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An diesem Nachmittag verteilten wir »Die Aktion« in der Erfurter Straße, die Luft war kalt und vom nassen Asphalt kam ein Geruch nach Regen, der sich mit dem feuchter Kleider vermischte. Sogar die Kinder hatten keine Lust mehr, draußen zu spielen. Ein gut gekleideter Mann mit Hut und Stock, der aus Richtung der Bürgerschule kam, näherte sich Susanne und ließ sich einige Exemplare geben. Dann begann er sie mit großer Geste zu zerreißen. Susanne wollte ihn gerade fragen, warum er das tue, da zischte er sie hasserfüllt an: Du bist eine von diesen roten Nutten von der Schule, was? Jetzt erlauben sie Euch schon, auf der Straße zu rauchen und die Leute zu belästigen. Ihr Schlampen, Ihr braucht die Peitsche! Er holte Luft und mit Schaum vor dem Mund schrie er: Aber mit diesem Defätismus ist jetzt Schluss! Es geht wieder aufwärts. Deutschland, erwache!
Hans, der am nächsten war, kam heran, um ihn zu beruhigen. Aber der regte sich nur noch mehr auf, drohte ihm mit dem Stock und nannte ihn kommunistischen Abschaum. So was wie er käme eben heraus aus so einer Scheißschule des Kulturbolschewismus voller Juden. Das alles geschah binnen weniger Minuten. Hans machte nun, wie er es beim Militär gelernt hatte, eine blitzschnelle Körperdrehung und traf den Mann hart mit dem Absatz an der Kniescheibe und der ging zu Boden. Hans knöpfte sich die Hosen auf und pisste ihm auf die Brust. Dann richtete er sich wieder her und stieß zu uns.
Warum hast Du das gemacht? Das wird böse Folgen haben. Weil dieses Schwein einen Stockdegen hatte, mit dem er auf mich losgehen wollte. Aber jetzt hauen wir schnell ab. Und im Übrigen: Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist unsere Furcht. Die Vision einer friedlichen Welt der Moderne ist die extravaganteste aller Hoffnungen – für diese Lektion haben wir einen hohen Preis bezahlt. Und wir, Hannah, wir verteidigen existenzielle Werte gegen diese Spießer, die nie gelebt haben. Wir können nicht immer so tun, als sei das ausschließlich mit noblen Methoden zu schaffen. Später nahmen wir die Diskussion wieder auf. Ewa und ich waren uns einig: Wenn man das Wesen des Klassenkampfes herausarbeitet, dann kommt man darauf, dass er dem Überlebenstrieb widerspricht, ja, ihn verachtet. Doch auf ihn zu verzichten, hieße, sich feige zu unterwerfen und sich in ewige Gefangenschaft zu begeben. Auf den Zwiebelkuchen sind wir in Baden gekommen, wo wir uns aufhielten, um einen kulturellen Zirkel, der sich auf die Ideen Moeller van den Brucks bezog, zu »schließen«. Er erinnert sehr an den Speckkuchen, den man hier in Thüringen gern als Brotzeit isst, zu einem Glas Apfelwein. Uns gefällt er als Vorspeise.
Auf einem Brett einen Mürbeteig (pate à foncer) aus 500 g gesiebtem Mehl, 200 g weicher Butter, einem Ei, einem Eigelb, einem halben Glas Milch, etwas Zucker und 1 TL Salz rühren, eventuell etwas heißes Wasser zufügen. Damit sich die Butter gleichmäßig verteilen kann, die fertige Teigkugel in sechs Stücke, die einzeln eingemehlt werden, zerteilen, bevor man sie wieder zusammenfügt. Den Teig dünn und rund ausrollen und damit eine gebutterte Kuchenform auslegen. Währenddessen zehn große, weiße Zwiebeln in Ringe schneiden, mit 50 g Schweineschmalz anbraten und auf dem Teig ausbreiten. Mit einer Mischung aus drei Eiern, zwei Gläsern frischem Rahm, 100 g mageren, geräucherten Speckwürfeln, 50 g geriebenem Greyerzer, Salz und Pfeffer übergießen. Mindestens 40 min im heißen Ofen backen und sofort servieren. Um ihn knusprig zu machen, könnt Ihr den Teig alleine 15 min vorbacken. Dazu wird er mit einer Gabel mehrfach durchstochen und mit Kichererbsen beschwert. Diese »Blindfüllung« wird nach dem Backen durch die eigentliche Füllung ersetzt.
