bronstein ein, »der Seitz, der ist kein Jude!«
»Wer a Jud’ ist, bestimm’ i.«
»Lueger.«
»Wos?« Abermals war Steinhäusl verwirrt.
»Das hat der Lueger g’sagt. Das mit dem Juden.«
Erneut schnappte Steinhäusl nach Luft. Für einige Sekunden wirkte er wie ein Fisch auf dem Trockenen, so hektisch öffnete und schloss sich sein Mund. »Aus meinen Augen … Sie … Missgeburt!«, schrie er so laut, dass die anderen Beamten zusammenzuckten. Bronstein zuckte zum dritten Mal mit den Schultern und begab sich beinahe schlendernd zum Seiteneingang des Plenarsaals. Von seinen Kollegen unbehindert, trat er durch die Pforte und befand sich mit einem Mal unmittelbar hinter den großdeutschen Mandataren. Präsident Straffner begründete, weshalb er sich im Recht wähnte und kündigte sodann, die Weisung des Kanzlers effektvoll durch den Raum schwenkend, an, wegen Versuchs einer gewaltsamen Verhinderung der Sitzung des Nationalrates Anzeige gemäß Paragraph 76 StGB erstatten zu wollen. Unmittelbar danach erklärte er die Sitzung für geschlossen, und beide Ränder des Halbkreises erhoben sich, um mehrmals »Hoch die Verfassung!« zu rufen. Bronstein kam gar nicht mehr dazu, in den Gesichtern der Anwesenden zu lesen, denn in atemberaubender Geschwindigkeit leerte sich die Örtlichkeit, und ehe er es sich versah, war er allein in dem geschichtsträchtigen Gemäuer. Er ließ seinen Blick über die Statuen griechischer Philosophen schweifen, dann zuckte er zum vierten Male mit den Schultern und trat schließlich auch auf den Gang.
Als er zwei Stunden später wieder in seinem Büro eintraf, war von Cerny keine Spur zu finden. Bronstein meinte denn auch, für einen Tag genug getan zu haben, und verließ das Amt umgehend. Der Heimweg erwies sich als erstaunlich lang, denn vom ›Kupferdachl‹ über das ›Central‹ und das ›Herrenhof‹ bis zur ›Bierklinik‹ machte er in jedem Lokal Station, das sich zwischen seiner Arbeits- und seiner Schlafstelle befand. Am nächsten Morgen konnte er sich auch beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie er in sein Bett gefunden hatte.
Mit hämmernden Kopfschmerzen sank er auf seinen Bürostuhl.
»Und?«, fragte er Cerny unter Aufbieten aller Kräfte, »wie war’s bei euch?«
»Du glaubst es nicht. Der Brandl hat das wirklich durchgezogen. Wir überbrachten der Heimwehr die Aufforderung, sofort das Gebäude zu räumen, und die haben sich tatsächlich zurückgezogen.«
»Einfach so?«
»Einfach so!«
Bronstein nickte.
»Aber hast schon g’hört, was heute passiert ist?«
»Nein, was denn?«
»Der Brandl ist glatt pensioniert worden. Buchstäblich von heut’ auf morgen. Der Dollfuß hat so einen Haßn auf ihn, dass er ihn via Bundespräsident sofort in den Ruhestand hat versetzen lassen!«
»Der ist doch erst 58!«, entfuhr es Bronstein.
»Weißt eh, wie’s ist. Das Alter ist wurscht, wenn’s um die Politik geht.«
»Na ja, a scho wos!«
»Sag das ned. Wer weiß, wer jetzt kommt… Und vor allem: Wer weiß, was jetzt kommt.«
»Was soll schon kommen? Alles bleibt, wie’s ist.«
Bronstein bemühte sich redlich, Bestimmtheit in seine Stimme zu legen. Doch er wusste genau, dass die letzten beiden Sätze nicht der Wahrheit entsprachen. Aber darüber wollte er nicht nachdenken, denn sonst hätte er sich unweigerlich erneut die Frage stellen müssen, wie es überhaupt so weit hatte kommen können. Diese 14 Jahre, sie waren buchstäblich wie im Flug vergangen, und in der Rückschau wirkte 1919 wie Ostern und Weihnachten gleichzeitig. Damals hatten alle euphorisiert gewirkt, so als hätte der berühmte Onkel aus Amerika ihnen gerade eine Millionenerbschaft vermacht. Selbst er war von der neuen Republik begeistert gewesen – zumindest so lange, bis ihm Jelka abhanden gekommen war. Jelka! Merkwürdig, dass er plötzlich und unvermutet zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden an sie denken musste. Vielleicht, wenn alles anders gekommen wäre, dann säße er heute gleich Cerny als Familienvater an seinem Schreibtisch, doch so besaß er nichts außer seinen Erinnerungen. Und die waren auch schon reichlich trübe. So trübe wie die Zukunftsaussichten.
