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Wenn man bedenkt, dass diese Zeilen erst zu Beginn des Krieges geschrieben wurden, also vor Auschwitz, dann muss dem Letzten, der sich noch ein wenig theologisches Gespür bewahrt hat, dämmern, was es bedeutet: »Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist.« Eine christliche Theologie, die das verkennt oder verleugnet, verleugnet nicht nur ihre eigene Überlieferung; sie begibt sich vielmehr jeder theologischen Deutung der Wirklichkeit, und zwar nicht allein des Zeitgeschehens, sondern buchstäblich des »Seinsgeschehens«. Denn darum dreht sich das in jenen Jahren entstandene sog. zweite Hauptwerk Heideggers, seine sog. »Kehre«: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), das erst posthum 1989, anlässlich seines 100. Geburtstags, erschienen ist. Nicht zuletzt Heidegger gegenüber haben wir uns folgende »Methodenanweisung« aus Benjamins Passagen-Werk zu eigen gemacht: »Sich immer wieder klarmachen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (…) eine ganz andere Methode verlangt als der zu einem Text. In einem Fall ist Theologie, im andern Philologie die Grundwissenschaft.« (GS V.1, 574) Damit ist weit mehr als nur eine Methode angesprochen. Was der Wirklichkeitsbezug der Theologie bedeutet, mag das dritte Kapitel dieser Abhandlung zeigen, wo es um Heideggers Deutung des Seinsgeschehens geht, in dem er gegenüber der metaphysischen Geistestradition das Sein als Möglichkeit fasst. Und zwar nicht als eine, sondern als die Möglichkeit nicht etwa menschlicher Selbstverabsolutierung, sondern Selbstübersteigerung, die in der Verherrlichung des Todes kulminiert: »Der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns«. Nie hat in der Philosophie – über alle weltanschaulichen oder ideologischen Verengungen hinaus – die Macht des Todes eine derartige Affirmation erfahren; ist dem Reich des Antichristen mit dem »Reich des Fragwürdigsten« ein beredteres Denkmal gesetzt worden. Gewiss, jene »Möglichkeit« hat es seit dem Sündenfall gegeben. Aber dass sich einer, der einmal mit einer Arbeit über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916) habilitiert worden ist [da dessen Sprachlehre in der betreffenden Arbeit unbearbeitet geblieben sei, trug sich Benjamin damals pikanterweise mit dem Gedanken, sich darüber zu habilitieren …], nicht allein über die Lehre des Doctor subtilis der scholastischen Philosophie hinwegsetzt, sondern gleich seinen eigenen »letzten Gott« erfindet, bezeugt den Abfall vom Gott der Offenbarung – einen Abfall, der über Heidegger hinaus nicht allein das Denken, sondern buchstäblich das »Seinsgeschehen« des 20. Jahrhunderts weithin bestimmen sollte.
Wenn wir entgegen unserer ursprünglichen Absicht hier noch einmal auf Heidegger rekurrieren, so nicht nur deshalb, weil sich in seinem »Reich des Fragwürdigsten« gewissermaßen das Gegenreich zum Reich Gottes auftut. Ebenso im Hinblick auf Edith Stein, deren Kreuzesliebe. Einige Gedanken zum Fest des hl. Vaters Johannes vom Kreuz vom 24. November 1933 [nach der Liturgiereform ist das betreffende Fest auf den 14. Dezember verlegt] eine programmatische Bedeutung für ihr Glaubenszeugnis gewinnen sollte. Die folgende Konstellation erscheint nicht allein in geistesgeschichtlicher Hinsicht bemerkenswert: Martin Heidegger, ehedem Assistent Edmund Husserls, aus einer gut-katholischen Familie stammend, bricht mit dem überlieferten Glauben, um einer Philosophie des Todes und des Untergangs das Wort zu reden. Darin ist er für ganze Generationen von Intellektuellen bestimmend geworden, mochten sie auch sein nationalsozialistisches Engagement missbilligen. Noch