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Ist es ein Borsalino? Oder ist es ein Doulos?
Fragt mich nicht, was der Unterschied zwischen den beiden Hüten ist. Ich chatte meinen Großvater väterlicherseits in Kärnten an, der dort als „der Verrückte“ bekannt ist, ich habe niemanden bisher kennengelernt, der ihm in Sachen Kino das Wasser reichen kann. Wenn einer eine Antwort auf die Frage weiß, wie die französischen Hüte heißen, dann ist es der Verrückte.
Ich behalte den Mann im Regen auf der Rue Jenner weiter im Visier, der vor den Studios auf und ab geht, als hätte er den Auftrag, dieses Gebäude im Auge zu behalten, in dem Le samouraï gedreht worden ist.
Die Antwort des Verrückten kommt postwendend. „Beides sind europäische Hüte. Der ältere wird „Le Doulos“ genannt und wird bevorzugt von der französischen Kriminalpolizei, den Flics, aber auch von den Gangstern getragen – Achtung: In der französischen Gaunersprache wird der Spitzel auch „Doulos“ genannt, nach einem Film von Jean-Pierre Melville, der 1962 in den Jenner Filmstudios gedreht worden ist, die jetzt deinem Vater gehören.
Der Borsalino ist eigentlich das Markenzeichen einer italienischen Hutfirma; ihre Hüte waren in Europa und in den USA weitverbreitet, die bekanntesten Träger waren Al Capone, Alain Delon, Robert Redford und Marlon Brando. Der Hut wird in amerikanischen und europäischen Gangsterfilmen getragen.
Ich schicke ein digitales Küsschen aus Paris nach Kärnten und beobachte weiter den Mann auf der Straße; meiner Meinung nach ist er ein Doulos, ein Spitzel.
Fragt sich nur, wer ihn geschickt hat. Außer mir ist niemand in den Studios. Ob der Kerl auf der Straße weiß, dass Duane nach London abgereist ist? Es wäre ein Zufall.
Ob ich den Doulos ansprechen soll? Was soll ich ihm sagen? „Hi, Spitzel, wer schickt dich?“
Und was ist, wenn er antwortet: „Der Boss schickt mich, ich soll dich fesseln und knebeln und zu ihm schleifen. Vorwärts! Marsch!“
Was mache ich dann? Habe ich in so einer Situation noch Zeit, meine Eltern in LA oder den Verrückten in Kärnten anzurufen? Eher nicht, würde ich sagen.
Vielleicht bleibe ich heute einfach im Haus und sehe mich in den Studios um, damit ich gewappnet bin, wenn hier gedreht werden soll.
Noch habe ich keinen Plan. Ich weiß nur, wann das Team aus New York City hier ankommen wird, ich hoffe, sie teilen mir rechtzeitig mit, was sie drehen möchten. Duane hat mir eine Excel-Datei mit Leuten und Kontaktdaten aus der Filmbranche hier in Paris hinterlassen, die ich anrufen kann, wenn ich Hilfe brauche, und die immer wieder für West-Film arbeiten.
„Die meisten Filmleute hier tun für Geld alles, die würden sogar einen Auftragsmord erledigen“, hat Duane mich gewarnt.
Würden sie auch einen Spitzel umlegen?
Ich wage noch einen Blick auf die Straße, der Spitzel ist weg. Ich sehe nach rechts und links. Der Mann mit dem Mantel und Hut ist verschwunden.
Ich gehe in den zweiten Stock hinauf ins Archiv, dorthin, wo die Drehbücher, die Standfotos und Null-Kopien legendärer Filme gelagert sind.
Einen Moment spiele ich mit der Versuchung, meinen Großvater väterlicherseits in Kärnten mit Fangfragen nach den Hintergründen des geheimnisvollen Filmstudios in der Rue Jenner zu löchern, das einen guten Ruf in Paris hat.