Schneehuhnterrine mit Portwein
Es sind die imperialen Illusionen gewesen, die den Krieg provoziert haben und verloren gehen ließen. Aber in Berlin ist man aus dem 918 Jahre währenden Schlaf noch nicht erwacht. Über den Prachtstraßen der europäischen Kapitale spannen sich Triumphbögen aus weißen und roten Blumen, jeder Gruppe von Soldaten geht eine lärmende Militärkapelle voran. Wir hier in Deutschland müssen jetzt lernen, mit unserer bitteren moralisch-politischen Niederlage weiterzuleben, weiterzumachen unter den blühenden Rosskastanien, dem Gestank der Korruption einer operettenhaften Bourgeoisie, der aufreizenden Arroganz einer Geschichte, die immer diejenigen verachtet hat, die sie doch ausbeutet und die bislang kein Feuer hat ausmerzen können. Wir müssen weitermachen trotz der Sehnsucht nach dem sozialen Zusammenhalt, der wie Schnee in der Sonne geschmolzen ist, nach königlichen Hoheiten, die ihre Schleier lüften für den letzten übrig gebliebenen Gardeoffizier. Wir machen weiter trotz der Kleinbürger, die in ihren winzigen Wohnungen die abgetretenen Teppiche einrollen, um den Shimmy üben zu können. Machen weiter trotz der Polizeistreifen, der lähmenden Ruhe, mit der wir in den alten, verstaubten und düsteren Cafés die Nacht erwarten, trotz der Idioten, die auf mondän und five o’clock tea machen und von amerikanischen Autos träumen. Wir machen weiter, obwohl sich die Flammen einer europäischen Revolution als Strohfeuer erwiesen haben und unsere frierenden Herzen nicht mehr wärmen können. Wir müssen weiterleben mit einem faulen Reformismus, mit den Irrtümern der Nationalisten, mit den Volkstribunen, mit denen, die uns ungefragt ihre Brüder nennen und mit den delirierenden Charismatikern. Wir müssen, wir müssen …
Aber dann waren alle Flaschen leer getrunken und von unseren Zimmern aus konnten wir sehen, dass auch in der Schule die letzten Lichter gelöscht worden waren. Die Entscheidung war gefallen, unser Lokal hatte einen Namen: Unendliche Nacht! Leonhard hat das ausgegraben, er ist unser Musikspezialist, es stammt aus Igor Stravinskys »Sacre du printemps«, und alle waren sofort begeistert, gerade Wilhelm, den dieses Stück an die Lichter und Schatten seiner Stadt St. Petersburg erinnert. Die Fenster stehen offen, damit der Zigarrenqualm entweichen kann, und plötzlich dringt eine Stimme herein, die die Bajadere von Kálmán singt: »Früher einmal machten es die Wilden / Jetzt gehört’s dazu, um sich zu bilden …« Diese Schneehühner, sagt Martin, sind die Brotkrumen, die wir vom Tisch des Feindes gestohlen haben. Schlichter gesagt sind sie die Frucht seiner Geschäftchen mit ein paar Förstern, die mit ihrem regulären Einkommen nicht zufrieden sind.
Acht Pastetenformen aus Aluminium rechtzeitig kühl stellen. Sieben Blätter Gelatine in Wasser einlegen (meine Oma hat sie mit Kalbshaxe, Knochen und Speckschwarten noch selbst gemacht). Wenn die Blätter sich aufgelöst haben, mit 1 l Hühnerbrühe aufgießen. Wenn die Masse geronnen ist, die Formen füllen und wieder kalt stellen. Die ausgenommenen, sauberen Schneehühner in einen Topf mit kochendem Salzwasser und Kräuterbouquet geben und 30 min köcheln lassen. Erkalten lassen und Fleisch auslösen. Zusammen mit drei Eigelb, einem Gläschen roten Portwein und dem Rest der Gelatine mit Brühe, einem Glas frischem Schlagobers, 1 TL Muskat, Salz und Pfeffer durch den Fleischwolf geben. Mit der Masse die Formen füllen, ein paar min im Wasserbad kochen und mindestens vier Stunden kalt stellen. Vor dem Servieren die Terrine kurz über der Flamme erwärmen, auf den Teller stülpen, mit gerösteten Pinienkernen und einer Kartoffelkrokette mit Kastanienmehl garnieren.