kürzlich hat ihm der Komparatist Georges Steiner in seinem Buch Gedanken dichten [Berlin 2011] als den modernen Denker geehrt, der Denken und Dichten zusammengebracht habe. – Edith Stein, auch sie vormals Assistentin Husserls, aus einer jüdischen Familie stammend, findet vom Atheismus zum katholischen Glauben. Außergewöhnlich, wie sich bei ihr der Gedanke des Kreuzesmysteriums und das Leben aus dem Kreuzesmysterium bis hin zum Martyrium in Auschwitz deckt; außergewöhnlich auch die Entsprechung der christologischen und der eschatologischen Dimension des christlichen Glaubens in ihrem Leben und Denken. Selbst wenn hier nur einige geistliche Texte zur Sprache kommen, zeichnet sich in ihnen eine Deutung nicht zuletzt der jüngsten Geschichte im Licht der messianischen Offenbarung ab, während Heidegger dem »Spiel des Abgründigen« huldigt, dem sich seine Philosophie verschrieben hat. Man mag in jenem Wort eine poetische Metapher erblicken, obschon es Die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) enthalten [wo es an entscheidender Stelle steht, wie noch zu zeigen sein wird]. Man kann jedoch auch im Versuch einer Literarisierung alles Sinnes, wie er sich in der westlichen Kultur im Zuge der Verbreitung von Hermeneutik und Kontextualismus seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat, in Abwandlung eines Celan-Wortes ein »Metapherngestöber« sehen, das die Einsicht in die Wirklichkeit, in die Wahrheit wie in das Unwesen des Geschehenen, verdunkelt: »Orkane. / Orkane, von je, / Partikelgestöber, das andre, / du / weißts ja, wir / lasens im Buche, war / Meinung.« (Die Gedichte, 115) So lautet eine Strophe in Engführung, dem wohl bedeutendsten Gedicht zur Shoah. Was sich aber hinter dem Allerweltswort »Meinung« verbirgt, hat bereits im Jahrhundert zuvor Kierkegaard in seiner Rede An einem Grab zum Ausdruck gebracht: »Man kann eine Meinung haben über ferne Begebenheiten, über einen Naturgegenstand, über die Natur, über gelehrte Schriften, über einen anderen Menschen, und so über vieles andere, und wenn man diese Meinung äußert, kann der Weise entscheiden, ob sie richtig ist oder unrichtig. Dagegen bemüht keiner den Meinenden damit, die andere Seite der Wahrheit zu betrachten, ob man nun wirklich die Meinung hat, ob sie nicht etwas ist, das man bloß hersagt. Und doch ist diese andere Seite ebenso wichtig, denn nicht allein der ist ja geisteskrank, der das Sinnlose sagt, sondern ebensosehr der, welcher eine richtige Meinung sagt, wenn diese doch ganz und gar keine Bedeutung für ihn hat.« (Religiöse Reden, 170) Ohne es zu wissen, hat Kierkegaard die Pathologie dessen beim Namen genannt, was wir heute Relativismus nennen: ein Sichverstecken hinter Meinungen und Metaphern, um nicht für das einmal Gesagte zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Denken und Dichten, Dichten und Denken – alles gerät zur poetischen Verflüchtigung der Wahrheit, in der Verleugnung des Logos, wie übrigens Heidegger vor der betreffenden Stelle dem Logos entsagt und »das Sagen in die Zweideutigkeit der Aussage hineingerissen« werde [wir kommen darauf unten zurück]. Und so kann einer, nachdem er mit einer kaum zu überbietenden Kälte Tod und Untergang beschwor, nach dem geschehenen Untergang zurückrudern, ganz so sei es nun auch wieder nicht gemeint gewesen, und einen Humanismusbrief schreiben, um sich in der ehrenwerten Gesellschaft der großen Denker und Dichter wiederzufinden; selbst der zeitlebens gebrochene Celan wird, um dem Jahrhundertphilosophen seine Reverenz zu erweisen, zum Todtnauberg pilgern. Darin liegt die Zweideutigkeit einer Moderne beschlossen, die in Wahrheit keine Wahrheit kennt.