Ich öffne eine Kiste mit der Jahreszahl 1967 und entnehme ihr ein vergilbtes Drehbuch mit dem Titel Le samouraï, ich schlage es auf und sehe die ruhige Totale vor mir: Ein Kanarienvogel in einem Käfig und ein Mann auf einem Bett, der raucht. Es ist die erste Einstellung eines weltbekannten Films, eines Gangsterfilms von Jean-Pierre Melville mit Alain Delon, der den eiskalten Engel verkörpert, der in dem Film natürlich einen Doulos und einen grauen Mantel trägt.
Ich riskiere wieder einen Blick auf die Rue Jenner, der Unbekannte ist weg. Ich sehe die Straße hinauf und hinunter, aber er ist nicht mehr zu sehen. Ich ziehe mich in das Archiv zurück und finde einige alte amerikanische Revolver.
War Melville nicht als „der Amerikaner in Paris“ bekannt? Wenn es wirklich so war, wäre es auch logisch, dass er in seinen Filmen bevorzugt 38er-Revolver eingesetzt hat.
Ich überlege mir, eine Waffe zu nehmen, und probiere mehrere Schießeisen aus, entscheide mich aber für eine 22er-Stupsnase, samt unauffälligem Holster, beides kann ich leicht unter dem weiten Pullover und der weiten Jeans verstecken.
Ob es hier in Paris viele Kontrollen gibt?
Sicher. Die Medien berichten ständig über Anschläge islamistischer Gruppen in Frankreich. Es wird wohl besser sein, unbewaffnet durch die Stadt zu gehen, um nicht in eine scharfe Kontrolle zu geraten. Ansonsten folgt eine unerwünschte Festnahme und natürlich die unvermeidliche Abschiebung als eine in Frankreich unerwünschte Person.
Jean-Pierre Melville und sein wichtigster Konkurrent Henri Verneuil hätten nie mit solchen Problemen für die Gangster ihrer Filme gerechnet, sie haben einfach auf der Straße gedreht.
Ich lege die Waffe wieder zurück und gehe in die Küche hinunter.
Was besitze ich?
Ich habe noch etwas Instantkaffee, ein Weißbrot und einen Schokoladebrotaufstrich einer französischen Billigkette, die vorne gleich um die Ecke liegt.
Ich streiche mir zwei Schokoladebrote und darf gar nicht an die selbstgemachte Kinoschokolade denken, die der Verrückte in seinem Kino angeboten hat.
Wieso ist der Verrückte in Kärnten hängen geblieben? Wieso ist er nie mehr nach Frankreich gekommen, um einen neuen französischen Gangsterfilm im Stil von Jean-Pierre Melville oder José Giovanni oder Henri Verneuil zu drehen?
Wieso ist der Verrückte hier in Europa geblieben und nicht mehr in die USA zurückgekehrt?
Diese Fragen werden nie so einfach zu beantworten sein, aber vielleicht kann mir der Mann auf der Straße weiterhelfen, der mich seit zwei Tagen verfolgt.
Was macht man an einem verregneten Novembersonntag in Paris?
Man geht ins Kino!
Ich gehe online und finde ganz in meiner Nähe das UGC Gobelins, ein Multiplexkino mit 11 Sälen, das 20 Filme anbietet. Ich gönne mir Belle Epoque, bevor ich in eine Pizzeria essen gehe, dem einzigen Lokal weit und breit, das so halbwegs erschwinglich ist.
Oh my God – der Kerl, der mir auf den Fersen ist, ist auch hier und isst einen Teller Spaghetti und trinkt dazu den üblichen französischen Rotwein.
Ich entscheide mich für eine Pizza Margherita und trinke ein Cola, wieso sollte ich meine amerikanische Herkunft verleugnen?
Ob der Kerl gut im Bett ist? Ich bin mir sicher, dass er die Ateliers in der Rue Jenner kennt, er ist bestimmt einer aus der Filmbranche.
Ob ich ihn ansprechen soll?