Königsberger Klopse
Was ist passiert? Hannah nahm ihn beim Arm, um ihn ins Licht zu ziehen. Wilhelm zuckte vor Schmerz. Sie legte das Buch aus der Hand, das am Morgen mit der Post gekommen war. Ihr Vater hatte es geschickt, »Psychologische Typen«, ein Essay von Carl Gustav Jung, gerade in Zürich bei Rascher & Co. erschienen. Was ist passiert, fragte sie noch einmal. Dann zog sie seinen Ärmel hoch und sah den blutgetränkten Verband. Messer oder Schuss? Schuss. Ist die Kugel noch drin? Er schüttelte den Kopf. Hat das schon ein Arzt gesehen? War nicht nötig, die Wunde ist sauber. Und die Kopfwunde – war das auch ein Schuss? Ja klar, Gewehr. Wilhelm lächelte. Du bist nicht komisch, sagte Hannah. Setz dich hin, ich mache den Verband neu.
Die Freunde waren in Chemnitz bei einer Kundgebung gewesen und dort von Freikorps-Leuten angegriffen worden, einige in Offiziersuniform. Nach der ersten Salve hatte es Verletzte gegeben, Panik war ausgebrochen. Die Organisatoren hatten Mühe gehabt, die Ordnung wiederherzustellen und zu reagieren. Am Ende waren zwei Demonstranten tot am Platz geblieben, zahlreiche hatten Verletzungen davongetragen. Unbewaffnet können wir nicht weitermachen, Hannah. Wilhelm war bleich, er hatte die Lippen aufeinander gepresst, die Augen waren rot gerändert vor Müdigkeit. Mühsam versuchte er, sich die Jacke wieder anzuziehen.
Um Kommunisten zu sein, müssen wir die Idee in ihrer ursprünglichen subversiven Kraft lebendig werden lassen – aber um Revolutionäre zu sein, müssen wir so handeln, dass diese Idee wahr wird. Dazu verfügen wir über kein anderes Instrument als die Praxis. Die, sagt Sergeji Jessenin, muss den Regenbogen im Himmel wie eine Armbrust spannen. Scheiße, Hannah: Wir müssen uns besser bewaffnen und zwar sofort!
Kurt hat uns erzählt, dass diese Klopse aus Ostpreußen kommen. Seine Großmutter machte sie noch mit Wildschwein, das die Männer von der Jagd mitbrachten.
300 g Rind, 400 g Schwein und einen entgräteten Hering durch den Fleischwolf geben. Eine fein gewiegte Zwiebel, ein halbes Glas Semmelbrösel, 2 EL frischen Rahm mit einem Spritzer Zitrone, etwas frischen Thymian, zwei Eier, Salz und frisch gemahlenen schwarzen Pfeffer dazugeben. Das Ganze vermengen und zugedeckt beiseite stellen. Nun eine Mehlschwitze zubereiten: 50 g Butter in einer Kasserolle auflösen, kurz vom Feuer nehmen, dann mit 50 g Mehl verrühren. (Während ich das machte, erklärte mir Hans, dass die Stärke des Mehls sich auf diese Weise in Dextrin verwandelt, welches die Eigenschaft besitzt, Flüssigkeiten, denen es zugesetzt wird, einzudicken. Gilt das für alle Arten von Küchen? Er lächelte nur.) Bei niedriger Flamme mit dem Holzkochlöffel rühren, bis die Masse sich hellbraun färbt. 1/2 l Brühe, ein Lorbeerblatt, ein paar Pfefferkörner, eine Handvoll Kapern und einen Strunk Sellerie dazugeben. Aufkochen und bei niedriger Temperatur um ein Drittel reduzieren. Eventuell nachsalzen. Dann mit nassen Händen eigroße Klopse formen, in die Sauce geben und bei geschlossenem Deckel gut 20 min auf kleiner Flamme ziehen lassen. Ab und an leicht am Topf ruckeln, damit die Klopse nicht ankleben. Die fertigen Klopse auf eine vorgewärmte Platte legen, den Fond durch ein Sieb geben und mit ein paar Löffeln Rahm, einem Eigelb und der geriebenen Schale einer halben Zitrone abschmecken, gut durchrühren, eventuell nachsalzen und auf die Klopse geben. Kurz vor dem Servieren mit frischer Petersilie bestreuen. Dazu Pellkartoffeln und Essiggurken reichen. (Nach der Schicht habe ich den Brief wieder zur Hand genommen, der dem Buch beilag. Mein Vater schrieb: »Lies das Buch aufmerksam. Es ist ein weiteres Exempel für die Kultur des Idealismus, die immer allzu geneigt ist, einen gefährlichen Dualismus zu propagieren. Es fängt damit an, dass