Es sei mit Nachdruck betont, dass hier von einer und nicht etwa verallgemeinernd von der Moderne die Rede ist. Das Problem hat bereits vor einem halben Jahrhundert Alois Grillmeier in seinem Münchener Vortrag Die Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Jesu Christi. Zur Bild-Theologie der Väterzeit (1963) umrissen, der in erweiterter Fassung sein Buch Mit ihm und in ihm. Christologische Forschungen und Perspektiven (Freiburg i. Br. 1975) eröffnet, und zwar mit folgender Feststellung: »Ein Gespräch zwischen Künstlern und Theologen kann – über alle persönlichen Kontakte hinaus – in dem Maße zu gegenseitiger Anregung führen, als sich eine feste Brücke zwischen christlicher Kunst und Theologie schlagen läßt. Beiden kommt wohl die Notwendigkeit eines solchen Brückenschlages heute in gesteigerter Dringlichkeit zum Bewußtsein. Der gläubige Künstler fühlt mehr und mehr die Spannung zwischen den modernen Kunstrichtungen und dem religiösen Bildgehalt, den er darstellen soll. Er kann auch mit der ausschließlich zur Herrschaft gekommenen formalästhetischen Betrachtung des Bildes oder Bildwerkes nicht mehr zufrieden sein und muß eine philosophisch und theologisch unterbaute Bildtheorie fordern. Der Theologe aber – um vom Philosophen zu schweigen – muß verlegen gestehen, daß eine moderne Theologie des Bildes noch nicht erarbeitet ist.« Diesem Manko haben wir abgeholfen in Kreuz und Kairos. Eine eucharistische Grundlegung des Christusdogmas (Würzburg 2005), zunächst in Anlehnung an Grillmeiers Abhandlung Der Logos am Kreuz. Zur christologischen Symbolik der älteren Kreuzigungsdarstellung (München 1956), von der er später einige Kapitel in Die Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Jesu Christi eingebaut hat. Doch sind wir nicht wie Grillmeier von Spätantike und Frühmittelalter ausgegangen, sondern von der Moderne – so im abschließenden Teil »III. Kreuz und Kairos: Drei Annäherungen: 1. Barnett Newman: Fourteen Stations of the Cross. Lema Sabachthani – eine Deklaration; 2. Miloslav Čelakovský: Kreuzesdarstellung (ohne Titel) – Versiegelung Christi; 3. Paul Klee: Das Lamm – die Entsiegelung Christi«. Kein Zufall, dass Newman, ein säkularisierter New Yorker Jude, der nach einer schweren Schaffens- und Gesundheitskrise seinen Kreuzweg malte, den antinominalistischen Charakter seiner Kunst betont. Denn dass die moderne Kunst subjektivistisch sei, wie Karl Barth empfand [wir kommen gleich darauf zurück], ist ein Vorurteil. Vielmehr ist die subjektive Reduktion, die reductio ad hominem, ein Wesenszug der neuzeitlichen Kunst und Philosophie; man könnte in der ästhetischen Moderne, von eher zweitrangigen Kunstwerken einmal abgesehen, wie auch in der modernen Philosophie – man denke an Wittgenstein – eher eine Umkehrung jener Reduktion im Zuge der sog. anthropologischen Wende der Neuzeit sehen. In diesem Sinne werden wir im Schlusskapitel dieses Buches, ausgehend von einschlägigen Überlegungen Edith Steins zum Begriff des Gehorsams sowie eigenen zur »Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Jesu Christi« nach 2 Kor 3,4–4,6, zu einer theologischen Bestimmung des Begriffes Reich Gottes zu kommen suchen. Den Schlüssel zu einer theologischen Bildtheorie der Moderne lieferte freilich weniger die Christologie als vielmehr die Eschatologie, die Konstellation von Moderne und Apokalypse, wie sie Benjamin etwa