Er sieht zu mir herüber, er nimmt den Teller Spaghetti und sein Glas Wein und kommt zu mir herüber, er spricht mich natürlich auf Französisch an, ob der Platz neben mir frei ist, ich antworte auf Französisch mit „Oui, bien sûr.“ Er ist erfreut, dass ich Französisch spreche, und er verwickelt mich in ein Gespräch über Filme und Bücher aus Frankreich, die ich allerdings alle auf Englisch gelesen habe, aber er freut sich, dass ich diese Filme und Literatur kenne.
Was soll’s, ich lasse mich von ihm zu einem Kaffee und einem Tiramisu einladen, es ist klar, dass er mich in die Ateliers in der Rue Jenner begleitet. Wir landen im Bett. Er erzählt mir, dass hier Melville die erste Einstellung von Le samouraï gedreht hat und dass es diesen Ort entweihen würde, wenn wir uns ganz ausziehen würden.
Er zieht die Hose aus, ich ziehe den Rock hoch, er reißt den Schlüpfer auf und wirft ihn weg, wir küssen uns, ich mache die Beine breit, er vögelt mich, wir vögeln auf einem uralten französischen Filmbett, das einmal als Requisit für einen klassischen Gangsterfilm gedient hat. Es ist leidenschaftlicher Sex à la Paris, und ich, die den direkten amerikanischen Sex und den vulgären Landquick und Quack made in Austria kenne, komme ganz auf meine Rechnung. Ich küsse ihn. Er küsst mich. Er versteht etwas vom Küssen, er ist ein Franzose; wer, wenn nicht ein Franzose, kann etwas vom Küssen und vom Sex verstehen?
Und was verstehen die Französinnen vom Sex und vom Küssen?
Keine Ahnung.
Er meint, dass ich meine Sache gut mache.
Welche Sache?
„Den Sex. Das Küssen“, sagt er.
Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll, denn er spricht emotionslos, und ich weiß noch nicht einmal seinen Namen.
Ich stelle mich als Janet vor, 23 Jahre alt, soeben erst aus Klagenfurt, Kärnten, Österreich, nach Paris, Frankreich, übersiedelt.
„Für eine amerikanische Österreicherin sprichst du sehr gut Französisch“, sagt er und verzichtet darauf, seinen Namen zu nennen. Namen spielen in Paris keine Rolle, meint er. Ihm würden „er“ und „sie“, „du“ und „ich“, „Sie“ und „Sie“, „Monsieur“ und „Madame“ oder „Demoiselle“ und so weiter reichen.
Wir schieben noch eine Nummer im Stehen, er versteht wirklich etwas vom Sex. Er spricht nicht. Einzig sein Schwanz kommuniziert mit meinem Geschlecht. Es ist ein erstklassiges sexuelles Erlebnis hier in den uralten Ateliers in der Rue Jenner im 13. Bezirk von Paris.
In der Dunkelheit verlassen wir gemeinsam die Ateliers, um irgendwo zu Abend zu essen. Er kennt sich hier aus. Er wohnt seit Jahrzehnten hier, er weiß, wohin er mit einer jungen Amerikanerin gehen kann, ohne das Stadtgerücht von Paris zu sein.
Ich halte mich an ihn. Er wird mich noch lange durch Paris begleiten.
Aber es wird unser kleines Geheimnis bleiben, ich kenne ja nicht einmal seinen Namen, daher brauche ich auch meinen Eltern nichts von dieser Episode zu erzählen, ein schlechtes Gewissen ist ausgeschlossen, und der Verrückte in Kärnten muss ja nicht alles wissen.
Und was ist, wenn der Verrückte in Kärnten einiges nachgeholfen hat? So wie damals bei meiner Mutter, die er bekanntlich auch mit seinem Sohn Johnny verkuppelt hat?
Nur nicht überlegen und die falschen Schlüsse ziehen. Nach dem Abendessen gehen wir noch einmal ins Kino und sehen uns den neuen Film von Roman Polanski an. J’accuse kann man sich nach sehr viel Sex am Sonntagnachmittag ohne Weiteres sonntagnachts ansehen.