man Introvertiertes und Extrovertiertes, Denken und Fühlen, Intuition und Realitätswahrnehmung als konträr begreift; und das führt dann zur Antinomie von Materie und Geist und endet mit dem Primat des Geistes über das nackte Leben. Der historische Materialismus hat dem einen doppelten Riegel vorgeschoben: Den materialistischen Monismus und den dialektischen Zugriff auf alle Lebensbereiche. Wenn ich mich recht an einen Gedanken meines alten Professors für Physiologie erinnere, dann ist die Wissenschaft von den psychischen Erkrankungen nur der letztmögliche und wahrscheinlich gefährliche Versuch, den Menschen als abstraktes biosoziales Wesen göttlicher Natur zu begreifen. Dein Bär.« Als Unterschrift hatte er den Namen benutzt, den ich und meine Schwestern ihm gaben, nachdem er sich einen Bart hatte wachsen lassen. Und mit dieser melancholischen Erinnerung schlief ich ein.)
Heringswürfel
Im Namen der Lebensreform hat Itten im Vorkurs eine Reihe von morgendlichen Gymnastikübungen eingeführt: Arme, Beine, Rumpf werden bewegt, gleichzeitig ist es fortan Schülern und Lehren erlaubt, festliche Themenabende zu veranstalten. Das ist alles Strategie, sagt Alex. Wir sollen uns dadurch mit dem Menü in der Mensa abfinden, das immer mehr in Richtung eines seltsamen Mystizismus vegetarisch-supergesunder Natur abgleitet. Deswegen sind wir zum ersten Fest, das der Farbe gewidmet war, ganz in schwarz erschienen, mal abgesehen von zwei roten Sternen am Revers.
Wassily, wie wir Wilhelm unter uns nennen, hat in einer alten Prawda einen Schnittmuster-Bogen gefunden, entworfen von Studenten der Moskauer Kunstgewerbeschule, mit dem man ganz einfach und ohne viel Stoff zu verschwenden, einen Anzug nähen kann. Es gibt vier verschiedene, sehr bequeme Schnitte, und wir haben von jedem drei Stück angefertigt. Während wir nähten, bat ich Greta, mir von ihrer Moskauer Studienzeit zu erzählen. Wie immer reagierte sie ausweichend, wegen ihrer Saudade, behauptet sie. Diesmal aber verriet sie mir doch etwas Neues und Kurioses. Ihr Vater hatte mit Otto Weininger zusammengearbeitet, bis zu dessen Tod. Eines Tages suchte er ihn auf, um ihm Bücher zurückzubringen, die er sich geliehen hatte und um ihm bei der Korrektur der Fahnen von »Geschlecht und Charakter« zu helfen. Als er in Weiningers Wohnung ankam, erfuhr er, dass der sich in der Nacht zuvor umgebracht hatte.
Meine Eltern waren damals ganz fasziniert von dem, was man die »sexuelle Frage« nannte. Sie glaubten, die sexuelle Energie müsse dazu erzogen werden, sich in all ihren Bestandteilen ausdrücken zu können. Mein Vater teilte da aber längst nicht mehr Weiningers Furor, was die angeblich grundsätzliche Andersartigkeit der Frau anging, die sich in der Realität eben als kulturelle, soziale und politische Minderwertigkeit ausdrücken sollte. Das lag vor allem an meiner Mutter, denke ich. Sie konnte die Idee nicht akzeptieren, dass die Frau unerbittlich ihrer Sexualität unterworfen sei – eine These, die Weininger dann dazu führte, die Prostituierte als ideale Gefährtin des Condottiere und Politikers, die Mutter aber zu der des Künstlers und Poeten zu erklären. So führte sie der Weg in die Liga für die freie Liebe und ich wuchs in aller Freiheit auf. An was erinnerst Du Dich aus dieser Zeit? Greta schüttelte lächelnd den Kopf: Die Dreistigkeit, mit der ich Tango tanzte, die Angewohnheit, keine Unterwäsche zu tragen und mit den Männern zu spielen. Du weißt, wie sie reagieren, wenn man ihnen sagt: Ja, ja ich geh mit dir ins Bett, aber bitte keine Versprechungen oder Intimitäten. Ich musste lachen und sagte nichts mehr – auch ich hatte eine Menge Tango getanzt … Dies ist Gretas Rezept. Sie hat es von einer Freundin bei einem Hochzeitsessen bekommen. Wahrscheinlich kommt es aus Finnland.
