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Und bei einem Freund? Ich versuchte mir vorzustellen, was ich getan hätte, wäre ein Freund auf diesem Weg hergekommen. Ich wäre sitzen geblieben, gewiss, wäre überrascht gewesen, ziemlich überrascht sogar, hätte gewartet und ihm bestenfalls etwas zugerufen. Mehr nicht. Und bei einem Fremden? Ich wäre aufgestanden und hätte ihm von der Schiebetür aus zugerufen, vorsichtig, reserviert, vielleicht barsch oder bestimmt und Respekt heischend. Zur Flucht getrieben hätte mich einzig und allein ein maskierter Irrer.
Dieses verschwenderische Licht im Garten ging mir auf die Nerven, ich schaltete es aus, liess den Garten wie das Haus im Dunkeln, knipste meine Taschenlampe an und begab mich in den oberen Stock.
Auch hier standen die Türen offen, die Fenster und die Rollläden waren indes geschlossen, und der Spannteppich war sauber. Ich zog die Schuhe aus, fingerte mit dem Strahl der Taschenlampe durch jede Tür, in jeden Raum – da oben war kaum jemand gewesen – und überlegte, wo der entscheidende Hinweis, der Schlüssel zur Klärung des Falles zu finden sein könnte.
Wenn es ein Auftragsmord gewesen war, wie es im «Blick» stand, hiesse das, im Büro suchen. Mir sah das eher nach einem Beziehungsmord aus, und ich beschloss, im Schlafzimmer zu schnüffeln.
Es lag über dem Hauseingang. Das Licht von der Strasse schimmerte durch die Ritzen der Rollläden, überzog die Wände mit nadelfeinen Streifen und schraffierte die Einrichtungsgegenstände. Ich stand vor dem Bett, knipste die Taschenlampe aus, liess Zeit verstreichen, um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, und sog derweilen den Duft ein. Es roch nach muffiger Wäsche, mit einem Hauch Chlor, entfernt nach einem Hallenbad; Lösungsmittel jedoch, oder gar Rasierwasser, wie es unter den Polizisten zur Zeit in Mode war, war nicht zu riechen. Anscheinend nahmen die Häuptlinge der Polizei an, bis in diese Räume sei der Täter nicht vorgedrungen, somit gäbe es hier oben nichts zu bergen. Die Häuptlinge hatten beraten, dann entschieden und den Indianer von der Spurensicherung angewiesen, im Schlafzimmer alles zu belassen, wie es war. Vielleicht würden sie später darauf zurückkommen.
Ein leichter Schwindel erfasste mich. Lag ich mit meinem ersten Eindruck, mit meiner Vermutung so weit daneben?
Vor mir stand das riesige Bett, links ein mächtiger Schrank und rechts zwei Ledersessel vor einer Stereoanlage, dahinter ein Gestell mit Büchern, daneben eine rustikale Kommode und nahe der Tür ein Spiegel, mannshoch und breit wie ein Scheunentor. Vor dem Schrank lagen zwei Koffer am Boden, beide geöffnet, halb leer, daneben schmutzige Wäsche, aufgetürmt, die Quelle des Geruchs.
Ich stand immer noch unschlüssig im Raum, da knackte ein Kniegelenk.
Nicht meines. Ich hatte mich nicht bewegt.
Jemand kam die Treppe hochgeschlichen! Mein Herz setzte für die Dauer eines Augenaufschlags aus, setzte wieder ein, raste umso heftiger und pumpte mir das Blut mit Wucht an die Schädeldecke. Ich glitt in den Schatten des Schranks, starrte auf die Tür, lauschte angestrengt und atmete durch den Mund, um jegliches Geräusch zu vermeiden.
Die Schiebetür im Wintergarten! Ich sah sie deutlich vor meinem inneren Auge: Ich hatte vergessen, sie zu schliessen!
Nichts rührte sich, nichts war zu hören. Hatte ich mich getäuscht? Ich wartete. Ein leichtes Girren verriet, dass die Tür nebenan bewegt wurde, der Duschvorhang raschelte: Ich hatte mich also nicht getäuscht! Er suchte im Bad! Wen? Mich? Wusste er, dass ich im Haus war? Hatte er das Licht gesehen, meine Bewegungen registriert?