»Was hast denn? Du schaust so komisch drein«, fragte Cerny in die entstandene Stille.
»Ach, ich glaub’, ich muss g’rad ein bisserl sentimental werden. Kümmere dich einfach nicht darum.«
1919: Entscheidung
in der Hörlgasse
»Jetzt gehst du aber zu weit!« Bronstein beugte sich über den Tisch und sah Jelka direkt an. »Du kannst doch nicht ernsthaft behaupten, das Heute wäre genauso schlimm wie das Gestern! Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, wie das vor dem Kriegsende war?«
Bronstein war des ewigen politischen Zanks eigentlich leid, denn Jelka, so sehr er sie auch liebte, vermieste ihm mit ihren agitatorischen Tiraden ein ums andere Mal den Tag. Hinter allem und jedem sah sie eine Verschwörung wider das Volk, jeder Schritt vorwärts bedeutete für sie einen Rückschritt, weil mindestens zwei oder drei Schritte nach vor hätten gemacht werden müssen, und über all dem thronte die grundlegende Erkenntnis, dass sich ohnehin nichts geändert habe und eine Herrschaft so widerwärtig sei wie die andere.
»Deine eigenen Leute«, begann Bronstein von Neuem, weil er Jelkas Sätze nicht unbeantwortet im Raum stehen lassen wollte, »wären in der Monarchie samt und sonders hinter Kerkermauern verschwunden, wo man, so nebenbei bemerkt, dafür gesorgt hätte, dass sie, wenn sie nicht ohnehin verrotteten, von irgendwelchen gedungenen Schlägern gebrochen werden. Jetzt kann jeder seine Meinung sagen! Jetzt herrscht Demokratie, jetzt sind wir alle gleichermaßen frei.«
»Das glaubst du doch selbst nicht«, schnaubte Jelka, und ihre Wangen glühten in jenem Rot, das auch die Fahnen ihrer Partei zierte. »Dass wir heute demonstrieren dürfen, liegt doch nur daran, dass sich die Bourgeoisie vor uns fürchtet. Nicht vor dir oder mir natürlich, sondern vor der Masse, die sie im Augenblick nicht kontrollieren kann. Aber glaube mir, sobald die Herrschenden wieder Oberhand gewonnen haben, ist es vorbei mit deiner Freiheit und deiner Demokratie.«
»Aber wieso«, Bronstein machte eine Geste, die sein Unverständnis unterstreichen sollte, »das ist doch gerade das Geniale an der Demokratie. Genau solche Tendenzen kann man durch entsprechendes Engagement von vornherein im Keim ersticken.«
»Aber geh«, Jelka winkte ab, »wie soll denn das gehen, bitte schön?«
»Na, indem man sich auf die Hinterbeine stellt«, beharrte Bronstein.
»Ah, du tätst das machen?«
»Wenn ich davon überzeugt wäre, dass etwas falsch läuft, sicher!«
Jelka lächelte milde: »Dann ist also in der Monarchie doch nichts falsch gelaufen?«
»Wie meinst jetzt nachher das?«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du dich vor 1918 auf die Hinterbeine gestellt hättest!«
Bronstein schluckte. Damit hatte Jelka nicht unrecht. Er suchte nach einer Erklärung: »Ja, damals«, fing er umständlich an, »da war ich ja noch dumm und unwissend. Heute würde mir so etwas nicht mehr passieren.«
Jelka legte den Kopf schief und sah Bronstein lange an: »Du glaubst das sogar, gell?!«
»Ja, sicher«, übte er sich in Überzeugung.
»Noch ehe der Hahn dreimal kräht …«
»Was soll das jetzt?« Bronstein spürte, wie er ernsthaft zornig wurde.
