Es darf gelacht werden Von Männern ohne Nerven und Vätern der Klamotte

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Jervens Filmgeschichte der Fliegerei
Der Zuschuss der Reichskanzlei von 10 000 RM hatte unter anderem dazu gedient, Jervens Archiv um dokumentarische Filme zur Luftfahrt-Geschichte zu ergänzen. Mit ihr wollte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda die Überlegenheit der deutschen Luftfahrt demonstrieren. Als erstes Ergebnis schnitt Jerven einen Kurzfilm von 352 m Länge, der sich mit dem Zeppelin beschäftigte, vom Prototyp bis zum letzten Luftgefährt LZ 129 dieser Art. LZ 129 war das Schwesterschiff der «Hindenburg» und vor dem Zweiten Weltkrieg in Betrieb genommen worden. Den Streifen nannte Jerven VON ZEPPELIN 1 BIS LZ130. Nach der jugendfreien Zulassung Ende Oktober 1937 wurde der Kurzfilm am 17. November 1937 uraufgeführt (FK Nr. 268 vom 18. November 1937). Dies war der Vorbote eines ungleich größeren Projektes, das Ende März 1940 angekündigt wurde: «Die Tobis-Degeto bringt unter dem Titel HIMMELSTÜRMER einen abendfüllenden Kulturfilm heraus, dessen Regie Walter Jerven hatte. Der Film umfasst die gesamte Entwicklung der Fliegerei von Otto Lilienthal bis zur Gegenwart und bringt ausschließlich Originalaufnahmen. Die Musik zu diesem Film schrieb Hans-Horst Sieber.» (FK Nr. 75 vom 28. März 1940). Zum Zeitpunkt der Meldung scheint der Film aber noch nicht fertig gestellt gewesen zu sein. Ende Januar 1941 meldete der FK, der Film sei «mit Unterstützung des Reichsfilmarchivs beim Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda aus über einer Million Meter Originalaufnahmen aufgebaut [worden], die [Jerven] aus aller Welt zusammengebracht hat. Außer einem kurzen historischen Vorspann von 200 Metern, der nach Modellen gestaltet ist, wurden nur dokumentarische Streifen von der Zeit selbst verwandt.» Aber erst am 19. September 1941 durchlief das 2 730 m lange Werk HIMMELSTÜRMER. GEBURT UND GESCHICHTE DES FLIEGENS die Filmzensur und durfte danach auch Jugendlichen gezeigt werden. Daraufhin folgte die Premiere Ende September 1941 anlässlich der Münchner Kulturfilmwoche in der bayerischen Hauptstadt (FK Nr. 225 vom 25. September 1941). Und weil es sich aus ministerieller Sicht eben nicht nur um einen Kulturfilm handelte, wurde HIMMELSTÜRMER den hohen Offizieren des Wiener Luftgaukommandos XVII im November des Jahres in einer Sondervorführung gezeigt. Sie verfolgten es mit großem Interesse (FK Nr. 265 vom 11. November 1941).
HIMMELSTÜRMER bedeutete Rückenwind für Jerven. Zunächst baute er GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE erheblich aus. Nun gab es zwei Teile, die 1 452 und 892 m lang waren. Für beide hatte er ein Vortragsmanuskript bei der FPS eingereicht. Im ersten Teil präsentierte Jerven Wochenschauen und Dokumentarfilme, im zweiten Dramen, über die das Publikum, angefeuert durch die Kommentare, lachen mussten. Damit war er im November 1941 wieder einmal in der Berliner Kurbel zu Gast. Es gelang ihm einmal mehr, den Bogen von guter Unterhaltung zu zeitgeschichtlicher Betrachtung zu schlagen (FK Nr. 278 vom 26. November 1941). Ende 1942/Anfang 1943 veranstaltete Jerven sogar eine ganze FILMHISTORISCHE WOCHE mit Streifen in einer Gesamtlänge von 18 166 m oder rund elf Stunden. Dazu hatte er ein Manuskript mit Kommentaren verfasst, das die FPS am 11. Dezember 1942 jugendfrei zugelassen hatte. Im Auftrag der Deutschen Wochenschau GmbH in Berlin schnitt er außerdem unter dem Obertitel DIE WELT VON EINST 1943 und 1944 zusammen zwölf kurze Streifen zwischen 169 und 283 m Länge. Darunter befanden sich EINE GROSSE KÜNSTLERIN (über Asta Nielsen), TRAGÖDIEN MIT VIEL VERGNÜGEN, wieder einmal die CHAMPAGNER-ELSE, KOMISCHE SZENEN – und DER ERSTE FILMKOMIKER DER WELT, MAX LINDER. Bis auf TRAGÖDIEN MIT VIEL VERGNÜGEN ist keine dieser Zensurkarten überliefert, sodass sich über den Inhalt des Linder-Films nichts sagen lässt.