Wieder Stille. Dann ein Schaben vom Teppich her, die Tür bewegte sich vor meinen Augen, sie wurde aufgestossen, langsam, unaufhaltsam, eine Taschenlampe erschien, blitzte auf und ich verlor keine Zeit mehr: Mit einem Satz war ich dort, packte den Arm hinter der Lampe, riss ihn über meine Schulter und gleichzeitig nach vorne, stemmte meine Hüfte gegen den Körper – und erkannte meinen Fehler zu spät: Sie stöhnte in mein Ohr und ihr Pferdeschwanz kitzelte meinen Hals, während sie über mich hinweg segelte, bevor sie aufs Bett krachte.
Ich suchte den Lichtschalter, machte Licht und half ihr auf, gab ihr die Taschenlampe zurück und schaute zu, wie sie sich die Uniform glatt strich, die Mütze zurechtrückte und sich am Ende kritisch im Spiegel prüfte. Sie atmete tief und schwer und rechtfertigte ihr Erscheinen mit den Worten: «Du bist kein Polizist … mehr.»
Sie duzte mich. Sie stand sehr nah, so nah, dass ich in ihren Augen ein Flackern sah: eine Mischung aus Zorn, Schrecken und Begehren.
«Ich habe die Zentrale angerufen», ergänzte sie und wandte sich ab, «sie haben gesagt, du gehörst seit einem Jahr nicht mehr zu uns.»
5
Am nächsten Morgen fuhr ich gegen neun Uhr in meine Agentur. Ich hatte in der Altstadt eine Wohnung gemietet, dort unten, wo die Mietpreise eingebrochen waren, nachdem die Aare innerhalb von zehn Jahren drei Mal über die Ufer getreten war und sich als reissender Strom durchs Quartier gewälzt hatte. Alle hundert Jahre einen überschwemmten Keller, das hatten die Leute bisher hingenommen. Aber die Aussicht, künftig alle drei bis acht Jahre ein Jahrhunderthochwasser zu erdulden, alle drei bis acht Jahre eine bis zu den Bildern hinauf verschlammte Parterrewohnung, ein ramponiertes Auto und einen verwüsteten Garten in Kauf zu nehmen, das setzte zu. Die Beteuerungen der Politiker, mit baulichen Massnahmen entlang den Uferzonen die Flutwellen vor dem Erreichen der Stadt zu besänftigen, erinnerten an Heilsversprechen von Handauflegern und brachten die unerschütterlichste Optimistin dazu, die Wohnungsinserate zu studieren. Was nützen Stollen, Dämme, Renaturierungen entlang des Flusses und Korrekturen an der Betonschwelle vor der Stadt, wenn sich das Klima ändert und sintflutartige Wolkenbrüche zu einem wiederkehrenden Ereignis werden? Niedergehende Wassermassen müssen in den Bergwäldern und auf den Alpen gebremst werden. Sind sie einmal im Flussbett angelangt, donnern sie mit einer ungeahnten Wucht ins Tal und verlassen auf ihrem Weg ins Meer das steinerne Korsett überall dort, wo es eng wird. Höhere Dämme verlagern den Schlamassel bloss weiter flussabwärts.
Das fabelhaft besonnte Quartier leerte sich: Zuerst flüchteten die gutsituierten Paare mit ihren Hunden, dann zogen die Familien weg, und mit ihnen verschwanden die Kinderwagen, die Fahrradanhänger und das Geschrei und Gelächter in den Gassen. Zurück blieben die älteren Herren in den Obergeschossen, denen die ehrwürdigen Bauten auf dem Papier gehörten, und die Damen mit ihren Katzen, die im ersten Geschoss logierten, und die Einzelgänger, die in den winzigen Nebenwohnungen hausten und für die das Leben ohnehin und überall aus einem Kampf ums Überleben bestand.
Bis dann die Mietpreise fielen. Darauf erwog mancher Krämer oder Lebensberater, manche Fussreflexzonenmasseurin oder Friseurin sich in einer leeren Erdgeschosswohnung einzurichten. Das Quartier belebte sich neu.