Man braucht ganz frische Heringe, einen pro Gedeck. Sorgfältig putzen, Kopf und Schwanz abschneiden, beiseite stellen. Den Rest waschen und filetieren, in Würfel schneiden. In eine Schüssel die gleiche Menge in Würfel geschnittene gekochte Kartoffeln und ein paar geschälte, entkernte Äpfel füllen. Ein halbes Glas Olivenöl, 1 EL Essig, den Saft einer Zitrone, Salz und Pfeffer dazugeben. Durchmischen und mit einer fein gehackten Mischung aus Petersilie, Kerbel, wildem Fenchel und Pinienkernen würzen. Köpfe und Schwänze etwa 1 min in Wasser kochen. Auf einer Platte die Heringe wieder zusammensetzen: Kopf, Würfel, Schwanz. Mit Minze und in Julienne geschnittenen Zitronen servieren. Kleinbürger ruinieren die Sache, sagte Greta mit einem abschätzigen Grinsen, indem sie die armen Fische in Mayonnaise und Worcestersauce ertränken. Hans hingegen wusste, wie die in Odessa stationierten Matrosen der russischen Marine sie zubereiten: Sie legen die geputzten Heringe für ein paar Stunden in Milch ein, filetieren sie dann, tauchen sie in Wodka und zünden sie auf den Schutzschilden ihrer schweren Maschinengewehre an. Sie essen dazu Schwarzbrot und rohe Zwiebeln.
Gefüllte Zwiebeln
Die jungen Frauen in Weimar haben begonnen, ein Bändchen am Knöchel zu tragen. Die Mode kommt aus Paris, man zeigt, dass man eine Liaison hat, aber nicht verheiratet ist. Durch das Glasfenster der Werkstatt sehen wir vor Goethes Gartenhaus die ersten Anzeichen des Frühlings. Weiter entfernt wirbt eine Wirtschaft mit roter Schrift auf schwarzem Grund: »Direkt vom Fass«. Die Jungs sagen, es sei das beste Bier der Stadt. Ich habe mir einen Bubikopf schneiden lassen, Ewa und ich haben uns Sachen aus Organdy gemacht. Ihr steht all das besonders gut, weil es ihre slawische Figur betont.
Des Weibes Inhalt ist der Mann, hat Hans sich lustig gemacht, als er mich sah. Aber eigentlich meint er es gar nicht ironisch – ihm gefällt meine neue Frisur so wenig wie meine aktuelle Lektüre: Lou Andreas-Salomé, Rosa Mayreder und Laura Marholm, die Frau des schwedischen Dichters Ola Hansson. Wir haben auch über die Misogynie an der Schule hier gestritten. Zwar akzeptiert man Studentinnen, der Lehrkörper bleibt aber renitent gegen eine weibliche Kollegin. Offensichtlich ist alles viel komplizierter als gedacht. Dahinter stecken wohl einerseits eine Renaissance der »Auslebetheorie«, wie sie in Wien sagen, und andererseits bestimmte Thesen der Kritiker der modernen décadence – in Wirklichkeit Reste eines abgestandenen Konservatismus, analysiert Wilhelm: Diese Leute vertreten die haarsträubende These, es gebe einen Zusammenhang zwischen Homosexualität, Masturbation und künstlerischer Sensibilität, und diese Perversion finde eben im Bauhaus ihren deutlichsten Ausdruck.
Wie auch immer – heute hat Hans mich verärgert mit einem Zitat von Lou Andreas-Salomé, für die die Frau immer noch Hort der Mystik ist, auch der sexuellen. Ich habe mir den Satz gemerkt und ihn mit Ewa diskutiert. Sinngemäß: Auf eine seltsame und sublime Art bewahrheitet sich das, was die schamlos-sinnliche Brutalität von einer zufällig aufgegabelten Frau sagt: Eine ist wie die andere.