Um 0 Uhr 30 verlasse ich mit ihm das Kino. Es regnet noch immer, und es ist empfindlich kühl geworden. Wir trinken noch in einer Bar, die er kennt, ein Glas Rotwein und unterhalten uns über die alten Filme von Polanski, die er in Europa gedreht hat, bevor er nach Amerika gegangen ist.
Ekel ist eindeutig sein Favorit, meiner ist Tanz der Vampire, den ich im Original zum ersten Mal in Europa gesehen habe, genau genommen im „Kleinen Kino“ meines Großvaters väterlicherseits, der allgemein nur „der Verrückte“ genannt wird, auch von ihm, einem französischen Schriftsteller und Schauspieler, der von weiß Gott woher den Verrückten im fernen Kärnten kennt.
Nun ist mir klar, dass der Verrückte einmal mehr seine Finger im Spiel hat, es wird mir ein Vergnügen sein, mich durch seine Spielregeln treiben zu lassen.
In den USA habe ich Tanz der Vampire in erster Linie als eine großartige Musicalshow kennengelernt, die TV-Versionen waren alle bis zur Unkenntlichkeit von wem auch immer zusammengeschnitten worden und so verstümmelt, dass ich den Film, als ich ihn in Kärnten im Original mit Untertiteln gesehen habe, nicht mehr erkannt habe, aber auch damals gab es eine Einführung des Verrückten, der uns Filmfreunde von der schweren Schule auf die Sprünge geholfen hat, um was für ein Meisterwerk es sich bei diesem Film handelt.
„Ja, der Verrückte, der geht hier in Paris ab, so einen wie den Verrückten würden wir hier dringend brauchen“, sagt er und bestellt noch zwei Aperol, bevor wir nach Hause gehen.
Ich bin mir sicher, dass der Verrückte weiß, wer er ist, der der keinen Namen nennen will, und ich erliege nicht der Versuchung, ihn zu fragen. Im Gegenteil, ich will mich so lange wie möglich an unsere Vereinbarung halten, dass wir keine Namen nennen werden; auch wenn ich mich sofort als Janet vorgestellt habe, wird er meinen Namen aus seinem aktiven Wortschatz streichen. Und das ist gut so, daran besteht kein Zweifel, dass es besser für uns beide ist, ich habe auch kein Verlangen mehr, ihn nach seinem Namen zu fragen, oder bei anderen Leuten, die ich noch in Paris kennenlernen werde, Erkundigungen nach seinem Namen einzuziehen. Ich bin kein Doulos; ich bin mir sicher, dass auch er kein Doulos ist.
Wir verlassen die Bar kurz vor 2 Uhr nachts, wir trennen uns grußlos. Ich gehe nach links in die Rue Jenner und direkt zu den Studios hinüber. Er geht gerade aus weiter in die regnerische Nacht hinaus, in Richtung Seine-Ufer – habe ich schon erwähnt, dass wir am linken Seine-Ufer unsere geheimnisvolle Beziehung begonnen haben?
Ich gehe online und finde einen Link, den mir der Verrückte geschickt hat: Erstens soll ich mich morgen bei den Cahiers du Cinéma vorstellen, zweitens soll ich mir das Chanson von Alain Souchon anhören, der über den „Rive gauche“ und das Leben in den Vierteln am linken Seine-Ufer in Paris singt.
Ich bedanke mich mit einer kurzen SMS bei meinem Großvater väterlicherseits und gehe noch eine Stunde durch das verregnete Paris im November; im Kopfhörer höre ich alte französische Chansons.
Um 3 Uhr morgens bin ich endlich zu Hause. Soll ich schon zu Bett gehen?
Nein, ich besuche noch einmal das Archiv und öffne den geheimnisvollen Ordner mit dem Drehbuch aus dem Jahr 1967, einem Film aus einem „Kino der Nacht“, einem Film, der fast nur im Dunkeln spielt; ich suche mir eine Frauenrolle und das passende Kleid aus dem Requisitenlager.