Als letzter Beitrag der Reihe von Wochenschaufilmen durchliefen DAS HUHN MIT DEN GOLDENEN EIERN und KLEOPATRA DIE HERRIN DES NILS Anfang und Ende November 1944 die Zensur. Jerven hatte also zu den Filmemachern gehört, die noch produzierten, während das Dritte Reich um sie herum zusammenbrach. Am 3. Februar 1945 kam er beim Bombenangriff der US Airforce auf Berlin ums Leben, und mit ihm ging sein Filmarchiv in Flammen auf.
Die Zensurentscheidungen zu Jervens Programmen von 1929 bis 1944 sind im Anhang 6 zusammengefasst.
Aufbruch nach dem Zusammenbruch
Friedrich Martin
Nach Jervens Tod schien die Epoche filmhistorischer Rückschauen mit Film-Erklärern zum Erliegen gekommen zu sein. Friedrich Martin hatte jedoch ein Jerven-Programm nach seiner Darstellung «durch glückliche Umstände», über die nichts näher bekannt ist, retten können. Es war gut 70 Minuten lang. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bereiste der in Oldenburg/Holstein wohnende Martin damit ab Anfang 1946 die Kinos der britischen Zone in Deutschland mit Genehmigung der dortigen Militärregierung. Im März des Jahres pries er in einem kleinformatigen vierseitigen Heftchen das Programm unter dem Titel RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE an. Er behauptete, es gemeinsam mit Jerven zusammengestellt zu haben, dessen letztes Projekt vor seinem Tod es gewesen sei. Mit RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE waren Jerven und Martin allerdings nicht aufgetreten. 1933 gastierte Jerven mit dem 917 m langen Programm AUS MEINEM RARITÄTEN-KABINETT in den Kinos. Die früheste feststellbare Zusammenarbeit der beiden datiert aus dem Jahr 1937, und sie betraf GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE. Davon hatte allerdings zumindest nach außen stets Jerven verantwortlich gezeichnet. Abgesehen von der FILMHISTORISCHEN WOCHE (1942/43) und den Streifen für die Deutsche Wochenschau (1943/44) gehörten die erweiterten Teile von GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE aus dem Jahr 1941 durchaus in den letzten Teil von Jervens Filmprojekten. In seinem Programm-Heftchen nennt Martin auch Filmstars, dokumentarische Filme, Dramen und Max Linders Groteske MAX ALS BOXER, die auf dem Handzettel für GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE aus dem Jahr 1937 aufgeführt sind.
Martin hatte das Programm für seine RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE anders strukturiert und präsentierte es in drei Teilen. Im ersten Teil stellte er Filmstars vor, während der zweite Teil den dokumentarischen Filmen vorbehalten blieb. Für den abschließenden dritten Teil hatte er eine bunte Mischung aus Tanz- und Sittenfilmen, Dramen wie DER AVIATIKER UND DIE FRAU DES JOURNALISTEN mit Valdemar Psilander und eben den Linder-Streifen aufgespart. Im Heftchen hob er Jervens Pionierleistung hervor. Er versprach, dass das Publikum Tränen lachen werde über solche Kuriositäten wie Männer, die im Stehkragen Sport treiben, und Mädchen, die in langen Strümpfen und von Kopf bis Fuß in Stoffe eingehüllt ins Seebad steigen. 1948 war Martin unter dem Motto «Die bunte Bühne» in der gesamten Trizone unterwegs und konnte auf ausgezeichnete Kritiken zum Beispiel aus Frankfurt a. M., Karlsruhe und München verweisen.