Ich wohnte damals in Langnau und brauchte eine Adresse in Bern. Was lag näher, als mir eine günstige Wohnung zu mieten und darin die Agentur einzurichten? Ich fand eine, die lag in einer Seitengasse in der Matte. Die wenigen Akten verwahrte ich in der Küche, in Metallkoffern auf Rädern, so konnte ich sie rasch und mit wenig Aufwand in Sicherheit rollen.
Der Eingang führte aus einen Hinterhof direkt ins Wohnzimmer. Ich machte daraus ein Wartezimmer.
Vorne, an der Durchgangsstrasse, befand sich das Restaurant Matte, in dem Rosi das Zepter in der Hand hielt. Als ich sie zum ersten Mal sah, einen Tag nach meinem Einzug, trug sie Gummistiefel und Gummihandschuhe und schrubbte zusammen mit ihrer Angestellten den trockenen Schlamm und die Algen von den Fensterbänken. Es waren drei oder vier Wochen vergangen seit dem Unwetter, und die Pegelstände hatten sich normalisiert. Die Sonne schien morgens um zehn Uhr, als wollte sie die Menschen im Quartier versöhnen.
Ich blieb vor dem Eingang stehen und sah den beiden einen Augenblick zu. Sie ging an mir vorbei ins Restaurant, kam mit einer Drahtbürste wieder heraus, und bevor sie erneut zu schruppen begann, blieb sie stehen und sagte: «Für einen Versicherungsmann bist du zu wenig fein angezogen … Für einen Vertreter riechst du zu wenig penetrant … Für einen Lebensberater hast du zu kräftige Hände. Was bist du? Pfarrer?»
«Nein», ich musste lachen.
«Also doch Polizist», sie streckte sich, strich sich mit der einen Hand übers Kreuz und mit der anderen eine Strähne aus dem Gesicht, seufzte, blickte mir in die Augen und fragte: «Was willst du, Nachbar, uns ausspionieren?»
Sie trat noch näher vor mich hin und blickte mir tiefer in die Augen; sie war nur zwei Millimeter kleiner als ich, und mit ihrer Selbstsicherheit, gespickt mit Vorwitz, wäre sie selbst als Pfarrerin durchgegangen.
«Für eine Wirtin bist du zu direkt!», gab ich zurück.
Worauf sie die Bürste hinwarf, die Handschuhe auszog und mich einlud: «Komm herein, ich gebe einen aus.»
Sie war hier geboren, und es gab für sie keinen Ort auf der Welt, an dem sie lieber leben würde, wie sie mir später mehr als ein Mal versicherte. Das war nicht immer so gewesen. Sie hatte einige Jahre auf einem Hochseeschiff gekocht, in Hongkong und später in Vancouver ein Restaurant geführt und war an beiden Orten verheiratet gewesen. Vor fünf oder sechs Jahren hatte sie ihr ganzes Geld zusammengelegt, dieses Haus einer Tante abgekauft und das Restaurant Matte eröffnet. Deshalb zog sie nicht weg, und auch weil sie, wie sie sagte, zurückgekommen war, um da alt zu werden, wo sie ihre Milchzähne vergraben hatte, und wo sie, später, im selben Garten, mit einem Jungen aus der Oberstadt die ersten Küsse ausgetauscht hatte.
Seit ich meine Agentur hier hatte, kehrte ich regelmässig bei ihr ein, oftmals am Morgen, um die Zeitung zu lesen und wach zu werden, mittags zum Essen (sie kochte wunderbare asiatische Menus) oder nachts auf einen Single Malt.
Wenn sie in der Früh den Vorplatz säuberte, trug sie stets Handschuhe. Sie stellte eine Kiste in die Mitte, suchte den Platz nach Spritzen ab, sammelte die leeren Flaschen ein und fegte schliesslich Pizzaresten, Getränkedosen, Hundekot, Laub und Quittungen zwischen den Stühlen zusammen. Oder sie stand ganz einfach unter der Tür, mit aufgestützten Händen, schaute nach dem Wetter, den Passanten, den Gewerbetreibenden, wartete auf den Briefträger, und liess den Tag langsam Tag werden. Spät abends trank sie – selten genug – ein Glas mit mir und erzählte Geschichten von früher. Sie hatte sogar meinen favorisierten Single Malt ins Sortiment aufgenommen, nicht etwa um mir einen Gefallen zu erweisen, sondern weil sie selbst auf den Geschmack gekommen war.