Ich probiere das Abendkleid, ein Kleid, das wie für mich geschnitten ist. Es ist klar, dass Selfies von mir gemacht werden müssen, Selfies, die online gestellt werden und über den Atlantik gehen, hinüber in die USA; sie zeigen eine Frau, die ein Franzose für einen französischen Gangsterfilm eingekleidet hat, der wie ein amerikanischer Film funktioniert, von einem französischen Regisseur, der wie ein Amerikaner in Paris gelebt hat.
Eine der ersten Reaktionen bekomme ich von meinem Vater. „Was stehst du in der Requisitenkammer herum, Babe? Such dir einen jungen Fotografen, und lass ein Shooting von dir machen!“
Mom schließt sich der Meinung ihres Mannes an. Natürlich gibt es auch jede Menge Neiderinnen und Neider, aber die bleiben in der Minderheit.
Ich werde als eine Femme fatale identifiziert, als eine Frau in Paris in einem Film, der ausschließlich in der Nacht spielen wird.
Um halb 5 Uhr früh gehe ich schlafen.
3. Lundi, der Anruf
Montag, 7 Uhr 30. Der Anruf aus der Redaktion der Cahiers du Cinéma reißt mich aus dem Schlaf.
„Bonjour et salut, du bist sicher die Biene, die Duane vertritt, während er den Superkapitalisten in London auf den Wecker geht“, sagt eine etwas gereizte männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Der Mann spricht Englisch mit SEHR starkem französischem Akzent.
„Oui, Janet, ich vertrete Duane für West-Film“, antworte ich ganz durch den Wind.
„Alles klar. Duane hat uns vorbereitet, dass du die Enkelin des großen Le Fou bist und dass du einiges draufhast, was die Filmgeschichte und den Journalismus betrifft. Kurz, du bist eine echte Cinéphile, und dir würde es nichts ausmachen, ein paar Pressevorführungen abzuklappern und die Kritiken online zu stellen“, sagt der Typ am anderen Ende der Leitung.
„Ja, klar. Kein Problem. Aber wie komme ich in die Vorstellungen rein?“, frage ich.
„Komm einfach bei den Cahiers du Cinéma vorbei und hol dir deinen Presseausweis ab, aber beeil dich, die erste Vorführung beginnt um 10, und gezeigt wird ein Marvel-Schinken, was Lockeres zum Aufwärmen für la fille américaine. Kurz, ein echter Dreck, bei dem du dich ärgerst bis zur Weißglut, dass du dir um 10 Uhr vormittags so einen Mist ansehen musst. Danach läuft La odisea de los giles aus Argentinien und zum Drüberstreuen Last Christmas, irgendeine Schnulze aus deiner Heimat, den Vereinigten Staaten. Der Verleih hat auch ein paar Stars nach Paris gebracht, die kannst du gleich interviewen, aber geh mit ihnen nicht zu hart ins Gericht, sonst schmeißen sie dich gleich wieder raus.“
Der Redakteur der Cahiers du Cinéma, von dem ich nicht einmal seinen Namen weiß, beendet das Gespräch.
Mère baise, ich muss sofort aus dem Bett.
Oh my God, hoffentlich schlafe ich bei dem Mammutprogramm nicht sofort ein, es wäre kein Wunder nach so einer Nacht.
Ich dusche, verzichte auf das Frühstück und eile in die Redaktion der Cahiers du Cinéma.
Ein junger Typ, Marke französischer Wichtigtuer und Cinéphiler der harten Sorte, öffnet die Tür.
„Bist du hier der Chef?“, frage ich.
„Nein.“
„Wer ist hier der Chef?“, frage ich.
„Louis.“
„Und wo ist Louis?“, frage ich.
„In seinem Büro, wo sonst?“, sagt der Cinéphile und mustert mich, wie wenn ich Fleckvieh wäre.
„Das hättest du auch gleich sagen können“, sage ich.
„Stimmt, hätte ich können, aber ich habe es nicht gesagt“, sagt der Idiot.
„Idiot. Sag mir endlich, wo das Büro des Chefs ist, bevor ich hier noch mehr Zeit verplempere“, sage ich.