Friedrich Martin, 1946
Später war Martin nach Frankfurt a. M. umgezogen und hatte unter dem Titel RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE eine neue Folge von Stummfilm-Ausschnitten zusammengestellt. Entweder hatte er aus Jervens Archiv doch mehr Streifen als GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE gerettet, oder aber er hatte sein eigenes Archiv nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch Neuerwerbungen erweitern können. Über die neue Fassung «in zeitgerechter Aufmachung», mit der Martin durch Westdeutschland reiste, berichteten weder die Film-Branchenblätter noch der katholische Film-Dienst (FD). Der Evangelische Film-Beobachter (EFB) hingegen meldete 1953 (Folge 42 vom 15. Oktober 1953, Nr. 687): «Während es auf der Leinwand regnet und flimmert und sich die Personen ruckartig fortbewegen, gibt ein Erklärer mit öliger Jahrmarktstimme seinen Kommentar wie anno dazumal, und das ‹Pianoforte› untermalt die ‹unvergleichlichen Eindrücke der Cinematographenindustrie› melodramatisch. Man erlebt Chaplin, Marlene Dietrich, Greta Garbo, Hans Albers, Rudolf Forster und andere in ihren Jugendjahren. Ihre Gefühle vermitteln sie durch maßlose Übertreibungen. Man sieht dokumentarische Bilder und ‹diverse nervenzerfetzende Kriminaldramen› von rührender Einfalt. Das herzliche Gelächter über diese unfreiwillige und geistreich kommentierte Komik kann jedem empfohlen werden. Und hinterher möge man ein bisschen darüber nachdenken, was wir heute, 50 Jahre später, im Film eigentlich gewonnen – oder verloren haben.»
Womöglich war Martins Fortsetzung von Jervens Live-Präsentationen der Auslöser von Kinoprogrammen, die ebenfalls auf frühe Filme verschiedener Genres und einen Film-Erklärer setzten. In die Kategorie fielen thematisch die deutsche Produktion HERRLICHE ZEITEN (1950) mit dem Kabarettisten Günter Neumann als Erklärer und HALLO, DIE GROSSE WELTREVUE (1951) französischer Herkunft mit einem Off-Sprecher. Die Kombination von frühen Filmen, aus dem Off von einem Sprecher kommentiert, wurde sehr bald das Modell für Kinoprogramme aus dem Slapstickbereich. Dies waren vor allem Programme mit Filmen von und mit Charlie Chaplin, Karl Valentin sowie mit Pat und Patachon. Dazu gehören auch Robert Youngsons Kompilationsfilme ab THE GOLDEN AGE OF COMEDY (1958). Youngsons Streifen kamen alle in die bundesdeutschen Kinos, die ersten beiden auch in die Lichtspielhäuser der DDR. Jerven, Althoff und Martin dürften allerdings nicht die Vorbilder des US-Amerikaners Youngson gewesen sein.
Im vorliegenden Buch werden nur die Linien von live auftretenden Erklärern bis hin zu den ersten deutschen TV-Serien mit Slapstickfilmen verfolgt. Daher sind Kinoproduktionen mit Erklärern, vor der Kamera oder im Off, ein Thema, das zu gegebener Zeit in einem eigenen Buch betrachtet werden soll. Zwei Ausnahmen sind dennoch angebracht. Sie sind unmittelbar mit RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE und mit Werner Schwier verbunden.
Werner Schwier
Schwier kam am 28. Mai 1921 in Stadthagen als Sohn des späteren Sparkassendirektors August Schwier und seiner Ehefrau Auguste geborene Schwarze zur Welt. Früh musste er lernen, mit einer Körperbehinderung zu leben. Er war als Kind an Kinderlähmung erkrankt und konnte seither seinen linken Arm nicht mehr bewegen. Deswegen wurde er nicht zum Kriegsdienst eingezogen und konnte nach seinem Abitur ein Jurastudium in Marburg beginnen. Dort blieb er mindestens bis 1944. Nach Kriegsende wechselte er nach Göttingen, wo er auch anfing, Zeitungswissenschaften zu studieren (Interview mit Marlies Kirchner vom 6. Juli 2016 und Post an Schwier als «cand. iur.» in Marburg von 1941 bis 1944). Beide Studien schloss er nicht ab. Seine Interessen galten besonders dem Film und auch der Kultur, und das bestimmte seinen weiteren Lebensweg. «Mich hat alles interessiert, was mit dem Film zusammenhing – vor oder hinter der Kamera.» (General-Anzeiger für Stadthagen und den Landkreis Schaumburg vom 5. Januar 1979, Interview von Karlheinz Poll). Die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur von Aufbruch, Kulturhunger, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder geprägt, und dazu passte Schwiers nonkonformistische Karriere als freier Journalist, Schauspieler, Kabarettist, Publizist, Filmenthusiast, Drehbuchautor, Filmverleiher, Filmeinkäufer, Synchron-Fachmann und Slapstickspezialist.