An diesem Morgen befreite sie die Tische und Stühle von der Kette, während Svetlana, ihre Angestellte, mit einem viel zu grossen Besen die ersten herbstlichen Blätter zusammenkehrte und aufhäufte. Als ich aus meinem Wagen stieg, hielten sie inne, und Rosi nickte mir mechanisch zu. Sie meinte: «Du bist früh dran, Alex.»
Ich grüsste, setzte ein reserviertes Lächeln auf und strebte ohne Umwege meiner Agentur zu. Ich hatte das Dossier über Nacht studiert und wollte Frau Scheidegger meine Zusage bekannt geben. Kaum war ich an ihnen vorbei, rief sie meinen Namen: «Alex?»
«Ja?»
«Hilfst du mir, den Tisch da rüberzustellen, ja?»
Auf dem abgegrenzten Platz standen drei kleine Bistrotische und ein grösserer Metalltisch. Die drei kleinen Tische wollte sie für die Dauer des Winters in den Keller tragen, den grossen in die Ecke unter die Platane verschieben, wo sie den amerikanischen und japanischen Touristen, die auf der Suche nach einem Fotosujet vom Bärengraben her kommend hier vorbeischlenderten, nachmittags, wenn die Sonne den Nebel aufgesogen hatte, ein Bier, einen Tee oder einen Punsch servieren könnte.
Ich legte das Dossier auf die Tischplatte, hob den Tisch mit ihr zusammen an und realisierte zu spät, dass sie das Deckblatt lesen konnte.
Sie bemerkte: «Wie bist du zu dem Auftrag gekommen!?»
Ich gab keine Antwort.
Für Rosi gab es zwei Sorten Männer: charakterlose und erfolglose. Ihre Bemerkung und die Art, wie sie die Bemerkung machte, zeigte, dass sie mich eher der zweiten Sparte zuordnete. Allerdings war man bei ihr nie sicher. Es ehrte und kränkte mich zu gleichen Teilen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass es für sie eine dritte und vierte Sorte Männer gäbe, wenn sie ein drittes und viertes Mal geheiratet hätte.
Sie liess nicht locker: «Willst du seinen Mörder suchen?»
«Hast du ihn gekannt?»
Wir stellten den Tisch ab.
«Wen? Schild? Jetzt sag bloss, du weisst nicht mehr, wer das war», sagte sie erstaunt.
Ich musste wieder mal eine Augenbraue hochgezogen, vielleicht sogar dümmlich geblickt haben, gesagt hatte ich nichts. Sie trat näher an mich heran, schickte sich an, mich zu schütteln, mich einen Blödian oder so was Ähnliches zu schimpfen, liess es aber bleiben, wandte sich an Svetlana, die das Laub mit einer Kehrichtschaufel umständlich in einen Abfallsack stopfte und sich dabei fortwährend um den Sack und das Laub drehte, sagte ihr, sie solle danach die Stühle mit dem Lappen reinigen, wies gleichzeitig auf einen blauen Eimer, der neben der Tür stand, gab mir einen Wink und verschwand im Lokal.
Ich folgte ihr. Sie war hinter die Bar getreten, ich stellte mich davor. Sie drückte einen Knopf an der Kaffeemaschine, stellte zwei Tässchen darunter, wartete, kratzte sich hinter dem Ohr, während sich der herrliche Kaffeegeruch zu verbreiten begann, und platzierte die Tellerchen mit den kleinen Tassen und dem fingerdicken Schäumchen auf dem Kaffee genau zwischen uns.
«Vor einem Jahr, ungefähr», begann sie und gab zwei Zucker in ihren Kaffee, «hat der Kerl, Makler oder was er war, wie hat er geheissen? Ist ja egal, hat der also letzten Herbst eine Affäre mit Svetlana gehabt. Er hat sie besucht, oben in ihrem Zimmer, öfters, und wie sie schwanger geworden ist, ist er weggeblieben. Hat sich nicht mehr blicken lassen. Das muss, warte mal, jetzt haben wir September, Anfang Jahr, gegen Ende Januar, gewesen sein. Wie gesagt, so ungefähr.»
