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Er verbot sich weitere Gedanken dieser Art und konzentrierte sich erneut auf seinen Atem. Bewusst in den Bauch hineinatmen, langsam wieder aus.
Es gibt hier jede Menge Sauerstoff. Du brauchst keine Angst zu haben.
Ein – aus. Ein – aus. Sein Pulsschlag kam allmählich zur Ruhe. Jonas glitt an der Wand der finsteren Kabine zu Boden und machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst.
Es gibt nichts, dass sich mit einem festen Willen nicht erreichen ließe. Heute Abend hatte er in der Andacht über dieses Thema gesprochen. Dieser Satz galt auch für seine aktuelle Situation. Er konnte gerettet werden, wenn er es wirklich wollte.
Raumkadettin Obermayer würde jetzt bestimmt für ihre Rettung beten, dachte er. Sie würde den Fantasiegott ihrer Oma anrufen und sich sicher und geborgen fühlen. Beneidenswert. Aber keine Option für ihn.
Schon das erste Jahr seines Studiums hatte ausgereicht, ihm alle Reste seines Kinderglaubens auszutreiben. Und so war es wohl auch beabsichtigt. Es sollte unbedingt verhindert werden, dass die alten, intoleranten Glaubensvorstellungen weiterlebten oder gar durch die staatlich ausgebildeten spirituellen Begleiter noch gefördert wurden.
Das Konzept war ebenso simpel wie wirksam: Die Kandidaten studierten zu Beginn ihrer Ausbildung Geschichte. Sie lernten die schrecklichen Folgen der Religion kennen, wurden mit Selbstmordattentaten und fanatischen Kriegstreibern konfrontiert, erfuhren von der heiligen Inquisition und deren Foltermethoden, von der Ausrottung ganzer Völker im Namen des jeweils einzig wahren Gottes, von der Unbarmherzigkeit, die die Aufteilung der Menschen in Kasten und der Glaube an das Karma mit sich brachten, und natürlich dem letzten Weltkrieg vor Beginn der neuen Zeitrechnung, der ein Krieg der Religionen gewesen war und die Menschheit beinahe ausgerottet hätte.
In späteren Semestern gewährte man ihnen dann Einblick in die verschiedenen »Heiligen Schriften« der Vergangenheit, die zu lesen normalerweise verboten war. Sie hatten sich zu oft als Werkzeuge spiritueller Brandstiftung erwiesen. Stattdessen gab es nun das eine »Buch der Weisheit«, in dem sich eine Blütenlese der besten Gedanken aus Religion und Philosophie fand, zusammengetragen zur Stärkung und Erbauung der Menschheit, die, wie sich herausgestellt hatte, ganz ohne Religiosität nicht auskam. Die großen Ereignisse im Leben, Geburt und Tod, Eintritt ins Erwachsenenalter und manches andere mehr schufen eine Nachfrage nach ritueller Gestaltung, was die Weltregierung zu der Einsicht geführt hatte, dass es besser sei, hier ein kontrolliertes Angebot zu schaffen, als religiösen Wildwuchs zu riskieren.
So war neben die Weltregierung die Weltkirche getreten, deren Geistliche wunderbare Rituale gestalten konnten und zugleich Sorge dafür trugen, dass friedensgefährdende religiöse Entwicklungen bereits im Keim erstickt wurden. Persönliche Gottesbilder wurden zwar als Privatsache akzeptiert, aber ihnen wurde keinerlei Forum geboten.
Paradoxerweise war es also gerade das Wissen um Glauben und Religion, das Jonas und seine Kollegen davon abhielt, gläubig zu sein.
Ein schreckliches Kreischen, wie von zerberstenden Metallteilen, lief durch das Schiff. Jonas erschauderte. Konnte die Peacemaker zerbrechen? Sie war doch der größte und mächtigste Schlachtkreuzer der ganzen Raumflotte! Eigentlich hätte sie nicht einmal getroffen werden dürfen. Wieder stieg die Panik in ihm hoch.