Während seines Studiums in Göttingen lernte er die Kommilitonen Ernst Liesenhoff und Walter Kirchner kennen, die sich bald auch dem Film widmeten. Sie waren Mitglieder im Verein Studentische Filmfreunde – Filmclub Göttingen e. V., und sie verband ein unstillbarer Hunger nach qualitätsvollen ausländischen Filmen, die ihnen spätestens seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im Dritten Reich vorenthalten geblieben waren. Gemeinsam mit dem Film-Produzenten Hans Abich und dem Regisseur Rolf Thiele gehörten sie zu den «Harzer Rollern» (Interview mit Hanns Eckelkamp vom 13. März 1998). Seit Juni 1951 erschien die zunächst von Kirchner herausgegebene Filmclub-Zeitschrift Cinéaste. Schwier hatte zeitweilig die Schriftleitung inne, verfasste Artikel und war kurzzeitig auch Herausgeber. Nach einem ersten gemeinsamen Filmprojekt von Schwier und Liesenhoff für die Filmaufbau GmbH in Göttingen im Jahr 1951 gründete man im September 1952 gemeinsam den Filmverleih Neue Filmkunst. Dieser Verleih nahm zum Teil das Geschäftskonzept des 1960 gegründeten, zeitweise enorm erfolgreichen Atlas Filmverleihs von Hanns Eckelkamp vorweg. Liesenhoff und Schwier wirkten daran in unterschiedlichen Funktionen mit. Schwier war bis 1956 der künstlerische Leiter der Neuen Filmkunst und jedenfalls bis 1958 noch Mitinhaber. Dann betrieb Kirchner den Verleih allein. Für den Verleih untertitelte Schwier fremdsprachige Filme und sorgte gelegentlich auch für Synchronisationen. Das war lange, bevor er sich ab 1965 verstärkt der Filmsynchronisation widmete. Außerdem hatte Schwier bald nach Kriegsende gute Verbindungen zu dem Berliner Filmkaufmann und -sammler Albert Fidelius geknüpft. Dessen Archiv wurde nach seinem Tod im Frühjahr 1962 zusammen mit der Sammlung des Filmregisseurs Gerhard Lamprecht zum Gründungsgrundstock der am 1. Februar 1962 eröffneten Stiftung Deutsche Kinemathek e. V. (Film-Echo/Filmwoche Nr. 11/12 vom 9. Februar 1963). Fidelius’ Sammlung hatte bereits Anfang der 1950er-Jahre einen beträchtlichen Umfang. Er gab in Berlin Bestandslisten für Kinos heraus, die Sonderprogramme mit frühen Filmen aufführen wollten (Film-Echo Nr. 1 vom 5. Januar 1952).
Für die Entwicklung der Slapstickserien im deutschen Fernsehen ist der Schauspieler Schwier von Bedeutung (Aping, Dick und Doof, S. 344–347). Anfang der 1950er-Jahre veranstaltete der Filmclub Göttingen zur Faschingszeit ein Fest, auf dem Schwier gemeinsam mit dem am 25. Oktober 1919 in Essen geborenen Komponisten Konrad Elfers quasi als Gag einen Stummfilm aus Fidelius’ Archiv zeigte. Schwier kommentierte sie als Film-Erklärer im alten, aber parodierenden Stil wie Jerven und Martin, und Elfers spielte dazu Kintopp-Musik auf dem Klavier. Damit fielen Schwier und Elfers jedoch durch. Über die Gründe des Scheiterns berichtete Schwier der Journalistin Marlen Sinjen nach dem Erfolg von ES DARF GELACHT WERDEN (Das neue Blatt vom 20. Juli 1963: «Sein Rezept heißt: Es darf gelacht werden!»): «Es begann alles mit einem Faschingsscherz. Ich arbeitete damals als freier Journalist in Göttingen. Aus Jux wollten wir im Göttinger Filmclub mal richtig Kintopp machen. Mit Ansage und Klaviermusik. Aus einem Privatarchiv bekamen wir einen alten Film. Ich hatte ein wunderbares Manuskript geschrieben, über das ich mich totlachen konnte. Ich machte nach diesem Manuskript selbst die Ansage. Was soll ich Ihnen sagen: Kein Mensch lachte. Es wurde eine völlige Pleite. Da habe ich eingesehen, dass man so etwas nur improvisieren und niemals schreiben kann. Das geht nur ‹frei nach Schnauze›. Und so ist es bis heute geblieben. Ich habe nie ein Manuskript.»