Sie rührte den Zucker ein, warf einen Blick hinaus, sah zu, wie Svetlana den Sack zuschnürte, und erzählte weiter: «Sie hat ihn angerufen, in seinem Geschäft, und ihm gesagt, er könne sich freuen.»
Sie stürzte ihren Espresso hinunter. Sie trank ihn nie mit Genuss, wie ein Italiener, sondern wie ein Postbote, der die Post hereinbringt und die nächsten Briefkästen im Kopf anpeilt, um seine Tasche möglichst rasch leer zu haben. Sie liess ihre Hand sinken, stellte das Tässchen auf die Untertasse, wischte sich mit Daumen und Zeigefinger die Mundwinkel sauber und meinte: «Tja, und da hat er ihn geschickt: den Schild. Seinen Anwalt. Das kannst du nicht vergessen haben! Er ist hinten gesessen, Tisch zwölf, fast den ganzen Vormittag hat er da gehockt und mit Svetlana geredet.»
Jetzt sah ich ihn vor mir. Daher kannte ich ihn! Der Mann war leise eingetreten, leise und vor Zuversicht strotzend, man spürte, der hatte sich nicht im Lokal geirrt, der hatte eine Order.
Er hatte nach Svetlana gefragt, dann den ganzen Tisch belegt und sich so hingesetzt, dass er den Raum überblicken konnte. Die Aktenmappe neben sich, die Hände gefaltet auf der Tischplatte, so hatte er gewartet. Mit seinem weissen Hemd, seiner Krawatte und einer Haltung, die Position, Macht und Entschlossenheit erahnen liess, hatte er quasi den ganzen hinteren Teil des Lokals in Beschlag genommen. Jedenfalls traute sich niemand in seine Nähe. Er hatte nicht nur aufrecht, sondern siegessicher dagesessen; Svetlana hatte sich geweigert, hatte sich regelrecht gesträubt, an seinen Tisch zu gehen. Sie musste sich ihrer Aussichtslosigkeit, ihrer Ohnmacht gegenüber der Geschliffenheit eines Anwalts, wie er es war, bewusst gewesen sein. Rosi hatte sie hinführen müssen, wie man ein Kalb zum Metzger führt, hatte sich neben sie gesetzt und die Rolle des Türöffners übernommen. Er musste rasch begriffen haben, dass es ein leichtes Spiel sein würde, dass er für seinen Mandanten das maximale Ergebnis nicht nur fordern, sondern auch würde durchsetzen können.
Ich hatte an der Bar gesessen, Zeitung lesend, und hatte unauffällig hingesehen. In Situationen wie dieser erwacht mein Spürsinn, mein Forschergeist. Ich hatte längst nicht alles, was sie sprachen, verstehen können, denn im Hintergrund lief Musik. Svetlana hatte geschwiegen, vorerst, hatte lediglich gesagt, sie rede mit Franz, und nur mit Franz, ihrem Freund, mit niemandem sonst. Er hatte keine Fragen gestellt, hatte lediglich festgehalten, was sie gesagt hatte, hatte ihre Aussage in andere Worte gepackt, aber letztlich ihre Weigerung wiederholt, was mich irritierte. Er hatte weder Ungeduld noch Nachsicht gezeigt, hatte auch nicht gelächelt, wirkte bloss aufgeräumt.
Es waren Gäste eingetreten, Handwerker, Bundesangestellte, Leute vom Strassendienst, ein Taxifahrer, zwei Männer in Leder, Motorradfahrer vermutlich, ziemlich durchfroren, sie hatten sich an der Bar oder an den Tischen niedergelassen, und Rosi war hin und her gelaufen, hatte serviert, da und dort gescherzt, hatte Bemerkungen über die trockene Kälte fallenlassen und ab und zu besorgte Blicke zum Tisch zwölf geworfen.
Er hatte Zeit.