»Ich sag’ dir was: wenn es darum geht, ob irgendein Missstand fortbesteht oder deine Karriere, dann wirst du dich immer für Letzteres entscheiden. Und – Moment, lass mich ausreden – das nehme ich dir auch gar nicht übel. Jeder würde so entscheiden. Aber genau deshalb sind Revolutionen bisher immer gescheitert. Man macht ein kleines, scheinbar unbedeutendes Zugeständnis hier, toleriert einen angeblich vernachlässigbaren Missstand da, und ehe man es sich versieht, ist man selbst Teil des Sumpfes, der einst Monarchie gerufen wurde und sich jetzt Demokratie nennt. Und das Faszinierende daran: das geschieht ganz schleichend. Du merkst es selbst gar nicht, hältst dich immer noch für ehrlich und integer. Aber in Wirklichkeit bist du längst schon Teil des Krebsgeschwürs, welches das Volk zerfrisst. Denn das Sein, David, bestimmt das Bewusstsein. Wer der Herrschaft dient, ja, wer ihr auch nur gefallen will, der ist selbst Teil der Herrschaft – und damit ein Übel für das Volk.«
Bronstein schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: »Jetzt reicht’s aber. Das muss ich mir nicht sagen lassen. Ich habe noch nie etwas getan, wozu ich nicht stehen konnte.«
»Vielleicht noch nicht. Aber dann kannst du auch nicht wissen, wie du reagieren würdest, wenn du vor eine solche Entscheidung gestellt würdest.«
Bronstein unterdrückte einen Fluch.
»Erinnere dich an den Gründonnerstag«, fuhr Jelka fort, »da haben Arbeitslose vor dem Parlament demonstriert, und deine Kollegen haben die Menge zusammenschießen lassen.«
»Ja, weil sie das Parlament abfackeln wollten, das ist ja etwas völlig anderes«, brauste Bronstein abermals auf, »da muss man natürlich einschreiten. Aber das hat ja auch nichts mehr mit Demokratie zu tun… Die haben sogar die Pferde der berittenen Truppe getötet«, fügte er mit bitterem Ton hinzu.
»Die an Ort und Stelle von Passanten verspeist wurden, weil in deiner Demokratie ja für alle Milch und Honig fließen.«
»Du weißt genau, dass das der Hinterlassenschaft der Monarchie geschuldet …, ach was, das wird mir jetzt zu blöd. Ich stell mich da nicht länger hin!«
Er stand auf und trat in den Flur, um sich ausgehfertig anzukleiden: »Wir sehen uns«, rief er in die Küche, »wennst wieder runtergekommen bist von dem Baum, den du da aufgestellt hast.«
»Ja, aber nur, wenn deine Kollegen mich lassen!«
Bronstein ging noch einmal in die Küche zurück: »Was soll das schon wieder heißen?«
»Das soll heißen, dass wir heute, wie du es nennst, demonstrieren. Und dann werden wir ja sehen, wo du mich sehen wirst: hier, im Kriminal, im Leichenschauhaus …, alles ist möglich!«
»Weißt was? Du kannst mir den Hobel ausblasen mit deinen ewigen Provokationen! Ich geh jetzt ins Büro. Weil, ein ehrlicher Mensch hat eine ehrliche Arbeit. Der hat keine Zeit zum Demonstrieren!« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er in den Gang und knallte die Tür zu.
Wie immer, wenn er sich mit Jelka gestritten hatte, fühlte sich Bronstein den ganzen Tag über hundeelend. Am liebsten hätte er alles liegen und stehen gelassen, um zu ihr zu laufen und sich für seine Worte zu entschuldigen. Aber Dienst war Dienst, und da gab es keinen Gewissensspielraum, der es einem erlaubte, selbigen für private Obliegenheiten zu ignorieren. Ob es da wirklich eine Demonstration gab?
Bronsteins innere Unruhe wuchs mit jeder Minute, die sein Körper an den Schreibtischsessel geschraubt war. Schließlich ertrug er es nicht länger und griff zum Telefon. Er ließ sich mit dem staatspolizeilichen Büro verbinden, wo er nach Hofrat Pataki verlangte, den er von früher gut kannte.