„Für eine Amerikanerin sprichst du sehr gut Französisch“, sagt der Cinéphile anerkennend und mustert mich noch immer wie das Fleckvieh.
„Sag einmal, willst du mich schlachten?“, frage ich.
„Eher flachlegen, dann habe ich keine Probleme mit den Flics“, sagt der Cinéphile.
„Also so eine Unverschämtheit ist mir auch noch nicht untergekommen, und das in Paris“, mache ich mich wichtig.
„Das Büro ist geradeaus“, sagt der Cinéphile und schickt mich mit einem Klaps auf den Po weiter.
„Das ist ja unerhört. Ich werde mich beschweren“, protestiere ich.
„Mach das beim Chef. Von Louis bekommst du den Presseausweis“, sagt der Cinéphile.
„Wie ist dein Name?“, frage ich.
„Eric. Wieso?“
„Damit ich mich über dich beim Chef beschweren kann“, sage ich.
„Dʼaccord, meinen Namen wirst du dir merken müssen“, sagt der Cinéphile.
„Wieso? Eric, der größte Flegel von ganz Frankreich?“, frage ich.
„Nein, der wichtigste Jungfilmer von ganz Frankreich. Salut!“, sagt Eric und haut mir noch einen Klaps auf den Po, aber einen festen.
„Aua! Idiot!“ Ich eile zum Büro des Chefs hinüber, klopfe kurz an und trete ein.
Mein Herz stockt, der Mann von gestern, mit dem ich im Kino war, mit dem ich in den Ateliers Sex hatte, und zwar sehr guten, gibt mir den Presseausweis und tut so, als hätte er mich noch nie gesehen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich verhalten soll. Soll ich diesem Filou, der am Wochenende nichts Besseres zu tun hat, als jungen Amerikanerinnen in Paris nachzustellen, die natürlich vom Tuten und Blasen, von den Sitten und Umgangsformen in so einer verbotenen Stadt wie Paris keine Ahnung haben, eine runterhauen, aber eine feste, weil dieser Verräter die übelsten Tricks aus der Mottenkiste des alten André Bazin ausgräbt, um mich in die Falle zu locken?
Verdient hätte er sogar zwei Ohrfeigen, aber dann wäre ich meinen Job sicher sofort wieder los, noch bevor ich überhaupt eine Minute Film gesehen hätte.
Monsieur Louis sieht mich an. Was soll ich tun? Soll ich einfach auf alles pfeifen und ihm in der Redaktion der Cahiers du Cinéma eine kleben, dass es sich gewaschen hat?
Natürlich verweigere ich meine Reflexe. Ich stecke einfach den Presseausweis ein.
„Husch, husch. Bist du noch nicht weg? Die fangen auch ohne dich an“, sagt der Idiot, der sich „Louis“ nennt und der angeblich Chefredakteur der wichtigsten Filmzeitschrift Frankreichs ist und der sich erlaubt, mich mit einem kräftigen Klaps auf den Po in die Gänge zu bringen.
Oh my God, ja gibt es denn so etwas? Haben diese verrückten Franzosen noch nie etwas von der #MeToo-Bewegung gehört?
Offensichtlich nicht, denn im Foyer bekomme ich von Eric gleich noch einen hinten drauf, weil ich noch nicht weg bin.
„Na wartet, ihr französischen Imbéciles, wenn mir noch einer auf den Po haut, der fängt eine!“, schreie ich und knalle die Redaktionstür zu, dass es im ganzen Haus zu hören ist.
Ohne weitere Komplikationen mit Personen männlichen Geschlechts erreiche ich das UGC Gobelins.
Dort trauen die Presseleute von Marvel ihren Augen nicht, wen die Cahiers du Cinéma zur Pressevorführung geschickt haben, oder besser, sie können es nicht fassen, dass die Cahiers du Cinéma überhaupt jemanden zu ihrem Film geschickt haben.
Eine PR-Tussi nimmt mir meinen Presseausweis ab und tut so, als wäre ich die Tussi, die gestern Abend die Tageslosung der UGC Gobelins geklaut hat und die jetzt reumütig zurückkommt, um Sühne zu tun.