in seinen Aufzeichnungen zum Passagen-Werk verzeichnet. Weit mehr als in der Bilderwelt des 19. Jahrhunderts, dem Benjamins Interesse in erster Linie gilt, hat jene Konstellation zwischen beiden Kriegen ihre Bestätigung erfahren und ihren Niederschlag vor allem in den Werken der »drei großen K« – Kraus, Kafka und Klee – gefunden, denen wir einen kleinen Exkurs widmen, und zwar nicht, weil ihre Namen in eine Hagiographie gehörten; viel zu widersprüchlich bzw. zu einseitig ihrer Kunst verpflichtet erscheint ihr Leben, als dass von ihm ein besonderes Licht ausginge. Vielmehr fällt das Licht der Offenbarung auf ihr Werk, in dem jedes auf seine Weise die finstersten Abgründe unserer Zeit erhellt; insofern buchstäblich ein Stück Apokalypsis (= Enthüllung, Offenbarung) verkörpert. Man könnte jene Namen durchaus um weitere ergänzen. So hat der frühe Chagall in La caduta dell’angelo (Der Sturz/Fall des Engels) [Öl auf Leinwand, 1923–1933–1947] mit den entsprechenden Variationen aus den Jahren 1933/34 ein Epochenbild geschaffen. Dann wäre Olivier Messiaen (1908–1992) zu nennen, dessen Quartett auf das Ende der Zeit mit dem wunderbaren Schlusssatz 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft entstand; auch spätere Kompositionen wie für Holz- und Blechbläser mit Schlagzeug Et exspecto resurrectionem mortuorum (1964). Auch eine zeitgenössische Komponistin wie Sofia Gubaidulina, auf deren Johannes-Passion wir kurz eingehen. Und nicht zuletzt Galina Ustwolskaja (1919–2006), über Messiaen hinaus die einzige Komponistin, der die Vertonung der Apokalypse gelungen ist, so in der Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« (1972), in der Komposition Nr. 2 »Dies irae« (1972/73), Komposition Nr. 3 »Benedictus, qui venit« (1974/75), Sinfonie Nr. 2 » wahre, ewige Seligkeit!« (1979), Sinfonie Nr. 3 »Jesus Messias, errette uns!« (1983), einer Anrufung, die in Sinfonie Nr. 4 (1985/87) wie zuvor mit knappen Worten von Hermann dem Lahmen (Hermannus contractus, 1013–1054) untermauert wird. Schließlich in Sinfonie Nr. 5 »Amen« die Vertonung des Vaterunsers.
Verständlich, dass sich einer hedonistisch gestimmten (Post-)Moderne der theologische Gehalt einer Musik nicht erschließt, deren unaufhörliches procedendo den Eindruck vermittelt, als ob ein Engelsheer ganze Panzerarmeen niederwalzte. So vermerkt jüngst die Musikwissenschaftlerin Anja Städtler in ihrem Essay Kunst und Ethik. Spiritualität als Grundlage des Schaffens bei Komponistinnen und Komponisten aus dem Osten Europas (Sonderbeilage der NZZ zum Lucerne Festival Sommer 2012 unter dem Thema »Glaube« [9. August 2012], 3) anlässlich der Aussage der Komponistin »Meine Musik ist geistig, aber nicht religiös«, damit bringe sie »zum Ausdruck, dass sie ihre Kunst als individuelle Angelegenheit und individuellen Schöpfungsakt verstanden wissen will, der einen spirituellen Hintergrund hat, aber nicht mit traditionellen, kirchlichen Formen und Ritualen gleichgesetzt werden soll«. Zunächst ist dazu anzumerken, dass jegliche große Musik, auch tiefreligiöse, auf einem »individuellen Schöpfungsakt« beruht, und zwar aus dem rein theologischen Grund, weil jedwedes Charisma einem Einzelnen, also einem Individuum zugeteilt wird, auch wenn das daraus resultierende Wirken der Allgemeinheit dient. [Ein Pianist etwa, der zeitlebens nur für sich spielte, wäre eine ähnlich absurde Figur wie ein