Doch bevor er sich weiter damit auseinandersetzen konnte, leuchtete endlich das Kabinenlicht wieder auf. Es knackte und ächzte in der Mechanik, ein anschwellendes Summen war zu hören. Als wäre nichts gewesen, setzte der Mover seine begonnene Fahrt fort.
Nach wenigen Minuten hatte Jonas das gewählte Ziel erreicht, die Tür glitt zur Seite, und er beeilte sich, hinaus auf den Flur zu gelangen. Dort herrschte Hochbetrieb. Überall Betten mit Verletzten. Blut. Stöhnen. Dazwischen wimmelte das medizinische Personal und versuchte alles Menschenmögliche, um den Verwundeten zu helfen.
»Rothenfels«, rief Oberstabsärztin Bartels, als sie ihn erblickte. »Sie melden sich in der POV!« Ihr weißer Kittel war mit Blutflecken übersät.
Bevor Jonas reagieren konnte, hatte sie sich schon wieder den Patienten zugewandt. Er hastete zu seinem Spind, streifte die vorgeschriebene Schutzkleidung über. Dann lief er den Korridor zur postoperativen Versorgung hinunter. Naturgemäß war es hier ruhiger als in der Aufnahme. Die Tür des Aufwachraums stand offen, drei Patienten lagen darin.
Im Vorzimmer saß ein braunhäutiger Sanitäter, der damit beschäftigt war, Daten auf einem Sketchboard einzugeben. Er hatte kurz geschnittene, leicht ergraute Haare. Trotz seines offensichtlichen Alters wirkte er durchtrainiert und fit. Das Namensschild auf seiner Schutzkleidung wies ihn als Samir Ahmadi aus.
»Na, da bist du ja endlich«, begrüßte er Jonas freundlich. »Wo hast du dich so lange herumgetrieben?«
»Ich hing im Aufzug fest«, brummte der. »Die Energie ging plötzlich weg.«
»Ja, wir haben einen Treffer in Sektor 10 kassiert. Die Piraten haben uns übel erwischt.«
»Wie konnte das passieren? Warum haben die Schutzschilde das nicht verhindert?«
»Keine Ahnung, ich bin Sanitäter und kein Abwehroffizier. Aber ich kann dir sagen, was hier los ist: jede Menge Brüche und Splitterverletzungen. Zwölf Soldaten werden vermisst, vermutlich hat sie der Treffer ins All hinausgesprengt. Da kommt wohl Arbeit auf dich zu.«
Jonas nickte. Eine Trauerzeremonie für die Gefallenen. Das hatten sie verdient. »Und was kann ich hier tun?«
Samir nickte mit dem Kopf in Richtung Aufwachraum.
»Nummer zwei braucht eine neue Infusion. Der daneben muss jeden Moment wach werden und wird feststellen, dass er keine Beine mehr hat. Besser, wenn er dann nicht alleine ist.«
Fünf endlose Stunden später ließ Jonas seine Schutzkleidung mit einem Seufzer der Erleichterung in den Schacht für die Wäscherei fallen. Das Elend, das er heute zu sehen bekommen hatte, machte ihm zu schaffen. Doch dafür war er schließlich spiritueller Begleiter geworden. Es tat den Menschen gut, ihn beim Erwachen zu sehen, auch wenn manche das nicht zugeben wollten und einige sogar versucht hatten, ihn mit derben Worten wegzuschicken. Er wusste ja, dass dieses Verhalten auf ihren Schock zurückzuführen war, und reagierte sehr verständnisvoll auf solche Ausbrüche. Doch jetzt fühlte er sich müde und ausgelaugt.
Auch Alister war heute Nacht gestorben – ganz friedlich im Schlaf, wie es hieß. Jonas hatte erst davon erfahren, als schon alles vorbei gewesen war.
Pflichtbewusst machte er einen Abstecher zu Alisters Kabine. Trotz seiner Erschöpfung war er neugierig, was wohl aus der Futterschüssel geworden sein mochte, die er zurückgelassen hatte. Noch immer wusste er nicht so recht, was er von dieser Buddy-Geschichte halten sollte.
Der Screen an der Kabinentür zeigte ein Foto von Alister McGregor, darunter standen Name und Dienstgrad sowie die Worte: »Wir trauern um einen treuen Kameraden«. Jonas musste schlucken.
