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Seufzend lehnte er sich in seinen Sessel zurück und starrte die Anzeigen an. Ungeduld brachte ihn nicht weiter. Sobald die Sensoren die Schiffe analysiert hatten, würden sie es melden. Er konnte nur hoffen, dass er es hier nicht mit einem Vergeltungsschlag der Union zu tun hatte. Sie hatten lange Glück gehabt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Raumflotte ihren Schlupfwinkel finden und angreifen würde.
Das Funkgerät erwachte zum Leben. »… Xator Seifuko … schwerer Kreuzer …«
Die Durchsage war nicht zu verstehen. Vermutlich war das Gate noch offen gewesen, als der Spruch abgesetzt worden war, und hatte den Funkverkehr gestört. Tarek langte nach der Sendetaste, aber ließ seine Hand wieder sinken, als ihm einfiel, dass es gut drei Minuten dauern würde, bis seine Signale das Schiff erreichen konnten.
Auf dem Monitor öffnete sich ein Fenster mit Daten.
Schwerer Kreuzer ›Perseus‹, Kennung: U-SK-4302. Kommandant: unbekannt
Wieder zuckte seine Hand zum Alarmknopf. Die Kennung verriet ein Schiff der Raumflotte.
Kreuzer ›Qorxu‹, Kennung: Kom-K 2301. Kommandant: Xator Seifuko
Zerstörer ›Amir‹, Kennung: Kom-Z 1801. Kommandant: Hakan Celik
Zerstörer ›Ridvan‹, Kennung: Kom-Z 1802. Kommandant: Faris Alijev
Was war hier los? Wurden ihre Schiffe verfolgt? Wenigstens bestand keine unmittelbare Gefahr für den Planeten. Mit einem einzelnen schweren Kreuzer sollten ihre Abfangjäger schon fertigwerden.
Das Funkgerät knackte und gab ein kratzendes Geräusch von sich, dann stabilisierte sich das Signal. Xators Stimme klang durch den Raum.
»Ich wiederhole. Hier spricht Xator Seifuko. Wir haben einen schweren Kreuzer der Union erbeutet. Es besteht keine Gefahr. Wir sind auf dem Weg nach Liman.«
Tarek jubelte. Er drückte die Sprechtaste. »Hier Kyros Control. Wir haben verstanden. Meinen Glückwunsch, Herr Kommandant!«
Jetzt hielt ihn nichts mehr davon ab, zum Khan zu laufen. Gute Nachrichten überbrachte er gern.
*****
In dieser Nacht schlief er sehr unruhig. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, schließlich hörte er jemanden seinen Namen rufen.
Jonas! Jonas!
Die Stimme erschien ihm so realistisch, dass er hochfuhr, das Licht einschaltete und sich suchend umsah. Natürlich war niemand zu sehen.
Du hast bloß geträumt, sagte er sich, aber dennoch wollte das unbehagliche Gefühl nicht weichen. Seufzend löschte er das Licht, schloss die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch jetzt begannen die Gedanken in seinem Kopf zu kreisen.
Was würde auf ihn zukommen?
Wartete ein Disziplinarverfahren auf ihn?
Verdammt, wie hatte er sich nur so gehen lassen können! Selbst wenn Stella einverstanden gewesen wäre, hätte er sich ihr niemals in dieser Weise nähern dürfen. Das war ein klarer Verstoß gegen die Dienstvorschriften. Als Seelsorger war für ihn jede erotische Nähe zu Ratsuchenden absolut tabu. Wenn es ganz dumm lief, konnte dies den Abschied von der Peacemaker bedeuten, das Ende seines Lebenstraumes, das Ende seiner Karriere. Eine unehrenhafte Entlassung wegen sexueller Belästigung. Die Kommandantin verstand keinen Spaß an diesem Punkt. Er schlug die Hände vors Gesicht; so fest, dass es wehtat.
Jonas!
Wieder rief jemand seinen Namen, obwohl er diesmal ganz sicher war, nicht zu träumen.
Jonas?