Beter, der lediglich für sich betete.] Außerdem lautet das Zitat genau: »Meine Werke sind zwar nicht religiös im liturgischen Sinne, aber vom religiösen Geist erfüllt, und – wie ich es empfinde – sie würden am besten in einem Kirchenraum erklingen, ohne wissenschaftliche Einführungen und Analysen. Im Konzertsaal, also in ›weltlicher‹ Umgebung klingen sie anders …« (Galina Ustwolskaja, Musikverlag Hans Sikorski, Hamburg 2006, 7). Allein ein Blick auf die oben genannten Titel zeugt von dem religiösen, ja hochtheologischen Charakter ihrer Musik. Dass sich bei deren Aufführung Galina Ustwolskaja »wissenschaftliche Einführungen und Analysen« verbeten hat, liegt auf der Hand in Anbetracht der massiven Unkenntnis des Liturgischen unter einigen Musikwissenschaftlern: Nicht nur würde ihr Benedictus aufgrund seiner Überlänge in keinem Sanctus aufgehen; vielmehr verweist Viktor Suslin in seinem Vorwort auf den Komponisten Boris Tischtschenko, auf dessen Vergleich der »›Dichte‹ ihres Stils mit dem gebündelten Licht des Laserstrahls, der in der Lage ist, Metall zu durchdringen« (vgl. ebd. 6). M. a. W., die Gemeinde wäre bei dem anschließenden eucharistischen Hochgebet, dem Höhepunkt der gesamten Liturgie, so verstört, dass so etwas wie eine innere Sammlung gar nicht zu denken wäre; ganz abgesehen davon, dass nach dem neueren Liturgieverständnis der katholischen Kirche die Gemeinde zu einer participatio actuosa, also zu einer aktiven Mitfeier der Liturgie, gehalten ist. Was schließlich die orthodoxe Liturgie betrifft, so beruht deren Gestaltung auf dem Chorgesang, den Ustwolskajas Musik so wenig kennt wie jene die Instrumentalmusik.
Allerdings hat auch die neuere Theologie kaum ein Verhältnis zur Moderne noch zur ureigenen neutestamentlichen Eschatologie gefunden. Bezeichnenderweise blieb in Karl Barths Dogmatik die Eschatologie ungeschrieben. »Sicher sei nur, dass er sie unter den Titel der ›Apokalypsis‹ stellen würde.« Und es klingt wie ein Treppenwitz der Geschichte, wenn Barth anschließend gegenüber seinem letzten Assistenten Eberhard Busch, der nach ihr fragte, bekennt: »Wenn der Hitler nicht dazwischen getreten wäre und ihn so lange in Atem gehalten hätte, dann wäre er vielleicht noch mit der Dogmatik fertig geworden.« (Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 444) Dabei hätte jene Zeit nicht nur reichlich Anschauungsunterricht für seine »Apokalypsis« geboten. Vielmehr entsprach sie der Apokalypsis, wie sie in Klees Bilderwelt und in Kafkas Schriften zum Ausdruck gelangt. Nicht nur dass Barth vor Kafkas Schloss-Fragment kapituliert (vgl. ebd. 512). »Er verstehe diese moderne Kunst einfach nicht« (ebd. 402). Denn »die modernen Gedichte, die er durchweg nicht mag, die modernen Bilder und Musikstücke, das alles sei anscheinend zu verstehen als ein endloses Sichausbreiten und Sichernstnehmen einer individualistischen Subjektivität.« Wäre dem so, so könnte bereits von ihr im Hinblick auf die Genieästhetik der Vormoderne die Rede sein. Doch um bei der modernen Prosa zu verbleiben – allein hier wird die individuelle Erfahrungswelt auf das Kommende hin überschritten. Kaum zufällig setzt Adalbert Stifters letzte Erzählung Aus dem bairischen Walde nach einem langgezogenen Spätsommer (»Der October war so sonnig und warm, wie ich selten einen erlebt hatte«) mit einem fulminanten Wintereinbruch ein, so dass »achtzigjährige Männer sagten, daß sie das nie erlebt hätten«. Und der Erzähler scheint über die Jahrhundertschwelle hinwegzuschauen, wenn er konstatiert: »Man konnte nur das Toben anschauen und hatte keine Ahnung, wohin das führen werde.