Die Tür knackte leise, als der Sensor sein Transpondersignal erfasste. Jonas öffnete sie, und das Licht schaltete sich ein. Suchend blickte er sich um. Er war sich ganz sicher, dass er den Futternapf unter den Tisch gestellt hatte, doch dort stand er nicht mehr. Hatte hier etwa schon jemand die Kabine ausgeräumt?
Er blickte auf seinen Kommunikator – nein, um diese Zeit wohl eher nicht. Es war kurz nach ein Uhr Bordzeit. Jonas zog einen Stuhl heran und setzte sich, um zu überlegen.
Wieder kamen ihm die Bilder der schweren Verletzungen in den Sinn, denen er heute begegnet war. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. So beschloss er, erst einmal schlafen zu gehen und am nächsten Morgen wiederzukommen. Dann würde er sich um Alisters persönliche Dinge kümmern. Die Reisetasche stand noch genauso auf dem Bett, wie Jonas sie zuletzt gesehen hatte.
Gerade als er aufstehen und in seine Kabine gehen wollte, entdeckte er den vermissten Napf. Er stand unter dem Bett und war leer. Jonas hielt unwillkürlich den Atem an. Das konnte eigentlich nicht sein. Behutsam ließ er sich auf die Knie sinken und spähte in die Finsternis unter der Schlafstatt. Nichts zu sehen. Eigenartig. Allzu viele Verstecke bot die kleine Kabine nun wirklich nicht.
Er ging zum Schrank, holte die Futterschachtel heraus und schüttelte sie.
»Buddy«, rief er leise, »Buddy, Buddy, Buddy, komm, Buddy, Buddy!«
Nichts geschah. Jonas füllte den Napf auf und murmelte: »Alister ist leider gestorben, mein Freund. Von nun an werde ich mich um dich kümmern. Es würde die Sache ungemein erleichtern, wenn du jetzt herauskommen würdest.«
Doch es passierte immer noch nichts. Verwirrt ging er in seine Kabine.
Jonas hatte fest und traumlos geschlafen. Er stand auf, wusch sich und ging in die Offiziersmesse zum Frühstück. Es gehörte zu seinen Privilegien als spiritueller Begleiter des Schiffes, dass er nicht einer Messe fest zugeteilt war, sondern überall kommen und gehen durfte, wie es ihm beliebte.
Die Gesprächsfetzen, die er aufschnappte, drehten sich alle um dasselbe Thema: der hinter ihnen liegende Angriff der Piraten. Anscheinend war es ihnen gelungen, mit einer EMP-Bombe einen Teil der Schutzschilde außer Gefecht zu setzen und danach einen Torpedotreffer zu landen. Eine großartige Leistung, wenn man bedachte, dass die Peacemaker schon allein ihrer Form wegen kaum angreifbar war: Von welcher Seite man sich ihr auch näherte, immer stand man feuerbereiten Lasergeschützen gegenüber.
Am Kaffeeautomaten unterhielten sich zwei Waffenoffiziere darüber, dass die Piraten die Perseus, eines der Begleitschiffe, geentert und entführt hatten. Von den Besatzungsmitgliedern fehlte bislang jede Spur.
Während Jonas sein Brötchen aß – wie fast immer saß er allein am Tisch –, hörte er vom Nachbartisch, dass man nun mit einiger Sicherheit sagen konnte, woher die feindlichen Schiffe gekommen waren. Die Spuren ließen sich zum Planeten Kyros verfolgen, einer ehemaligen Sträflingskolonie, die gut drei Lichtjahre entfernt lag. Anscheinend verfügten die Piraten über Hyperraum-Technologie, was erklären würde, wieso sie so unerwartet auftauchen konnten.
Astrophysik war nicht Jonas’ Stärke. Er hatte Mühe, sich Dinge wie »Hyperraum« und »Raumkrümmung« vorzustellen, und behalf sich darum mit einem Vergleich, der ihm in seiner Ausbildungszeit einmal begegnet war: So wie ein U-Boot von der Wasserfläche verschwinden konnte, indem es einfach in die dritte Dimension abtauchte, so konnte auch ein Raumschiff durch die Hyperraum-Technologie von der Bildfläche verschwinden und an einer anderen Stelle wieder auftauchen, indem es die Dimensionen wechselte. Nutzte es dazu noch die Raumkrümmung, so konnte es ungeheure Distanzen in kürzester Zeit überwinden.