Er hörte es ganz deutlich, aber nicht mit den Ohren – es kam ihm eher so vor, als spräche die Stimme direkt in seinem Kopf. War er dabei, durchzudrehen?
Jonas, ich weiß, dass du mich hören kannst!
Er verspürte den Impuls, schreiend davonzulaufen, beherrschte sich aber und vergrub sich stattdessen unter seinem Kissen. Er presste die Hände auf die Ohren, summte vor sich hin, irgendeine improvisierte Melodie, ganz egal, nur keine Stille, nur diese Stimme nicht mehr hören müssen.
Nach einer ganzen Weile, in der nichts Aufregendes passiert war, entspannte er sich allmählich. Er legte sich wieder auf den Rücken und lauschte.
Nichts. Er vernahm nur ein leichtes Rauschen in seinen Ohren und ein fernes Summen der gewaltigen Antriebsaggregate der Peacemaker.
Schließlich hielt er die Spannung nicht mehr aus.
»Wer bist du, und was willst du?«, fragte er in die Dunkelheit hinein, obwohl er sich albern dabei vorkam. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Erkennst du, dass Schuld mehr ist als ein veraltetes Konzept?
Jonas durchflutete es heiß und kalt. Das war das Thema seiner vorletzten Andacht gewesen: Es gäbe keine Schuld im althergebrachten Sinne, es gäbe nur Lernprozesse und damit verbundene Fehler, die nötig seien, um sich weiterzuentwickeln. Er war recht stolz gewesen auf diese Rede. In seiner aktuellen Lage kam sie ihm jedoch plötzlich ziemlich hohl vor.
»Was willst du mir damit sagen? Wer bist du?« – Seine eigene Stimme klang merkwürdig fremd. Er horchte minutenlang in die Stille seiner Kabine hinein, doch die Antwort blieb aus.
Unruhig setzte Jonas sich auf die Bettkante. Was geschah hier mit ihm?
Es müssen meine Schuldgefühle sein, die sich zu Wort melden, dachte er. Ich muss was dagegen unternehmen, muss mit Stella sprechen, ihr erklären, wie alles gekommen ist. Ihr sagen, dass es mir leidtut. Gleich morgen früh.
Er griff nach seinem Sketchboard. Als es die Bewegung registrierte, glomm es sanft auf, der Dunkelheit der Kabine angepasst. Jonas wischte über die Oberkante und aktivierte die Mannschaftsdatenbank, auf die er als spiritueller Begleiter Zugriff hatte. Er rief den Datensatz von Stella Obermayer auf. Sektor 9, Deck 8, Kabine B 42.
Das passte. Die Messe, in der sie ihn angesprochen hatte, lag auch im Sektor 9. Er beschloss, am Morgen dort zu frühstücken. Vielleicht würden sie sich zufällig über den Weg laufen.
Er gähnte, doch er spürte, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. So rief er die Fachbibliothek auf und las Artikel über Psychosen und das Hören von Stimmen, bis das Signal zum Wecken ertönte.
Sein erster Weg an diesem Morgen führte ihn in Alisters Kabine. Buddy saß mitten im Raum und sah ihn erwartungsvoll an.
»Na, das ist aber fein, dass du mit dem Versteckspiel aufgehört hast«, sagte Jonas mit Kinderstimme. »Komm her, ich gebe dir ein feines Fresschen!«
Buddy blieb sitzen. Aufmerksam beobachtete er jede Bewegung. Jonas blickte in seine Augen, und plötzlich überkam ihn das eigenartige Gefühl, ein uraltes, weises Wesen vor sich zu haben. Diese putzigen Knopfaugen schienen Dinge gesehen zu haben, die jenseits aller Vorstellungen lagen.
Jonas besann sich auf seine Fachartikel und schüttelte sich.
»Entschuldigung«, sagte er zu Buddy, »jetzt projiziere ich meine Unterlegenheitsgefühle sogar schon auf dich.«
Mit einem großen Schritt stieg er über den Wombat hinüber, der nach wie vor bewegungslos in der Mitte des Raumes saß und anscheinend beschlossen hatte, sich für den Rest des Tages nicht mehr zu bewegen. Jonas nahm den Napf, leerte den verbliebenen Inhalt der Futterschachtel hinein, dann stellte er ihn wieder auf den Fußboden.