« (Vgl. Sämtliche Erzählungen Bd. II, 1526 ff.) Wo Stifter endet, da beginnt Kafkas Schloss-Fragment mit den Worten: »Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an.« Nicht etwa Europas Landkarte sollte Kafkas Landvermesser neu vermessen; das war kurz zuvor in Versailles und Trianon geschehen. Sondern »das Reich des Fragwürdigsten«, das Reich des Todes, von dem Heideggers Philosophie Zeugnis ablegt: »die verborgene Geschichte der großen Stille«, die sich bald über Europa herabsenken wird. Von ihr zeugt nicht allein die große Literatur der Moderne, mehr noch die Musik in der »Detonation des Schweigens«, wie es im musikalischen Schaffen Galina Ustwolskajas zum Ausdruck gelangt, und zwar durch einen doppelten Bruch und die daraus resultierende persönliche Isolation bestimmt: einmal durch den Bruch mit ihrem Lehrer Schostakowitsch, dessen Heiratsantrag sie empört zurückwies; dann durch ein mehrjähriges Schweigen infolge des mysteriösen Todes eines befreundeten Komponisten Anfang der sechziger Jahre. Dass sie danach nicht einfach ihre frühere, durchaus eigenständige Kompositionsweise fortsetzte oder gar aus einer inneren Trauer heraus der schwermütigen Musik des von ihr verehrten Schubert nacheiferte, liegt auf der Hand: Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahre 1968 schien die Sowjetherrschaft nach innen wie außen auf unabsehbare Zeit so gefestigt und die politische Eiszeit im sog. Kalten Krieg auf ihren Höhepunkt gelangt, dass es letzthin nur die Wahl gab zwischen einer resignierenden Unterwerfung bzw. einem melancholischen Rückzug ins eigene Innere oder aber einem Voran, ebenjenem Ton eines unablässigen procedendo, den ihre Kompositionen im Geiste der christlichen Apokalyptik in den folgenden Jahren anschlagen werden, um den zerstörerischen Mächten ihrer Zeit den Untergang, den Dies Irae, zu verkünden. Dass es sich hierbei nicht um Kirchenmusik im herkömmlichen Sinne handelt, liegt auf der Hand: Keine Glocken können so laut läuten, kein Chor so laut singen und keine Orgelregister gezogen werden, wie jene Cluster auf dem Klavier ertönen, wie jene Pauken- und Posaunenklänge oder Sirenenklänge der Streicher, die das Nahen des Gerichts bzw. das Benedictus dessen, der da kommt, ankündigen. Denn anders als ein fader christlicher Humanismus, der seinen Frieden mit der Welt geschlossen hat, in unseren Tagen glaubt, hat die Apokalypse nur zu fürchten, wer das Gericht zu fürchten hat; nicht umsonst heißt es schon bei dem Propheten Jesaja: »Denn dein Gericht ist ein Licht für die Welt, / die Bewohner der Erde lernen deine Gerechtigkeit kennen.« (Jes 26,9b) Und wie eine Antwort auf die Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« kurz darauf: »Herr, du wirst uns Frieden schenken; denn alles, was wir bisher erreichten, hast du für uns getan.« (Jes 26,12) Daher kennt Ustwolskajas Musik Phasen der Stille wie kaum eine andere; ja alle Kompositionen enden nicht in einem Klangchaos oder münden einer klassischen Sinfonie gleich in ein dramatisches Finale, sondern in ein Schweigen, das der Erwartung des Kommenden Raum gibt; der Erwartung Dessen, der das Werk der Erlösung vollendet.