Svetlana hatte gleichwohl zu reden begonnen, hatte sich weder beklagt noch beschwert, hatte weder geschimpft noch gefleht oder gar gebettelt, ihn auch nicht bedrängt. Sie hatte auf die Tischplatte herab gesprochen, eine Hand auf ihrem Bauch. Von dem, was sie sagte, hatte ich nur Bruchstücke verstehen können, der Tonfall jedoch, der Tonfall ihrer Rede, der blieb mir unvergesslich: Es war ein Sington, zwischen weinerlich und enttäuscht, zwischen verletzt und verzagt. Sie war näher der Scham, denn der Reue, getrieben von einem letzten Funken Hoffnung.
Nachdem sie geendet hatte, hatte er losgelegt, sachlich, klärend vielleicht, unnachgiebig auf jeden Fall, soweit ich das im Nachhinein beurteilen kann. Er hatte seiner Aktenmappe einen zweiseitigen Vertrag entnommen, ihr unterbreitet, vor ihren Augen mit der Hand darüber gestrichen, auf besondere Punkte hingewiesen und auf die Stelle getippt, auf der zweiten Seite, wo ihre Unterschrift erwartet wurde; sie hatte sich umgeblickt, Hilfe suchend, mit glühenden Wangen und feuchten Augen, hatte dann schnell und ohne zu lesen mit seinem Füllfederhalter ihren Namen hingekritzelt und war davongestürzt – Rosi hinterher.
Rosi zündete sich eine Zigarette an, fixierte mich durch den Rauch und fragte: «Na, dämmerts?»
Ich bewunderte ihre vollen Lippen, die zu ihrem ungeizigen Wesen passten und mit denen sie ihre Stimmungen vollendet ausdrücken konnte. Ein Schmollen zum Beispiel oder wie jetzt Gereiztheit, mit einem abschätzigen Lächeln.
«Ja», sagte ich, «ja, ich erinnere mich: teurer Anzug, teure Uhr, teure Haare.»
Rosi legte ihre Hand auf meinen Arm. Svetlana kam herein, mit dem Besen, der Schaufel und dem Sack, und verschwand in der Küche.
«Teure was?», sie zog die Hand zurück, blickte verwundert.
«Seine Haare. Pechschwarz, glänzend und so geordnet, als käme er von einem Fünf-Sterne-Friseur.»
«Pomade!», sie wusste Bescheid, «macht jünger! Das solltest du mal versuchen», sagte sie und packte es in einen vieldeutigen Blick.
Ich fragte sie: «Woher hast du gewusst, dass er Schild hiess?»
Svetlana trat aus der Küche, ging hinaus, kam zurück mit dem Wassereimer in der Hand. Sie stellte ihn hin und goss sich ein Glas Cola ein, trank es in einem Zug aus, nahm den Eimer und ging damit nach hinten zur Toilette.
Als die Tür zu war, sagte Rosi: «Vom Vertrag. Sie hat ihn mir gezeigt.»
«Schätze, sie ist nicht gut weggekommen in dem Vertrag.»
Rosi schnipste die Zigarettenasche in den Aschenbecher und sagte: «Das war null gerecht.»
Ich sagte: «Wir hätten ihr zu einem Anwalt verhelfen sollen. Einen Gegenspieler, der hätte sie vertreten, eine Vaterschaftsklage aufgesetzt und eine satte Forderung gestellt. Er hätte den Franz, den Vater des Kindes, zu einer langjährigen Unterstützung verklagt. Vermutlich hätten die Anwälte gefeilscht, es hätte vielleicht sogar eine längere Gerichtsverhandlung gegeben. Aber so? Kein Mensch tritt eine Auseinandersetzung dieser Art allein an. Ohne Unterstützung, ohne Gegenposition.»
«Ach ja?», sagte sie, «Gerechtigkeit muss also in jedem Fall erkämpft werden?»
«Du verwechselst Gerechtigkeit mit Recht. Gerechtigkeit ist eine Tugend, sie wird den Menschen anerzogen, basiert auf Gefühlen und hat keinen Anspruch auf irgendetwas. Dürrenmatt hat einmal gesagt: Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat. In der Natur, übrigens, existiert keine Gerechtigkeit.»
«Wir sind keine Affen mehr, vergiss das nicht», sagte sie.