»Guten Appetit«, sagte er und strich dem Tier freundlich über den Rücken. Es fühlte sich so struppig an, wie es aussah.
»Ich gehe jetzt wieder. Ich muss gleich noch jemanden in der Messe treffen.«
Jonas zuckte zusammen. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als hätte der Wombat energisch seinen Kopf geschüttelt.
Er ist nur ein Tier, rief er sich zur Ordnung. Wahrscheinlich hat es ihn gejuckt oder so.
Dennoch verließ er die Kabine mit einem unguten Gefühl.
*****
»Mein Khan.« Ehrerbietig verbeugte sich der junge, dünne Mann, so gut es ihm mit seinem Gehstock möglich war. Dabei rutschte ihm beinahe die Brille von der Nase, was er im letzten Moment verhindern konnte.
»Was gibt es, Raschad? Die Schiffe werden bald hier sein.« Der großgewachsene, breitschultrige Anführer, in dessen dichtem schwarzem Haar sich allmählich die ersten Silberstreifen zeigten, war gerade damit beschäftigt, seine Paradeuniform zu richten.
»Ich habe es gehört und möchte Euch zu dem großartigen Erfolg Eures Sohnes beglückwünschen.«
»Ja, ja.« Der Khan wedelte ungeduldig mit der Hand. »Komm zur Sache.«
»Können wir uns einen Augenblick setzen? Ich möchte Euch gern etwas zeigen.« Raschad glühte sichtbar vor Begeisterung.
»Meinetwegen.« Bakur schloss mit einiger Mühe den obersten Kragenknopf, der von seinem schwarzen Bart überragt wurde, und deutete auf den kleinen Besprechungstisch. Der junge Mann platzierte sein Sketchboard darauf. Ein kurzer Wisch ließ eine komplizierte Grafik in die Luft steigen.
Der Khan legte die Stirn in Falten und betrachtete das Gewirr aus verschiedenfarbigen Linien. Raschad schwieg respektvoll. Nervös fuhr er sich über sein glatt rasiertes Kinn. Er wusste aus schmerzhafter Erfahrung, dass der Anführer sich von voreiligen Erklärungen in seiner Intelligenz beleidigt fühlte und sich dann mit Ohrfeigen Ruhe zu verschaffen pflegte.
»Eine Wirtschaftsprognose?«, fragte der schließlich.
»Ganz recht, mein Khan. Wie ihr sicherlich gleich erkannt habt, geht es um die Abhängigkeit der Komanda von der Wirtschaftsleistung der Kolonie. Abgesehen von den Tributlieferungen ist sie ein wichtiger Handelspartner – genau genommen unser einziger –, sodass unsere wirtschaftlichen Schicksale miteinander verknüpft sind …«
»Komm zur Sache, Raschad, und erzähl mir nichts, was ich schon weiß. Was willst du?«
»Eine engere Beziehung zur Kolonie. Wenn wir enger zusammenarbeiten würden, sozusagen auf Augenhöhe …«
»Vergiss es. Diese Wilden haben uns Tribut zu zahlen und fertig. Ich wünsche keine Beziehung, die darüber hinausgeht.«
»Aber …«
In den schwarzen Augen blitzte es bedrohlich. Raschad schluckte den Rest seiner Bemerkung eilig herunter.
»Ganz wie Ihr meint, mein Khan. Danke für Eure Zeit.«
Mit einer Handbewegung beendete er die Präsentation, nahm sein Sketchboard und den Gehstock an sich und schlurfte aus dem Raum.