Bisher gab es in der Raumflotte allerdings keine Schiffe, die dazu aus eigener Kraft in der Lage waren. Die erforderliche Energie war zu groß, um sie auf einem Schiff zu erzeugen, und die Raumkrümmung zu schwierig zu berechnen, sodass eine exakte Navigation praktisch unmöglich war. Es bestand immer die Gefahr, sich beim Wiedereintritt in den euklidischen Raum in unliebsamer Nähe zu einer Sonne oder einem schwarzen Loch wiederzufinden.
Daher nutzte man Hypergate-Portale. Man durchflog sie einfach, und sie beförderten das Schiff in kürzester Zeit und mit großer Zuverlässigkeit zu dem jeweiligen Gegenpart, der an einem anderen, Lichtjahre entfernten Ort im All schwebte. Jonas stellte sich diese Einrichtung ähnlich wie den Mover auf der Peacemaker mit seinen unterschiedlichen Türen in den verschiedenen Sektoren vor, auch wenn er wusste, dass er damit eine gewaltige Errungenschaft auf einen lächerlich kleinen Nenner brachte.
Die Hyperraum-Technologie war der Schlüssel zur Eroberung des Alls, und die Peacemaker spielte eine wichtige Rolle dabei. Sie sicherte eines dieser Portale, durch das regelmäßig Frachtschiffe voller Erz und seltener Erden ins heimische Sonnensystem flogen, um auf dem ausgeplünderten Heimatplaneten weiteres Wirtschaftswachstum zu ermöglichen.
Nach dem Frühstück kehrte Jonas in seine Kabine zurück und begann, erste Ideen für die bevorstehende Trauerfeier zu sammeln. Das würde ein großes Ereignis werden, bei dem fast die ganze Mannschaft versammelt war.
Plötzlich signalisierte seine Kabinentür einen Besucher.
»Herein!«, rief er. Die Tür glitt auf. Ein Maat mit nervösem Lächeln stand davor; sein Namensschild wies ihn als Jalmar Varind aus. Jonas erinnerte sich dunkel, dass er neben Maat Lennox gesessen hatte, als von ihm diese Bemerkungen über die Raumkadettin gekommen waren.
«Bitte, kommen Sie doch herein!«, sagte er und deutete auf die zwei Sessel in seiner Kabine. Ein Luxus, der sonst nur höheren Offizieren zustand und seiner Funktion als spiritueller Begleiter geschuldet war.
Jalmar trat ein, sah sich nervös um. Er wirkte angespannt, als sei er auf der Flucht.
»Wenn du jemandem erzählst, dass ich hier war, wirst du es bereuen!«, knurrte er.
Nette Begrüßung, dachte Jonas und sagte: »Keine Sorge, das fällt unter meine Schweigepflicht. Setzen wir uns doch. Schluck Wasser?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, stellte Jonas zwei Gläser auf den Tisch und füllte sie aus einer Glaskaraffe.
Jalmar setzte sich auf die Vorderkante des Sessels. Nervös knetete er seine Hände, bis die Knöchel weiß wurden.
Jonas nahm ebenfalls Platz, trank einen Schluck und wartete geduldig.
»Es ist wegen der Prüfung morgen«, sagte Jalmar schließlich. »Ist vielleicht blöd jetzt, weil alle so fertig sind von dem Angriff und so. Aber zweimal bin ich schon durchgefallen. Wenn ich die ein drittes Mal in den Sand setze, kann ich die Beförderung vergessen.«
»Du bist aufgeregt.«
»Ja, und wie!«
»Hast du genug gelernt?«
»Ich denke schon. Ich habe den Stoff bestimmt schon fünf Mal wiederholt. Aber wenn ich in der Prüfung bin, ist mein Kopf plötzlich komplett leer. Dann stottere ich rum wie der letzte Idiot.«
»Es gibt aber auch Prüfungen, die du gut bestanden hast.«
»Klar, sonst wäre ich nicht hier.« Seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. »Die schriftlichen Prüfungen fallen mir nicht ganz so schwer wie die mündlichen. Aber Schiss habe ich davor auch.«
Er stockte und lächelte verlegen.