»Sag«, begann er vorsichtig, »weißt du irgendetwas von einer Kommunistendemonstration heute?«
»Da schau her, David. Wer hat dir denn das geflüstert? Bist ja gut informiert!«
»Na, so gut auch wieder nicht, wie du merkst. Sonst müsste ich ja nicht nachfragen.«
Pataki lachte kurz, um sofort wieder ernst zu werden. »Ehrlich, David, die G’schicht’ ist kein Spaß. Wir haben seit dem 12. dieses Monats Hinweise darauf, dass die Kommunisten putschen wollen. Du, ich sag dir’s, wenn die Sozis nicht wären, hätten wir keine Chance gegen die. Aber auf die Roten ist Verlass. Der Bauer und der junge Adler, die haben ihre Leut’ im Griff, und wenn einer von denen sagt: Fass, dann schnappen die nach allem, was sich bewegt. G’rad so, wie’s ihre Parteiführung will. Und um ganz sicher zu gehen, dass auch ja nix g’schieht, haben wir in der Nacht von gestern auf heute die kommunistischen Führer prophylaktisch in Gewahrsam genommen.«
»Ihr habt sie verhaftet?«
»Ja, praktisch die ganze Leitung. Uns ist kaum wer entwischt. Ja, dein Spezi Kisch, der hat sich rar gemacht, und so ein rothaariges Flintenweib ist uns auch durch die Lappen gegangen. Die dürfte was g’wusst haben, denn sie war weder bei sich zu Hause noch sonst wo in einer der bekannten Wohnungen.«
Bronstein fühlte, wie sein Mund trocken wurde.
»Stell dir vor«, lachte Pataki in den Apparat, »der Seidenbast, weißt eh, der alte Schrull vom Koat 1, hat noch g’meint, die hat sich sicher einen Beschützer ang’lacht, bei dem s’ Unterschlupf g’funden hat. Aber so wichtig ist die auch wieder nicht. Welcher Revoluzzer hört schon auf eine Frau? Die wirklich Wichtigen, die haben wir alle eingekastelt!«
»Verhaftet? Einfach so?«, fragte Bronstein, als er seine Sprache endlich wiedergefunden hatte.
»Schau«, sagte Pataki, »das ist ja alles Politik, nicht wahr. Wir machen nur, was die Politiker uns auftragen. Das war schon immer so, und das wird wahrscheinlich auch immer so sein.«
»Ja, ja, das weiß ich eh, aber einfach so, ohne irgendeine Grundlage? Da muss doch zumindest irgendein Verstoß vorliegen. Und zwar ein so gravierender, dass er eine Arretierung rechtfertigt.«
»Da hast schon recht«, pflichtete ihm Pataki bei, »und den gibt es ja auch.«
»Ah so?« In Bronsteins Stimme schwang eine gewisse Skepsis mit, die gleichwohl Pataki nicht zu beeindrucken schien. »Die Kommunisten«, erläuterte dieser, »haben Flugblätter verteilt, in denen sie zum bewaffneten Umsturz aufrufen. Das ist natürlich, wie du nur zu gut weißt, in höchstem Ausmaß illegal. Ein sogenanntes Revolutionäres Soldatenkomitee, hinter dem klarerweise die kommunistische Führung steckt, hat alle Wehrmänner der Volkswehr aufgefordert, samt ihrer Bewaffnung heute auf die Straße zu gehen.«
Heute!
Bronstein wurde blass. Davon musste Jelka gesprochen haben. Es konnte keinen Zweifel geben. Das war die Demonstration, an der sie, zumal sie ja der geplanten Verhaftung entgangen war, teilnehmen wollte. Und offensichtlich waren die Behörden bestens informiert. Jelka und ihre Genossen würden ins offene Messer laufen. Bronstein spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann.
»Aber wir sind ja auch nicht von gestern, gell«, fuhr Pataki derweilen fort, »der Bauer persönlich hat sich mit dem Präsidenten ins Einvernehmen gesetzt, um alle nötigen Schritte in die Wege zu leiten, damit wir diesmal nicht wieder mit runtergelassenen Hosen erwischt werden wie damals im April.«
Bronstein wusste naturgemäß wie jeder in der Exekutive, dass die Geschichte vom Gründonnerstag die Polizeioberen immer noch wurmte, und nicht wenige sannen buchstäblich Tag und Nacht auf Revanche. Bronsteins Angst um Jelka wurde darob nicht geringer. »Vor allem arbeiten wir diesmal geradezu vorbildlich mit den Sozis zusammen«, unterstrich Pataki das bisher schon Gesagte. »Der Deutsch vom Arbeiterrat hat extra loyale Einheiten auf die 41er angesetzt, damit die auf keinen Fall einen Blödsinn anstellen können.«
Bronstein kannte die ›41er‹. Das war die Truppe von Leo Rothziegel gewesen, bei der sich auch sein Freund Egon Erwin Kisch herumgetrieben hatte, ehe ihm offenbar das Pflaster in Wien zu heiß geworden war.