*****
Als Jonas die Messe in Sektor 9 betrat, schienen schlagartig alle Gespräche zu verstummen. Er blickte in ein Meer von ablehnenden Gesichtern – oder bildete er sich das nur ein? Verdammt, er wusste nicht mehr, wie weit er seinen Wahrnehmungen noch trauen konnte. Seine Schuldgefühle spielten ihm einen Streich nach dem anderen. Hatte dahinten wirklich jemand so etwas gesagt wie: »Was will der denn hier?«
Jonas ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Etwa zwei Drittel der Tische waren besetzt, aber Stella war nicht hier. Er ging an den Tresen, zapfte einen Cappuccino am Kaffeeautomaten und setzte sich an einen der leeren Tische. Während er an seinem Becher nippte, spürte er, wie seine Spannung ein wenig nachließ. Es war früh am Morgen, 5:30 Uhr Bordzeit, die Menschen waren um diese Zeit einfach noch nicht so gesprächig. Und falls er richtig gehört haben sollte, konnte die Bemerkung auch einfach damit zu tun haben, dass er erst vorgestern hier zu Abend gegessen hatte. Normalerweise schaute er höchstens einmal in der Woche in jeder Messe vorbei.
Er holte sich einen weiteren Cappuccino und ein belegtes Brötchen. Die ganze Zeit über behielt er die Tür im Blick, doch Stella tauchte nicht auf. Vielleicht hatte sie Spätschicht oder dienstfrei.
Allmählich leerte sich der Saal, gleich war auf den meisten Stationen Dienstbeginn. Jonas beschloss, Stella in ihrer Kabine zu besuchen. Er stellte sein Geschirr weg, bestieg den Mover und fuhr zum Deck 8 hinunter, wo die Mannschaftsquartiere lagen.
Die Etage war in Lindgrün gehalten. Jonas bog in den B-Gang ab und ging an den verschlossenen Kabinentüren vorbei, bis er Nummer 42 erreichte.
»Raumkadettin Stella Obermayer« zeigte das Display an der Tür. Jonas klopfte, doch alles blieb ruhig. Anscheinend war Stella nicht da. Er beschloss, zu seiner Kabine zurückzukehren und weiter an der Rede für die Trauerfeier zu arbeiten. Es hatte wohl keinen Zweck, hier länger rumzustehen.
Als er sich zum Gehen wandte, kamen ihm drei Soldaten entgegen – einen davon erkannte er. Es war Maat Dave Lennox.
»Hey, Seelenklempner, läufst du der Kleinen jetzt schon bis in ihre Kabine nach?«, dröhnte er. Mit einer schnellen Bewegung packte er Jonas am Kragen und drückte ihn gegen die Wand.
»Hör mal, ich sage es dir nur einmal«, sagte er. Er kam mit seinem Kopf so dicht heran, dass sich ihre Stirnen fast berührten und Jonas nicht umhinkonnte, den unangenehmen Atem seines Angreifers zu riechen. »Lass deine Finger von Stella, oder es wird dir leidtun.«
Er hob seine Linke und wollte Jonas einen Fausthieb verpassen, doch der riss seinen Arm hoch und fing den Schlag ab. Lennox sah ihn überrascht an.
»Lass uns doch erst mal über die Sache reden«, sagte Jonas. »Das hier bringt doch nichts. Ich will gar nichts von Stella, ich wollte nur etwas mit ihr klären.«
Der Griff an seinem Kragen lockerte sich.
»Ich verstehe ja, dass du sie magst, und ich will dir da auch gar nicht in die Quere kommen«, fuhr Jonas fort, wobei er sich um eine beruhigende Stimmlage bemühte – etwa so, wie er mit einem wütenden Schäferhund gesprochen hätte. »Wirklich nicht.«
Lennox ließ ihn los und warf seinen Gefährten einen verunsicherten Blick zu. Einer machte eine auffordernde Bewegung mit dem Kopf.
»Nur für den Fall, dass du es vergessen solltest«, sagte der Maat und schlug ein weiteres Mal nach Jonas’ Gesicht; diesmal mit rechts. Jonas fing den Schlag erneut ab und setzte zum Gegenangriff an. Im letzten Moment drehte Lennox den Kopf beiseite, sodass die Faust ihn nur leicht streifte.