»Im wahrsten Sinne des Wortes«, fuhr er fort. »Wenn mir eine Prüfung bevorsteht, kann ich kaum noch was essen und hocke ständig auf dem Klo. Durchfall vom Feinsten.«
»Entschuldigung«, fügte er hinzu. »So genau wolltest du das wohl gar nicht wissen.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Jonas. »Dein ganzer Körper ist in Aufruhr, wenn es auf eine Prüfung zugeht. Das ist nichts Außergewöhnliches. Du sendest ihm starke Gefahrensignale, und er denkt, dass ihm jemand an den Kragen will.«
»Aber was kann ich tun?«
»Sprich mit deinem Darm. Sag ihm, dass keine Gefahr droht und alles in Ordnung ist.«
»Du willst mich verarschen.«
»Nein. Leg deine Hand auf deinen Bauch.« Jonas machte es vor. Zögernd tat Jalmar es ihm nach.
»Knete ihn ein bisschen, als wäre er ein verängstigtes Tier. Und dann versichere ihm, dass keine Gefahr droht.«
Jalmar machte ein paar ungeschickte Bewegungen, dann grinste er. »Du bist vielleicht ein komischer Vogel«, sagte er. »Aber es scheint zu helfen.«
Nach einer Weile fügte er hinzu: »Eigentlich habe ich gedacht, dass du mir einen Segen für die Prüfung gibst oder so was.«
»Oh, wenn du willst, kann ich das gerne auch noch tun.«
«Ja, bitte.«
Jonas tippte auf seinen Kommunikator, und das Sonnensymbol erschien an der Kabinenwand. Zugleich wurde das Licht gedimmt, sodass eine feierliche Stimmung entstand. Er stand auf, stellte sich hinter seinen Besucher. Dann legte er ihm eine Hand auf den Kopf und las die Worte von seinem Kommunikator ab:
»Mögen gute Mächte dich begleiten, die Kräfte des Universums an deiner Seite sein. Die Sterne, aus deren Schoß auch dein Leben kam, mögen dir deinen Weg zeigen und dir helfen, das Potenzial, das in dir schlummert, zur Entfaltung zu bringen – zu deinem Nutzen und zum Nutzen aller. So sei es, so geschehe es, so ist es.«
Jonas verstärkte einmal kurz den Druck seiner Hand, um den Worten körperlichen Nachdruck zu verleihen, dann packte er Jalmar an der Schulter.
»Diesmal wird deine Prüfung gelingen«, sagte er mit fester Stimme. »Du kannst Vertrauen haben.«
Er ließ seinen Besucher los und dimmte das Kabinenlicht wieder heller. Das Sonnensymbol verblieb an der Wand.
»Danke«, sagte Jalmar. »Du hast mir sehr geholfen.«
»Das freut mich«, antwortete Jonas. »Dafür bin ich ja da.«
Nachdem Jalmar gegangen war, wandte sich Jonas erneut seiner Vorbereitung der Trauerfeier zu. Er tat sich diesmal schwer damit. Der Tod von Alister machte ihm zu schaffen. Der Leutnant war so etwas wie ein Freund für ihn gewesen – einer der wenigen, die er hatte, denn er fühlte sich verpflichtet, auf dem Schiff eine professionelle Distanz zu den Besatzungsmitgliedern einzuhalten. Er verstand sich als eine Art Gegenüber zu ihnen, und das konnte er nicht sein, wenn die Nähe zu groß wurde.