»Aber stell dir vor, das hat den Sozis nicht gereicht. Der Eldersch hat unsere Behörde amtswegig angewiesen, alle bekannten Führer der KP zu verhaften. Und du weißt, was das heißt: Weisung ist Weisung, ganz besonders, wenn sie vom Minister kommt.«
Bronstein bezweifelte, dass eine solche Maßnahme mit dem geltenden Recht in Einklang zu bringen war, denn sogar in der Monarchie hatte es eines konkreten Vorwurfs an eine Person bedurft, um diese in Arrest nehmen zu können, doch keinesfalls bezweifelte er, dass ein Minister jederzeit bereit war, das Recht in seinem Sinne zu beugen.
»Wenn die heute also wirklich losmarschieren«, lautete inzwischen Patakis Resümee, »dann sind sie in jedem Fall führerlos, und so sollte es uns ein Leichtes sein, mit ihnen fertig zu werden.«
Ja, damit konnte er recht haben, der Pataki, dachte Bronstein. Instinktiv griff er sich an die Brust und versuchte, seine Atemfrequenz wieder unter Kontrolle zu bringen. Eigentlich wollte er Pataki noch fragen, für wann die Demonstration angesetzt war, doch er fühlte, dass ihm seine Zunge nicht länger gehorchen würde.
»Aha«, lallte er. Er hielt kurz den Hörer zu, sog lange und tief Luft ein, dann zwang er sich noch einmal zur Ruhe. »Ich dank’ dir schön. Das war’s auch schon.« Die letzten Worte hatte er regelrecht zwischen den Zähnen hervorgepresst.
»Na hallo, hallo, ned so gach!«, hörte er Pataki am anderen Ende der Leitung rufen. »Wozu willst denn das alles überhaupt wissen?«
»Ach, nur eine Anfrage von oben. Weißt eh, wie’s ist. Alsdern, danke und servus.«
Noch ehe Pataki abermals reagieren konnte, hängte Bronstein ein.
Er ließ seinen Körper zurück auf die Sessellehne plumpsen und fiel förmlich in sich zusammen. Jelka schwebte in höchster Gefahr, er musste sie unbedingt aus der Schusslinie bekommen. Nur, wie sollte er das bewerkstelligen? Er wusste ja nicht einmal, wo sie war.
Er sah sich zur Tatenlosigkeit verurteilt, und das war jener Zustand, den er am meisten hasste. Jeder Versuch, sich abzulenken, war in solchen Momenten von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und dass er das Unabänderliche einfach hingenommen hätte, lag ohnehin jenseits jeder Vorstellung. Den grausamen Wechselfällen des Schicksals wehrlos ausgeliefert zu sein, erschien ihm wie eine schwere Erkrankung, und die einzige Medizin, die ihre Symptome wenigstens teilweise zu lindern vermochte, war hochprozentiger Alkohol.
Bronstein fuhr hoch, verließ fluchtartig sein Büro und stürzte sich förmlich in die Kantine, die ob der Uhrzeit nahezu völlig verwaist war.
»Schani, an Doppelten, aber schnell a no«, keuchte er.
»Ja, was ist denn dir g’scheh’n, dass d’ dich gar so echauffierst?« Verwundert studierte Johann, der Kantinenwirt, Bronsteins Äußeres auf der Suche nach besorgniserregenden Anzeichen.
»Ah, nix, schlecht is’ mir. Ich glaub’, das Beuschel gestern war nimmer ganz astrein«, log Bronstein.
»Wenn’s wirklich ein Beuschel war, dann sicher ned«, replizierte Johann, »wer kriegt heutzutag’ schon ein Beuschel? Wenn, dann haben s’ das irgendwo in Schönbrunn g’funden, wo’s von der Sisi im 97er Jahr z’ruckg’schickt worden ist.« Dabei lachte der Wirt glucksend.