Kintopp anno dazumal
Aus der ersten «völligen Pleite» zog Schwier die Konsequenzen. Als bei der Göttinger Filmaufbau GmbH ein Atelier-Fest stattfand, wagte er mit Elfers und einem neuen Konzept einen neuen Anlauf. Mit Augenzwinkern servierten sie ihrem Publikum ein Programm wie im Gasthaus-Milieu, als es kaum ortsfeste Lichtspieltheater gab und Wanderkinos die Attraktion waren. Unter der Überschrift KINTOPP ANNO DAZUMAL trafen sie nun genau den Geschmack der Gäste, die vor Begeisterung tobten. Unterlagen über die seit 1949 rechtlich selbstständigen Atelierbetriebe der Göttinger Filmaufbau GmbH und ihre Atelier-Feste sind in ihrem Nachlass, der sich im Filminstitut Hannover befindet, nicht überliefert. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wiederholten Schwier und Elfers ihren Auftritt. Anschließend gingen sie in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre mit einer bunten Mischung aus dokumentarischen, dramatischen und komischen Stummfilmen auf Tournee durch Filmclubs, Kinos und Universitäten bundesdeutscher Städte (Interview mit Ernst Liesenhoff vom 17. November 1999). Auch die Gilde deutscher Filmkunsttheater wurde auf Schwier und Elfers aufmerksam und brachte KINTOPP ANNO DAZUMAL mit wechselnden Streifen aus Fidelius’ Archiv in die Kinos ihrer Mitglieder.
Daraufhin nahm Fidelius Ende Juni 1954 ersten Kontakt zur Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) auf. Er teilte ihr mit, dass die öffentlich gezeigten Filme aus seinem rund 180 000 Meter Film umfassenden Bestand alle zwischen 1910 und 1930 von der damaligen Filmzensur zugelassen worden seien und sie nun in etwa 30 Filmkunsttheatern nur einem kleinen Personenkreis vorgeführt würden. Unter anderem ging es um die deutschen Stummfilme DIRNENTRAGÖDIE und DIE HOSE von 1927 sowie um fünf Chaplin-Mutuals von 1916 und 1917: CHAPLIN ALS KULISSENSCHIEBER (BEHIND THE SCREEN), CHAPLIN IM WARENHAUS (THE FLOOR-WALKER), AUF DER WALZE (THE VAGABOND), CHAPLIN LÄUFT ROLLSCHUH (THE RINK) und CHAPLIN ALS STRÄFLING (THE ADVENTURER). Zu den Chaplin-Streifen behauptete Fidelius, seit 1931 die alleinigen deutschen Aufführungsrechte zu besitzen (Schreiben vom 28. Juni und 19. Juli 1954 in FSK-Akten Nr. 10 009). Die FSK ließ Fidelius wissen, dass allein die Inhaberschaft an Filmen noch nicht zu ihrer öffentlichen Aufführung berechtige. Sie beobachtete seine Aktivitäten in der Öffentlichkeit. Gegen eine Aufführung der Streifen im Münchner Kino Studio im September 1954 wandte man allerdings nichts ein (Vermerke FSK vom 9. und 10. August 1954 sowie Schreiben an Fidelius vom 7. September 1954). Auch 1955 tourten Schwier und Elfers mit KINTOPP ANNO DAZUMAL. Im April 1955 schrieb das Fachblatt Filmwoche im Beitrag «Geglücktes Stummfilm-Experiment» (Nr. 15. vom 9. April 1955, S. 336): «Wider alle Unkenrufe […] ein so gutes Geschäft, dass aus den vorgesehenen drei Tagen sieben wurden. […] Wenn der Sprecher nicht heiser geworden wäre, würde der Film wohl heute noch laufen.»