Alister war eine Ausnahme. Sie waren sich schon Jahre zuvor in einer der Kneipen über den Weg gelaufen, in der die Raumkadetten den Frust ihrer Theorieprüfungen hinunterzuspülen pflegten. Er hatte sich als ein ausgezeichneter Kenner der keltischen Kultur und Geschichte gezeigt, zudem als ein angenehmer Gesprächspartner, mit dem Jonas halbe Nächte hindurch diskutieren konnte. Dann hatten sie sich einige Jahre lang aus den Augen verloren, bis sie sich schließlich an Bord der Peacemaker wiederbegegnet waren. Und nun musste er eine Trauerfeier für den alten Gefährten vorbereiten und, für die Gefallenen der Piratenangriffe gleich mit.
Jonas griff sich sein Sketchboard und machte sich auf den Weg zu Alisters Kabine. Vielleicht würde sich der Wombat hervorwagen, wenn er etwas länger dortblieb. Als er die Tür öffnete, fand er den Futternapf abermals leer. Er füllte ihn auf, setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben.
Wir sind Sternenstaub und geben am Ende unseres Lebens unsere Energie wieder an das Universum zurück. Nichts geht verloren. Wir sind Teil des großen kosmischen Kreislaufs. Die Erinnerungen aber, die wir bei den Menschen hinterlassen, denen wir etwas bedeuten …
Ein leises Kratzen ließ ihn innehalten. Er blickte zum Bett hinüber, unter dem zwei Knopfaugen ihn wachsam ansahen.
»Hallo, Buddy, ich bin Jonas und sorge jetzt für dich. Du kannst ruhig herauskommen.« Er sprach mit betont unaufgeregter Stimme.
Zögerlich schob sich ein pelziges Wesen unter dem Bett hervor, legte den Kopf etwas schief, was wie eine Frage wirkte, hielt kurz inne, dann tappte es zum Napf, wo es sich geräuschvoll über das Körnerfutter hermachte. Jonas saß ganz ruhig da und widerstand dem Impuls, das Tier zu berühren. Es sah tatsächlich aus wie ein zu klein geratener Bär, war vielleicht 80 cm lang. Und mindestens 20 kg schwer. Sein Fell war hellgrau und sah etwas struppig aus.
Als der Wombat die Schale leer gefressen hatte, blinzelte er Jonas mit seinen schwarzen Augen an, gähnte herzhaft und verschwand wieder unter dem Bett.
»Na immerhin ein Anfang«, murmelte Jonas, stand auf und kniete sich vor dem Bett nieder, um darunterzuschauen. Aber das Tier war spurlos verschwunden.
»Entschuldige, Alister, dass ich an deinen Worten gezweifelt habe«, sagte Jonas zu der Reisetasche, die noch immer auf dem Bett stand. Dann nahm er sein Sketchboard und ging.
Jonas bestieg den Mover und fuhr zum Observatorium in Sektor sechs. Hier war nur selten Betrieb, darum kam er oft hierher, wenn er etwas Stille brauchte. Die Schirme zeigten astronomische Objekte in atemberaubender Vergrößerung. Manchmal saß er stundenlang hier, um sie zu zeichnen. Vor allem am Orionnebel konnte Jonas sich kaum sattsehen. Die Farben und Strukturen, die immer neue Details preisgaben, je länger man sie betrachtete, erfüllten ihn durch ihre Schönheit und Größe mit Bewunderung und Staunen. Hier fühlte er sich dem Herzen des Universums besonders nahe.
Als er den Raum betrat, stellte er fest, dass er nicht alleine war. Im gedämpften Licht der Monitore erkannte er Raumkadettin Stella Obermayer. Sie saß an einem der Tische, ihren Kopf in die Hände gestützt. Von Zeit zu Zeit ging ein Zittern durch ihren Körper. Jonas ging zu ihr und legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. Sie wandte den Kopf, sah ihn an. Ihre Augen waren nass und rot.
»Wir waren zusammen auf der Akademie«, schluchzte sie, »Eirin und ich haben zur gleichen Zeit unser Examen gemacht, wir waren beide auf der Chairon und sind dann auf die Peacemaker gekommen. Sie hat gestern mit mir den Dienst getauscht, weil es mir nicht so gut ging, und jetzt ist sie tot. Eigentlich hätte ich in Sektor zehn sein sollen. Es ist meine Schuld!«
Sie stieß ein lang gezogenes Heulen aus. Dann stand sie auf und hängte sich Jonas um den Hals. Er musste alle Kraft zusammennehmen, um von der beleibten Frau nicht zu Boden gezogen zu werden.