Sie bittet mich, einen Moment zu warten. Es vergehen nur ein paar Minuten, und die PR-Tussi kommt mit ihrem Boss zurück, der mich von oben bis unten mustert, als wäre ich Fleckvieh.
„Ich habe mit Louis telefoniert, und es geht okay, Sie können den Film sehen. Louis sagt, dass Sie Amerikanerin sind, ich würde mich freuen, Sie am Nachmittag bei der Pressekonferenz von Disney zu sehen“, sagt der PR-Mann und schickt mich in den Saal.
Na gut, ich nehme im vorderen Drittel des Megasaals Platz, wo ich ungestört bin, alle anderen Presseleute sitzen weit hinten. Popcorn und Softdrinks habe ich abgelehnt, was für eine Journalistin der Cahiers du Cinéma standesgemäß ist.
Normalerweise sollte ich den Film in Grund und Boden verreißen, nicht einmal wenn mir einer 10 Euro gibt, würde ich mir so einen Schund ansehen, aber ich halte mich an meinem ersten Tag noch zurück. Der zweite Film aus Argentinien, La odisea de los giles, gefällt mir schon etwas besser, er kann ohne Weiteres mit 4 Sternen rechnen, wenn nicht mit 5. Und dann kommt die Schnulze aus good old Hollywood, der einen verlogenen good old American Dream zum tausendsten Mal wiederkäut.
Okay, der Film ist gar nicht so schlecht, er ist irgendwie zum Heulen, er ist für die ganz kleinen Girlies, die mit ihren Mommies am Wochenende im Kino sind. Ob die Kiddies in Paris und ihre Mommies auch solche Filme lieben? Oder gibt es genug französische Kinderfilme, um von der US-Ware einfach abzulenken?
Frage: Welcher Film wird hier für die Jungs in der Junior High angeboten? Ist das der Marvel-Film, dessen Bilder so mächtig sind, dass jede jugendliche Fantasie plattgewalzt wird, oder ist eine romantische Komödie wie Last Christmas eine Alternative für die französischen Jungs?
Ich werde mich erkundigen müssen.
Und was ist, wenn ich für die Jungs einen von den ganz großen Filmen empfehle? Einen von Jean-Pierre Melville oder einen von Claude Berri? Der alte Mann und das Kind – wäre das nicht der ideale Vorweihnachtsfilm?
Der Verrückte wäre sicher auf meiner Seite, doch der Verrückte ist ein paar Tausend Kilometer weit von mir entfernt und im beschaulichen Kärnten, das ich des großen Filmgeschäfts wegen verlassen musste.
Last Christmas endet. Wir verlassen den Kinosaal und gehen in die Bar des Megaplex-Kinos.
Obacht: Ich bin bisher nicht eingeschlafen!
Die Filmstars sind da. Der PR-Boss begrüßt die Pressevertreter. Niemand stellt eine Frage, außer ich, und das noch im besten West-Coast-Sound.
Ein Raunen geht durch den Saal – wer ist die US-Göre, die keiner kennt und die es wagt, hier das Maul aufzureißen?
Aber die amerikanischen Darsteller freuen sich. Peinlichkeit, verlass mich nicht. West-Film hat den Film produktionstechnisch betreut, zum Glück weiß hier niemand, dass ich Duane kurzfristig vertrete.
Nach Ende der Pressekonferenz zerstreut sich die Meute der Journalisten in die umliegenden Bistros, um ihre Artikel zu den anlaufenden Filmen online zu stellen; ich nütze noch die Gelegenheit und unterhalte mich mit den US-Leuten, die total nett zu mir sind. Der PR-Boss ist sehr angetan von meiner Erscheinung und gibt mir seine Visitenkarte; ich habe natürlich keine bei mir, sage aber unvorsichtigerweise, dass ich in der Rue Jenner Nr. 13 wohne, einem offensichtlich legendären Ort für Filmleute in Paris.