Als Fidelius der FSK Anfang April 1955 ankündigte, dass vom 19. bis 28. April ein völlig neues Stummfilm-Programm KINTOPP ANNO DAZUMAL in den Freiburger und Heidelberger Kinos Kamera stattfinden werde, kam Bewegung in die Angelegenheit Die FSK teilte ihm per Telegramm mit, dass sie dem ohne Freigabebescheinigung nicht zustimmen werde. Daraufhin nahm Schwier in Fidelius’ Auftrag die Sache in die Hand. Er rief bei der FSK an, dass der Termin in der Freiburger Kamera nicht mehr abgesagt werden könne (Telegramm FSK vom 16. April und Vermerk über Schwiers Anruf vom 18. April 1955).
Ohne dass die FSK einschritt, fanden die Auftritte statt, und nicht nur in den genannten Kinos, sondern vom 26. bis zum 28. April 1955 auch im Heidelberger Studio Fauler Pelz. Die Zuschauer waren begeistert von der «großartigen Posse», man bescheinigte Schwier eine «großartige Leistung», und die US-amerikanischen Gäste im Publikum fanden Schwiers und Elfers’ «Show einmalig» (Der Gildendienst Nr. 22, Mai 1955, S. 9). Nach einigem Hin und Her stellte Schwier Ende Mai 1955 für Fidelius endlich einen Antrag auf Zulassung von KINTOPP ANNO DAZUMAL. Zum Programm gehörten unter anderem Filme von Asta Nielsen, Max Linder, Henny Porten, Gösta Ekman, La Jana, Hans Albers, Emil Jannings, Erika Glässner, Charlie Chaplin und Buster Keaton. Am 9. Mai 1955 ließ die FSK das knapp 2 500 m lange Programm als jugendgeeignet auch für Jugendliche von 10 bis 16 Jahren zu – eine damals übliche Altersbegrenzung vor der Neuregelung des Jugendschutzgesetzes von 1957.
Am 9. Juni 1955 fand die offizielle Premiere von KINTOPP ANNO DAZUMAL im Münsteraner Filmkunsttheater Gertrudenhof-Lichtspiele statt (Freigabekarte und FSK-Vermerk vom 8. Juni 1955 über den Einsatz). Es wurde von Eckelkamp und seinem Vater betrieben und mittlerweile von Liesenhoff geleitet. Das Programm kam so gut an, dass Schwier und Elfers als Wanderschausteller Werner und Kapellmeister Konrad am Pianoforte durch die Filmkunsttheater zogen. In Göttingen veranstalteten sie im Studio der Filmkunst für Angehörige der Universität an vier Tagen ein «Attraktions-, Fest- und Galaprogramm». Sie baten, in der Nähe des Operateurs wegen der Feuergefährlichkeit der Streifen nicht zu rauchen. Andere freundliche Hinweise lauteten: «Schlüssel zur Toilette und Erfrischungen am Büfett» und «Sitzenbleiben mehrere Vorstellungen hindurch strengstens untersagt». Das «fast total neue» Programm enthielt nach dem Handzettel Bilder aus dem Leben einer Probiermamsell, DAS MÄDCHEN OHNE VATERLAND mit Asta Nielsen, Rührstücke, wieder einmal DER AVIATIKER UND DIE FRAU DES JOURNALISTEN aus den «Sümpfen der Weltpresse» wie schon bei Friedrich Martin, je einen Film mit Linder, Chaplin und Keaton. Und schließlich als besondere Attraktion der dokumentarische Streifen JUNGDEUTSCHLAND AUF GELÄNDEÜBUNG – «wem schlüge da das Herz nicht höher?» Vom 26. bis zum 29. Oktober 1955 nahmen Schwier und Elfers mit KINTOPP ANNO DAZUMAL an den II. Westdeutschen Kulturfilmtagen in Oberhausen teil, die unter der Überschrift «Bildungsmacht Kulturfilm» stattfanden. Zu ihrem 93-minütigen Programm gehörte dieses Mal FATTY GEHT INS THEATER, womöglich ein US-Slapstickfilm mit Roscoe «Fatty» Arbuckle.