Man braucht große, süße Zwiebeln – eine Weimarer Spezialität, die man in den Volksgärten findet, da wo die Überreste der Militärbaracken stehen. Die Zwiebeln schälen und mit der Messerspitze rund um die Wurzel einschneiden. Für 5 min in mit Salzwasser verlängertes kochendes Bier geben. Die Zwiebeln dem Einschnitt folgend aushöhlen und in eine gut gebutterte Form legen. Das Innere fein hacken und mit einer Nuss Butter für vier Zwiebeln bei niedriger Flamme anschwitzen. Sobald sie Farbe angenommen haben, ein paar gekochte und mit der Gabel zerdrückte Kartoffeln, eine Handvoll in Scheiben geschnittene Champignons, einen Hauch Muskat, Salz und weißen Pfeffer beigeben. Das Ganze bei niedriger Flamme ein paar min vermischen. Vom Feuer nehmen und mit Brühe zu schöner Konsistenz bringen. Die Masse in die Zwiebeln füllen, mit Semmelbröseln und etwas Paprika bestreuen; auf jede Zwiebel eine halbe Nuss Butter geben und bei niedriger Hitze im Ofen backen, bis sich eine goldbraune Kruste gebildet hat. Dabei die Zwiebeln immer wieder mit dem Fond und Brühe begießen. Man kann statt Kartoffeln auch Fleischreste nehmen. Sofort servieren.
Austern auf Endivien
Ein wunderschönes Exemplar, sagte der Baron, und sah uns ergriffen an. Er stammt in gerader Linie von der Urmutter dieser Rasse ab. Seit dem 15. Jahrhundert kann man sie auf Bildern mit dem Weimarer Adel sehen: 65 cm bis zum Widerrist, Fell dicht und silbergrau wie der Mond über Thüringen. Das »wunderschöne Exemplar« sah aus seinem goldenen Rahmen auf uns herab, die Augen wie aus Glas, der Körper in höchster Muskelspannung, einen Vorderlauf angehoben. Dieses Bild stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, fuhr unser Gastgeber fort, mein Großvater ließ es anfertigen, um den Führer seiner Jagdmeute zu ehren, der sowohl als Apportierals auch als Spürhund Bedeutendes leistete. Wieder pathetisches Schweigen. Mein Vater war 1897 einer der Gründer des »Vereins zur Reinzucht des silbergrauen Weimaraner-Vorstehhundes« gewesen. Wir müssen die Weimaraner bewahren.
Er wurde etwas lauter: Aber gewiss retten wir in jedem Fall die Reinheit dieser Rasse, in Erwartung die Deutschen vor dem Bolschewismus zu bewahren! Hans’ Hände ballten sich zu Fäusten, Martin war auf einen Schlag bleich geworden, Peter sah den Baron hart an und murmelte, man sei nicht hier, um Porträts adliger Hunde zu bewundern. Greta rettete die Situation mit Bravour. Sie hakte sich bei Baron W. von H. ein und schlug vor, nun nach unten zu gehen, um sich die Kühlkammern anzusehen.
Wir befanden uns im Salon des »Weimarer Jagdzirkels«, um den Empfang nach einem Konzert zu besprechen. Sonst ließ man das immer vom »Russischen Hof« organisieren, aber diesmal hatten wir den Zuschlag bekommen – eine Gelegenheit, auf die wir lange gewartet hatten. Die Jungs betrachteten mit Begierde die Waffenschränke, in denen Kriegs- und Jagdgewehre aufgereiht waren, manche sogar mit Zielfernrohr. Die Waffen holt man sich dort, wo unsere Feinde sie aufbewahren, hatte Hans verkündet, so kommt man auch einfach an Munitionsnachschub. Das Waffendepot in der Kaserne der Wilhelmsallee war leider schon geplündert worden, nichts davon war noch greifbar, und so waren wir auf den Jagdzirkel gekommen.
Darüber dachte ich nach, als endlich die Lichter des Salons verlöschten. Der Rest des Gebäudes lag schon im Dunkeln. Seit fast zwei Stunden lagen wir versteckt im Gebüsch. Und obwohl wir seit mehr als einem Monat auf diesen Moment gewartet hatten, waren wir jetzt nur noch ungeduldiger, erregter, ängstlicher. Die Nacht war kalt und böig. Ich hatte mich an einen Baum angelehnt, meine Jacke hatte mich vor der feuchten und pieksenden Rinde nicht schützen können. Auf ein Zeichen von Martin zogen wir unsere schwarzen Kapuzen tief ins Gesicht, schwarz war auch der Rest unserer Kleidung. Fluchtwege und Alarmanlage hatten wir genau ausgekundschaftet. Wir schlichen zu einem Fenster. Hans öffnete es mit Glasschneider und Saugnapf, zündete eine Kerze an und stieg lautlos ein. Der Rest war Konsequenz, wie Wilhelm immer sagt.