Deshalb begrüßt auch der heilige Johannes in seiner brieflichen Einleitung zur Apokalypse die sieben Gemeinden in der Provinz Asien: »Gnade sei mit euch und Friede von Ihm, der ist und der war und der kommt« (Offb 1,4), weil es für Christen keinen anderen Frieden geben kann als von dem kommenden Gott her, mögen sie noch so sehr dazu neigen, mit ihrer Welt, mit ihrer Zeit Frieden zu schließen und das Kommen ihres Gottes in dieser Zeit zu übersehen. Denn mochte es für eine Galina Ustwolskaja noch so aussichtslos erscheinen, in jenen Jahren an der Arbeit an ihren apokalyptisch akzentuierten Kompositionen auf einen politischen oder gesellschaftlichen Wandel zu hoffen; ja trennte einen Karl Kraus, als er 1908 Apokalypse (Offener Brief an das Publikum) schrieb, nur wenige Jahre von dem Ersten Weltkrieg – eines sollte sich nicht allein der Christ vor Augen führen, wenn er auf die letzten hundert Jahre zurückblickt, in denen mehr Leid angehäuft worden ist als je zuvor in der Geschichte: Nahezu alle Weltmächte sind seitdem verschwunden oder gewissermaßen auf ihr Normalmaß zurückgestutzt worden: zunächst Preußen und Österreich-Ungarn, später das Britische Empire und die Kolonialmächte, das Italien Mussolinis und das Tausendjährige Reich Hitlers, zuletzt die Sowjetunion; und die noch vor 20 Jahren als »unilaterale« Weltmacht dastehenden Vereinigten Staaten von Amerika versinken im Schuldensumpf, aus dem auch das neue Europa kaum hinausfindet; schließlich dürfte kaum jemand auf die aufstrebende Wirtschaftsmacht China Wetten abschließen, die einmal dort stehen könnte, wo sich das in den achtziger Jahren aufstrebende Japan heute befindet. – Wie sich aber nach dem alttestamentlichen Buch Daniel in des Propheten Auslegung von Nebukadnezzars Traum von den Weltreichen ein kleiner Stein von einem Abhang löst und das große, im Traum geschaute Standbild, den Inbegriff aller Weltreiche, vernichtet, so entfaltet das Reich Gottes, so unscheinbar es wirken mag, seine Kraft durch die Geschichte: »Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird all jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen. Du hast ja gesehen, dass ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Eisen, Bronze und Ton, Silber und Gold zermalmte. Der große Gott hat den König einst wissen lassen, was dereinst geschehen wird. Der Traum ist sicher und die Deutung ist zuverlässig.« (Dan 2,44 f.) Bis in unsere Zeit hat sie ihre Bestätigung erfahren, mögen sich jene Reiche auch heutzutage mit Stahl vergleichen oder ihr Gewicht mit Dollarnoten oder Derivaten aufzuwiegen suchen, die am Ende nicht einmal das Papier wert sind.
In der Verkennung des Kommens Gottes bzw. des Reiches Gottes liegt die eigentliche Schwäche einer Christenheit, die sich, um zu überdauern, in der Vergangenheit der Protektion historischer Mächte unterstellte, in neuerer Zeit gar Ideologien und Philosophien andiente, selbst wenn deren Repräsentanten – wie etwa Hegel – die Rede vom Reich Gottes lediglich mit Spott bedachten, oder – wie Heidegger – seinen Platz »das Reich des Fragwürdigsten« einnehmen ließen. Es ehrt die Christen der ersten Jahrhunderte, dem widerstanden zu haben. So vermerkt Laktanz, ein christlicher Autor des 4. Jahrhunderts, den noch als Heiden Kaiser Diokletian, der letzte große Christenverfolger, als Lehrer der lateinischen Beredsamkeit in seine neue Hauptstadt Nikomedien berief, in seinem Abriss der göttlichen Unterweisungen, die Christen sollten sich mit aller Kraft und Geduld bemühen, Gott die Treue zu halten. »Der Tod darf uns nicht schrecken noch der Schmerz uns beugen; wir müssen die Kraft des Geistes und die Standhaftigkeit unerschütterlich bewahren.« Dieser Widerstand ist es, der nicht aus eigener Kraft erfolgt als vielmehr aus der »Kraft des Geistes«, der dessen Wirken in der Geschichte Rechnung trägt, mögen auch die Zeiten dagegensprechen, die Mächte des Untergangs anscheinend triumphieren. Resistenza (Résistance, Widerstand) lautet bezeichnenderweise der Titel gleichsam eines Epochengemäldes Chagalls aus den Jahren 1937–1948 (Öl auf Leinwand, Nizza, Musée national), das eine Welt in Auflösung zeigt – doch mittendrin der gekreuzigte Christus als einzigen Fixpunkt. Keine andere Ordnung ist einer Zeit mehr gegeben, die ihre raison d’être in der Auflösung aller Ordnung erblickt, in Erhebung und Fall – und nicht in Widerstand und Ergebung, wie das theologische Vermächtnis Dietrich Bonhoeffers überschrieben ist. Ganz in diesem Geiste der Widerstand einer Ustwolskaja, der sich nicht auf sich selbst beruft, sondern in Sinfonie Nr. 3 im Ausruf: »Jesus Messias, errette uns!« gründet.