»Ihr habt gesehen, dass er mich angegriffen hat!«, sagte er zu seinen Begleitern. Dann ging er auf Jonas los. Der packte die Hände seines Angreifers und hielt sie mit aller Kraft fest.
»Hört auf damit«, presste er zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Lennox war stark. »Wir kommen beide vor die Innere, wenn wir uns hier prügeln.«
»Wir prügeln uns doch gar nicht«, lachte der Maat. »Ich bin gar nicht hier. Meine Freunde werden das bezeugen.« Er knallte seine Stirn gegen Jonas’ Nasenbein, dann rammte er ihm das Knie in den Unterleib. Keuchend ging der spirituelle Begleiter der Peacemaker zu Boden, wo er sich wimmernd krümmte. Der Schmerz war unbeschreiblich.
»Wir sehen uns, Seelenklempner«, sagte Lennox und trat ihm zum Abschied in die Rippen. »Und vergiss nicht, hier stehen drei Aussagen gegen eine.«
Nachdem sie gegangen waren, ließ Jonas seinen Tränen freien Lauf. Er weinte vor Schmerz und Scham und Wut und Enttäuschung darüber, nach allem, was er für die Menschen hier an Bord getan hatte, nun so behandelt zu werden.
Glücklicherweise blieb es in dem Flur ruhig. Niemand kam vorbei, der ihn so hätte sehen können. Irgendwann rappelte sich Jonas auf und humpelte zum Mover, der ihn zurück zu seiner Kabine brachte. Dort legte er sich aufs Bett und schlief bald ein. Die wenigen Stunden Schlaf der vergangenen Nacht zeigten ihre Auswirkungen.
Wieder weckte ihn eine Stimme.
Jonas! Jonas!
»Ja, was ist?« Schlaftrunken versuchte Jonas herauszufinden, ob er noch träumte oder ob dies die Wirklichkeit war. Seine schmerzenden Rippen und das Pochen im Nasenbein gaben ihm eine unmissverständliche Antwort.
Bevor er sich dagegen wappnen konnte, fuhr die Stimme fort: Ich möchte, dass du etwas für mich tust. Du musst dieses Schiff verlassen und eine Botschaft für mich ausrichten.
Jonas fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen, und er würde, hilflos mit den Armen rudernd, ins Nichts stürzen. Das hier war sein Leben. Hier wurde er gebraucht. Es war ganz und gar undenkbar, von der Peacemaker zu gehen, um irgendwelchen Einflüsterungen zu folgen. Andererseits wusste er aber auch nicht, wie er dieser Stimme entkommen konnte. Vermutlich sollte er professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, doch das würde mit Sicherheit den Abschied von seinem Dienst zur Folge haben.
»Wer bist du?«, fragte er ängstlich. »Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«
Du weißt, wer ich bin.
Ach wirklich?, dachte Jonas. Wenn es so wäre, hätte ich ja wohl kaum diese Scheißangst, durchzudrehen. Ob die Stimme auch meine Gedanken lesen kann? Das kann sie bestimmt, schließlich kommt sie aus den Tiefen meiner Psyche. Vielleicht hilft sachliches Argumentieren.
Laut sagte er: »Aber ich kann dieses Schiff nicht verlassen. Jetzt nicht. Ich habe eine große Trauerfeier auszurichten!«
Womöglich bist du nicht so wichtig, wie du glaubst?
Jonas war überrascht und empört zugleich. Verzweifelt suchte er nach Worten der Entgegnung, doch ihm wollte einfach kein passendes Argument einfallen.
Stunden später schreckte er hoch, als er das leise »Pling!« seines Kommunikators hörte. Er wischte sich die Augen und las: Mitteilung der Kapitänin: Trauerfeier für die gefallenen Kameraden morgen 11:00 Uhr in der Sportarena Sektor 7.
Ungläubig starrte er das Display an. Diese Veranstaltung fiel in seinen Verantwortungsbereich. Er hatte zwar bereits mit den Vorbereitungen dafür begonnen, war aber noch längst nicht fertig. Wie konnte es sein, dass der Termin mit ihm nicht vorher abgesprochen worden war?