«So weit davon entfernt, wie viele glauben, sind wir nicht! Und wenn wir schon dabei sind: Recht ist eine menschliche Erfindung.»
«Immerhin verlangt beides nach der Wahrheit!», warf sie ein.
«Ja, ja, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Woraus besteht denn die Wahrheit? Zur Hauptsache aus Ansichten und trügerischen Erinnerungen. Fünf Leute, die etwas beobachtet haben, haben fünf Ansichten, daraus ergeben sich fünf Wahrheiten. Recht ist hingegen ein Zustand, ein Gleichgewicht, um das gerungen wird, und zwar mit Spielregeln, die von einer Gesellschaft vorher festgelegt werden. Denk an Justitia mit der Waage: Sie ist blind. Richter lernen bei ihrer Arbeit, die Argumente abzuwägen, ohne sich dabei von Gefühlen leiten zu lassen. Und vergiss nicht, lügen ist nicht verboten!»
Ich war in Fahrt gekommen.
Sie stoppte mich: «Weisst du eigentlich, dass du von einem Kind redest?»
«Na ja», sagte ich.
«Eins ist sicher: Der Wisch, den Svetlana unterschrieben hat, hatte weder mit Gerechtigkeit noch mit Recht was zu tun», sagte sie, drückte den Zigarettenstummel aus und fügte hinzu: «Du mit deinem Dürrenmatt. Ich sage dir mal meine Definition: Die Gerechtigkeit wohnt im Himmel und die Justiz auf dem Mond, auf der Erde, hier auf der Erde herrscht ein Fürst mit dem Namen Geld, und das Gegengewicht zur Moral ist die Macht. Jawohl!»
Was hätte ich dazu sagen sollen? Das Fressen kommt vor der Moral, wer hatte das gesagt? Schild war nicht gekommen, um seinen Mandaten freizukaufen oder zu entschuldigen. Er war als Anwalt gekommen, um die Rechte seines Mandanten zu verteidigen, seinen finanziellen Schaden zu begrenzen, und dies mit gesetzlich erlaubten Mitteln.
Svetlana kam zurück, trank noch ein Glas Cola und verschwand in der Küche.
Nach diesem Zusammenprall war sie verschwunden, den ganzen Sommer über hatte ich sie nicht gesehen. Ich hatte Rosi nicht nach ihr gefragt, hatte einfach angenommen, sie sei ersetzt worden, durch die Neue, die Spanierin mit dem Namen Dolores. Vor vier oder fünf Wochen war Svetlana zurückgekehrt, dünner, bleich, um die Mundwinkel auffällig kummervoll, und mit einem Quantum dunkler Leere in den Augen. Leiser, um Jahre gealtert, aber nicht weniger freundlich.
Rosi räumte die Tassen weg, wischte mit einem Lappen über die Bar.
Ich legte das Geld für den Espresso hin, wandte mich zum Gehen und dachte: Er war der Typ Mann, der sich nicht so schnell was diktieren liess. Warum, um Himmels willen, hatte er sich so glatt abknallen lassen?
Rosi schob das Geld in meine Richtung zurück, wedelte mit der Hand darüber, um klar zu machen, dass ich eingeladen gewesen war, und sagte: «Danke für die Hilfe mit dem Tisch.»
Ich griff nach dem Geld.
Sie legte rasch ihre Hand auf meine Hand, beugte sich vor und sagte: «Weisst du, was ich hoffe?»
«Was denn?», fragte ich.
Ich konnte das Parfum des Puders riechen, den sie aufgetragen hatte, und ihre Stimme klang sonderbar schneidend, als sie sagte: «Ich hoffe, eine Frau hat ihn erschossen.»
Eine Frau? Der Gedanke traf. Ich überlegte, wog ab und geriet wohl leicht aus der Fassung. Sie liess meine Hand los, beobachtete mich, lachte, hustete, schüttelte sich und prustete: «Nein, Alex, nicht was du denkst!»
Wieso konnte immer alle Welt meine Gedanken lesen?
Svetlana streckte den Kopf aus der Küche und fragte: «Was ist?»
Rosi beruhigte sie und fragte mich: «Hast du keine Sonnenbrille?»
Ich blickte mich um, es war nicht übermässig hell im Lokal.