Dieses Abenteuer hatte noch ein Nachspiel: Ein Wachmann des Zirkels hatte uns gesehen. Am nächsten Morgen gingen wir zu ihm. Er verstand sofort, was wir getan und warum wir es getan hatten. Das haben sie sich verdient, sagte er. Die verbreiten nichts als Elend. Ihr dagegen kämpft für eine Sache, die viele für die richtige halten. Jedenfalls – und er sah uns allen in die Augen – hoffe ich das.
Man rechnet mit fünf Austern pro Gedeck. Öffnen, Fleisch und Flüssigkeit entnehmen und in eine tiefe Pfanne geben, zusammen mit einer fein geschnittenen Schalotte und zwei Kelchen Champagner erhitzen, das Muschelfleisch warmstellen. In meinem Kochbuch steht es so, wir nehmen heute aber einen aromatischen Weißwein, zum Beispiel einen Traminer aus dem Rheingau. Den Fond jedenfalls um ein Drittel reduzieren, ein Glas frischen Rahm und 50 g cremig geschlagene Butter beigeben. Mit Zitronensaft und frischen, fein gewiegten Zwiebeln aromatisieren. Die Sauce darf nicht kochen! Nun die Austern jeweils auf ein gewaschenes und abgetrocknetes Endivienblatt setzen, fünf davon sternenförmig auf jedem Teller anrichten und mit der warmen Sauce benetzen. Das ist eine Lieblingsvorspeise von Gropius, der in uns ein Beispiel sieht für den Künstler-Handwerker. Martin hingegen hasst das Gericht und kann nicht umhin, beim Servieren vor sich hin zu murmeln: Austern, ruft ihr, und Fasanen her! Fresst nur: Für Euch, Bürger, gibts kein Morgen mehr.
Entenbrust auf Wirsing
Überall Revolutionen, nirgends die Revolution. Dieses Thema haben wir für das Koordinierungstreffen der Thüringer Räte vorgeschlagen. Wilhelm und Hans sind in München gewesen, wo sie nach vielen Telefonaten und geplatzten Verabredungen Karl Korsch getroffen haben. Er hat sich dann sehr lange mit ihnen unterhalten und ihnen einen langen Aufsatz überlassen, der in Fortsetzungen bald in der »Neuen Zeitung« erscheinen wird. Er heißt »Wandlungen des Problems der politischen Arbeiterräte in Deutschland«. Er wollte alles über die Schule wissen, sagt Hans, sogar den Stundenplan und die Preise in der Mensa. Über Behrens hat er auch unseren »Chef« kennengelernt und war tief beeindruckt.
Architektur interessiert ihn nicht, aber die Idee, dass sie die Materie auf eine höhere Stufe führen und das Bedürfnis nach Form befriedigen könne – und darum geht es im Grunde bei der Ästhetik – fasziniert ihn. Er hat irgendwo gelesen, dass Gropius die Architektur als Ausdruck der Konstruktivität des Bewusstseins definiert. Das erinnert ihn an etwas, das Lenin vor vielen Jahren geschrieben hat. Er wünscht sich sehr eine Zusammenarbeit aller Aktivisten rund um die VKPD und besteht darauf, dass der Friede nicht als Gegenteil des Krieges gedeutet werden dürfe, gerade jetzt, mit tausenden von bewaffneten Veteranen und Millionen zu beweinender Toten. Für ihn ist der Krieg die Essenz der Verbindung zwischen Staat und Geschichte – unvermeidbar, solange es Staaten, Hierarchien und Klassen gibt. Der Friede hingegen gehört zur Lebensform der Gemeinschaft, ja, er ist ihre praktische soziale Hervorbringung. Der Krieg ist ein Ausdruck der bürgerlichen Epoche, der Friede wird der einer künftigen Gesellschaft sein. Der eine ist der Ausnahmezustand für den anderen. Dann lächelte er und verwies auf die dritte Marx’sche These über Feuerbach.