»Halt mich fest«, flüsterte sie. Jonas nahm sie in die Arme. Als er ihre Wärme und ihre Weichheit spürte, lief ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Sie roch leicht nach einem blumigen Parfüm. Dann küsste sie ihn. Er wehrte sich nicht, im Gegenteil, er erwiderte ihren Kuss, ließ seine Zunge in ihren Mund wandern. Das Blut rauschte in seinen Ohren.
Gierig legte er seine Hände auf ihre üppigen Brüste. Es war wie im Traum. Von Weitem hörte er ihre Stimme. Sie rief etwas, das er nicht verstand. Er achtete nicht weiter darauf und machte sich ungeschickt daran, ihre Uniform aufzuknöpfen.
Eine Ohrfeige brachte ihn wieder zur Besinnung.
»Ich habe Nein gesagt«, fauchte Stella ihn an. »Was fällt Ihnen ein! Ich brauchte Nähe und Trost und Sie …«
Jonas war erschüttert. Ihm fehlten die Worte. Er versuchte, etwas wie eine Entschuldigung zu stammeln, aber Stella wandte sich von ihm ab und begann ihre Uniform zu richten.
»Sie haben mir einen Knopf abgerissen«, jammerte sie. »Wie konnten Sie mir das antun!«
»Stella, bitte, ich weiß auch nicht, was mit mir los war, es tut mir leid …«
»Pah! Und ich habe Ihnen vertraut. Ich dachte, sie wären anders als andere Männer!«
Dann stapfte sie hinaus. Jonas starrte ihr fassungslos hinterher.
*****
Der kleine Wachraum von Evinin war vollgestopft mit Monitoren und elektronischen Geräten aller Art, die einen seltsam zusammengesetzten Eindruck machten. Tatsächlich stammten sie aus unterschiedlichen Raubzügen und Eroberungen.
Tarek, der junge Wachhabende, lümmelte sich in einem bequemen Kommandosessel, der einst dem Kapitän der Aurora gehört hatte, und spielte 3-D-Tetris. Er war kurz davor, einen neuen persönlichen Highscore zu erreichen, und versuchte konzentriert, die merkwürdig geformten Steine unterzubringen, die ihm seit dem letzten Level entgegenpurzelten. Ein Seitenblick auf den Monitor der Raumüberwachung ließ ihn zusammenzucken. Er zeigte Aktivität im Hypergate an. Prompt fielen zwei Steine an eine ungünstige Stelle, und das Spiel war vorüber. Tarek fluchte leise, dann wandte er sich den anderen Anzeigen zu.
Das Gate meldete den Durchflug von vier Schiffen – was ein Problem darstellte, weil von ihrer Flotte nur drei Schiffe unterwegs waren. Nähere Informationen konnte er erst in einigen Minuten erwarten, wenn sich das Gate sich wieder geschlossen hatte.
Tarek ließ seine Hand unschlüssig über dem Alarmknopf schweben. Bei einem Fehlalarm musste er mit Bestrafung rechnen, ebenso wenn er seine Beobachtung zu spät weitergab.
Seine Finger trommelten nervös auf der Tischplatte. Das Hypergate war gut 50 Millionen Kilometer entfernt – selbst die schnellsten Schiffe brauchten für diese Entfernung mindestens 30 Minuten. Zeit genug für die Alarmstaffel. Er brauchte Fakten, bevor er seinen Kopf riskierte.
Mit einer schnellen Geste schloss er das Tetrisspiel und räumte die Reste seines Imbisses zusammen, für den Fall, dass ein Vorgesetzter hier auftauchte. Tarek verspürte wenig Lust auf Knüppelschläge.
Da endlich tat sich etwas auf einem der Monitore. Vier schmale Rechtecke erschienen, eines etwas länger als die anderen. Tarek ertappte sich dabei, wie er versuchte, sie im Geist übereinanderzustapeln. Er tippte auf den Screen, um weitere Informationen abzurufen, aber produzierte damit lediglich eine kleine Infobox »Data not available«.