Er aktivierte den Kommunikator, ließ ihn eine Verbindung zur Brücke herstellen. Nach dem dritten Klingelton meldete sich eine jugendliche Stimme.
»Walters.«
»Hier ist Jonas Rothenfels. Ich möchte gerne mit Kapitänin Fairchild sprechen.«
»Die Kommandantin ist zurzeit beschäftigt. Ich bin ihr persönlicher Referent. Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Eben erhielt ich die Nachricht, dass morgen eine Trauerfeier für die gefallenen Kameraden stattfinden soll.«
»Um elf Uhr in der Arena. Das ist richtig.«
»Aber wieso bin ich als der zuständige spirituelle Begleiter darüber nicht informiert worden?«
»Weil die Kapitänin die Ansprache selbst halten wird.«
Jonas überlief ein Schauer. Wieder fühlte er sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
»Nun, das ist natürlich ihr gutes Recht, aber trotzdem hätte ich erwartet, dass sie sich vorher mit mir abstimmt.«
»Unsere Kommandantin hat nach dem Angriff der Piraten jede Menge zu tun. Unter uns gesagt, würde ich sie in dieser Angelegenheit nicht weiter behelligen.« Die Stimme des Referenten bekam einen drohenden Unterton.
»Aber – es kann sich dabei doch wohl nur um ein Versehen handeln!«, beharrte Jonas. »Bestimmt ist ihr in ihrem Stress einfach entfallen, dass ich für die Trauerfeier verantwortlich bin.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Wie bitte?«
»Ich sage es Ihnen nur ungern, und von mir haben Sie es nicht gehört, aber ihre Worte waren: ›Ehe ich mir das Gelaber von diesem Rotzfels antun muss, halte ich die Rede doch lieber selbst.‹«
»Danke für Ihre Offenheit«, zwang Jonas sich zu sagen, dann beendete er die Verbindung. Er brauchte dringend Urlaub.
Jonas, meldete sich die Stimme zu Wort.
»Nein, lass mich in Ruhe. Du bist nicht real!«
Ich möchte, dass du einen Auftrag für mich ausführst.
»Einen Auftrag? Was für einen Auftrag?«
Jetzt, wo du erkannt hast, dass Schuld Gewicht hat, fliege zum Planeten Kyros und verkünde Bakur Khan, dass er von seinem mörderischen Vorhaben ablassen soll. Es brächte großes Unheil über ihn und den Rest der Galaxis.
»Ich soll was? Bist du wahnsinnig? Hast du eine Vorstellung davon, was die Piraten mit mir anstellen werden, wenn sie mich in die Finger bekommen?«
Ich habe einem meiner Engel befohlen, dich zu beschützen.
»Engel gibt es nicht!« Jonas schrie es fast.
Die Stimme schwieg. Jonas dachte einen Augenblick nach, dann fasste er einen verzweifelten Entschluss. Das Hören von Stimmen war ein deutliches Zeichen von Erschöpfung. So konnte es nicht weitergehen. Er griff zum Kommunikator und stellte einen Antrag auf Heimaturlaub zum nächstmöglichen Zeitpunkt.
In den letzten drei Jahren hatte er auf Urlaub verzichtet, weil er wusste, dass er hier an Bord unersetzlich war. Die Raumflotte stellte keine Vertretungsdienste. Angeblich wegen Personalknappheit. Da hatte er die Soldaten, die ihm anvertraut waren, nicht einfach alleine lassen können. Doch nun ging es nicht anders. Er brauchte dringend Erholung. Die Mannschaft musste irgendwie ohne ihn auskommen. Es waren ja nur drei Wochen.
Der Kommunikator summte.
Antrag genehmigt. Abflug Versorgungsschiff morgen 14.00 Uhr.
Das war gut, so blieb ihm etwas Zeit zum Packen. Außerdem hatte er noch ein anderes wichtiges Problem zu lösen.