Inwieweit Fidelius, Schwier und Elfers auf korrekte Abspielgeschwindigkeiten geachtet haben, ist unbekannt und eher zweifelhaft. Wahrscheinlich hatten dies vor ihnen auch Jerven, Althoff und Martin nicht im Blick. Als im Frühjahr 1957 der Programminhalt von KINTOPP ANNO DAZUMAL wieder gewechselt hatte, empfahl der FD die «amüsante Programmfolge aus den Anfängen der Filmgeschichte […] mit Ansager und Klavierspieler» für Interessierte ab 16 Jahren (Nr. 14 vom 4. April 1957, Nr. 5 750): «Heute etwas über den Wert oder Unwert der hier gesammelten Streifen zu sagen, ist ziemlich schwer. Schon die ruckenden, zuckenden Bewegungen der Schauspieler auf der Leinwand, die in der damaligen geringeren Anzahl ihrer Einzelbilder ihre Ursache haben, rufen bei dramatischen Szenen, die seinerzeit Tränenströme erzeugten, hellste Heiterkeit hervor, die durch die von der Bühne übernommene Mimik noch gesteigert wird. Historischen Wert, nicht nur für die Filmgeschichte, haben allerdings noch kleine Dokumentarfilme wie DAS KAISERRENNEN IM TAUNUS. Asta Nielsen und Werner Krauss stellen sich uns in ihren ersten Filmrollen unter den Titeln DIE SÜNDEN DER VÄTER und WEG INS VERDERBEN vor. Überhaupt kann man feststellen, dass die Titel des Kintopps anno dazumal sich heute noch großer Beliebtheit erfreuen. Auch die beiden Dänen in ZIRKUS PAT UND PATACHON [TAKT, TONE OG TOSSER, 1925] und Chaplin CHARLIE REGELT DEN VERKEHR [A DAY’S PLEASURE, 1919] haben nichts an Publikumswirkung eingebüßt.»

Handzettel KINTOPP ANNO DAZUMAL, 1955
Dieses Mal schwieg der EFB. Dafür berichtete er ausgesprochen angetan von der Vorführung eines Stummfilm-Programms STUMMFILMZAUBER anlässlich der 4. Internationalen Filmfestspiele im Münchner Rex-Filmkunsttheater (Folge 34 vom 23. August 1956, Nr. 593–601). Mit einer Sondergenehmigung der FSK wurden acht US-Slapstickfilme mit Roscoe «Fatty» Arbuckle, Charlie Chaplin, Buster Keaton, Harold Lloyd, Pat und Patachon und Bobby Vernon gezeigt. Es waren durchweg Ausschnittsfassungen von rund zehn Minuten Dauer pro Film, die der «Kinobesitzer […] in fast immer glücklicher Weise [mit] Dixieland-Platten aus den zwanziger Jahren unterlegte». Schwier dürfte an STUMMFILMZAUBER nicht beteiligt gewesen sein, da er als Film-Erklärer live mit Elfers am Klavier auftrat. Die Zuspielung von Schallplattenmusik hätte wohl nicht zum gemeinsamen Konzept gepasst.
Über zwei Jahrzehnte darauf reaktivierte Schwier KINTOPP ANNO DAZUMAL noch einmal. 1977 war die Festwoche «München Kultur» ins Leben gerufen worden. In den ersten beiden Auflagen der Festwoche war er mit dem Programm aus den 1950er-Jahren aufgetreten (mit Elfers?) und hatte das Publikum wieder begeistern können. Das nährte seine Hoffnung, damit wie früher auf Tournee gehen zu können – sobald er sein mehrfach angekündigtes Buch ES DARF GELACHT WERDEN für den Münchner Hanser-Verlag abgeschlossen habe (General-Anzeiger für Stadthagen und den Landkreis Schaumburg vom 5. Januar 1979, Interview von Karlheinz Poll). Vor Schwiers frühem Tod 1982 hat sich die Hoffnung nicht mehr erfüllt, und das Buch kam nie heraus. Ein Manuskript existierte wohl auch nicht.