Jonas machte sich auf den mittlerweile vertrauten Weg zu Alisters Kabine. Er trat ein, und kaum dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stürmte Buddy auf ihn zu. Zutraulich rieb der Wombat seinen Kopf an Jonas’ Bein.
»Ja, ja, du bekommst dein Futter«, sagte er lachend. Die Zuneigung des kleinen pelzigen Tieres war eine Wohltat für seine Seele. Leicht fiel es ihm nicht, ihn hier zurückzulassen.
»Hör mal, Buddy«, sagte er, während er die Körner in den Napf füllte. »Ich muss auf eine Reise gehen. Leider weiß ich noch nicht, wen ich fragen könnte, aber ich werde bestimmt jemanden finden, der sich in der Zwischenzeit um dich kümmert.«
Buddy schüttelte leicht seinen Kopf und sprang mit einem Satz aufs Bett. Dort stützte er sich mit den Vorderbeinen auf die Reisetasche und sah Jonas aufmerksam an.
»Du hast genau verstanden, was ich gesagt habe«, stellte der verwundert fest. »Und du willst, dass ich dich mitnehme.«
Diesmal gab es keinen Zweifel. Buddy nickte eindeutig. Jonas griff nach der Tasche und öffnete sie. Überrascht stellte er fest, dass sie fast leer war. Lediglich etwas Wäsche befand sich darin, auf eine Art zerdrückt, die es wie ein Nest wirken ließ.
»Alister wollte dich mitnehmen, aber dann kam ihm dieser Unfall dazwischen …«, sagte er nachdenklich.
Buddy drängte sich an ihm vorbei, kletterte in die Tasche, kuschelte sich in die Mulde und blinzelte zu Jonas hinauf.
»Na gut, ich nehme dich mit. Aber ein bisschen dauert es noch. Das Schiff fliegt erst morgen Mittag. Bis dahin muss ich mir etwas einfallen lassen, wie wir dich durch die Kontrollen bekommen.«
Diesmal hätte Jonas schwören können, dass Buddy mit einem Auge gezwinkert hatte.
Er brauchte wirklich dringend Urlaub.
*****
Der Khan überprüfte ein letztes Mal im Spiegel den Sitz seiner Uniform und trat dann hinaus auf den Balkon, von wo aus er den größten Teil Evinins überblicken konnte. Auf den Gassen summte es vor Aufregung. Die Menschen strömten zum Raumhafen, wo hinter der Absperrung des Rollfeldes bereits ein chaotisches Gedränge herrschte. Frauen, verhüllt mit schwarzen Kopftüchern, erfüllten die Luft mit lebhaftem Geschnatter. Kinder wuselten in der Menge herum. Einige wenige Alte standen gelassen am Rand und beobachteten das Treiben. Bakur Khan konnte vom Balkon seines Hauses alles gut verfolgen. Er lächelte.
Plötzlich erhob sich ein lautes, vielstimmiges Rufen. »Sie kommen, sie kommen!«
Bakur kniff die Augen zusammen und suchte den Himmel in östlicher Richtung ab. Doch er sah nur die blasse schmale Sichel von Cavab, dem kleineren der beiden Monde von Kyros. Sie wirkte leicht verzerrt.
Müde strich sich der Khan über das Gesicht.
Meine Augen lassen nach, dachte er düster. Gerade mal 52, und ich komme mir manchmal schon wie ein alter Mann vor.
Endlich erkannte er eine Handbreit links von Cavab einen leuchtenden Punkt, der sich allmählich vergrößerte. Dann tauchte daneben ein zweiter, etwas schwächerer auf, schließlich ein dritter. Zweifellos, das waren die Shuttles, die seine Männer vom Raumhafen auf Liman zurückbrachten.
Der erste Lichtpunkt hatte sich jetzt zu einer brennenden Fackel weiterentwickelt, die eine schwarze Rauchspur hinter sich herzog.
»Nicht so schnell, Jungs«, murmelte Bakur und raufte seinen schwarzen Bart. »Diese Hitzeschilde halten nicht alles aus.«