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Es war spektakulär. Ron stand nun inmitten seiner Schöpfung. Er hörte das Plätschern der Wellen, die Schreie der Vögel. Versuchsweise drehte er den Kopf. Die Landschaft bewegte sich synchron vor seinem Auge vorbei. Dann hob er den Fuß und ging einen Schritt vorwärts. Gehorsam wanderte die Ansicht der Insel mit ihm mit. Die Illusion, sich mit dem eigenen Körper durch die virtuelle Welt zu bewegen, war perfekt. Es dauerte einige Zeit, bis er in dem Spiel laufen konnte, ohne gleichzeitig über irgendwelche Gegenstände in seinem Arbeitszimmer zu stolpern. Schließlich fand er heraus, dass die nötigen Bewegungen am besten im Sitzen zu realisieren waren.
Interessiert erkundete er die Insel, die er vor kurzem selbst erschaffen hatte. Aus dieser Perspektive sah alles ganz anders aus. Ron fühlte sich wie ein Abenteurer, der ein unerforschtes Fleckchen Erde auskundschaftete. Er ging ein Stück am Strand entlang und betrachtete nachdenklich die Wellen, die in regelmäßigen Abständen ans Ufer plätscherten. Eine Weile lang blickte er versunken in die Ferne; die Erinnerungen an Urlaube aus längst vergangenen glücklichen Zeiten mischten sich mit dem Anblick, der sich seinem Auge bot. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Die Wogen rollten mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms heran.
So geht das nicht!, schalt er sich. Die Wellenparameter brauchten dringend noch eine Zufallskomponente. Vergeblich suchte er in seinen Taschen nach Papier und Kugelschreiber, bis ihm einfiel, wo er sich befand. Daraufhin hob er die Hand und malte eine Doppelschleife in die Luft.
Der strahlend blaue Himmel bekam einen Riss. Eine Art Computerbildschirm erschien, auf dem ein paar Zahlenkolonnen und einige wenige Symbole zu sehen waren. Die Spielesteuerung befand sich noch im Aufbau. Ron griff nach dem Notepad-Icon. Eine Tastatur erschien und schwebte vor ihm in der Luft. Anfangs war es etwas ungewohnt, darauf zu schreiben, weil das Gefühl an den Fingerspitzen fehlte, aber es gelang ihm dennoch problemlos, eine Notiz zu verfassen.
„Wellen: Zufallskomponente einrichten“, schrieb er und speicherte die Notiz als „ToDoList.txt“ ab. Dieselbe Geste, die den Computerbildschirm hervorgebracht hatte, ließ ihn auch verschwinden. Der Himmel war wieder makellos. Ein paar Möwen zogen vorbei.
Der Programmierer wandte sich um und ging auf den Dschungel zu, der kurz hinter dem Strand begann. Die Details der Pflanzen sind mir wirklich gut gelungen, dachte er zufrieden, als er in das grüne Dickicht unterschiedlicher Gewächse eintauchte. Es fehlt eigentlich nur noch ein Gefühlseindruck. Man spürt gar nichts, wenn man einen Zweig zur Seite schiebt. Aber der optische Impuls ist so stark, dass man fast meint, etwas zu spüren.
Ein tiefes Grollen riss ihn aus seinen Überlegungen. Eine Adrenalinwelle jagte durch seinen Körper. Alle Muskeln spannten sich an; uralte Überlebensprogramme, die die Menschen seinerzeit sicher durch die Steinzeit gebracht hatten, aktivierten sich in seinem Inneren. Ron konnte das Pochen seines Herzens bis zum Hals fühlen.
Instinktiv suchte er Deckung hinter einer stattlichen Palme. Vielleicht hatte ihn das Tier noch nicht gewittert. Der Tiger stand etwa 30 Meter von ihm entfernt und sah zu ihm herüber. Ron stockte der Atem. Die Raubkatze sah fantastisch aus. Natürlich wusste er, dass ihm keine Gefahr drohte, schließlich befanden sie sich nur in einem Computerspiel, das er zudem selbst programmiert hatte, und trotzdem. Die Bedrohung wirkte unglaublich real.
Überrascht registrierte Ron, dass sein Gehirn von sich aus fehlende Details beisteuerte. Er meinte, den Wind, der die virtuellen Blätter bewegte, auf der Haut zu spüren, und es schien ihm sogar, als könne er den animalischen Geruch des Tigers riechen. Es war perfekt. Fantasie und Unterbewusstsein arbeiteten Hand in Hand mit den Geräuschen und visuellen Eindrücken, die der Computer lieferte. Sein Kopf schuf daraus eine so überzeugende Illusion, dass er sich immer wieder bewusst machen musste, wo er sich eigentlich befand. Soviel war klar, dieses Spiel würde ein Renner werden.
Der Tiger kam näher und brachte den Programmierer in die virtuelle Wirklichkeit zurück. Wieder spannten sich seine Muskeln reflexartig an, sein Herz begann zu rasen.
„Du musst keine Angst haben, Joey ist ganz lieb!“, rief eine helle Stimme. Ron drehte sich um und sah in ein fröhliches Kindergesicht. Zerzauste blonde Haare, die in verschiedenen Farbtönen spielten, Sommersprossen, strahlend blaue Augen.
„Hast du dem Tiger diesen Namen gegeben?“, fragte er erstaunt. Der Junge nickte stolz.
Ron war mehr als überrascht. Das konnte eigentlich nicht sein. So zufrieden er auch mit sich und seinen Fortschritten im Bereich der künstlichen Intelligenz war – dass ein Bot einer anderen Kreatur selbstständig einen Namen gab, reichte weit über das hinaus, was er erwartet hatte. Das war eine enorme Leistung, die Vernunft, ja, Bewusstsein voraussetzte.
„Wie bist du auf diesen Namen gekommen?“
„Keine Ahnung“, antwortete der Junge treuherzig. „Ich wusste einfach, dass er so heißen sollte, und Joey hat sofort auf seinen Namen gehört. Du kannst ruhig dichter herangehen, er tut nichts!“
Ron ging ein paar zaghafte Schritte auf das Raubtier zu.
Dies war eine neue Erfahrung für ihn. Alles, was er bislang kannte, war die Perspektive des Zoobesuchers, dem dicke Metallgitter Sicherheit bieten. Aber hier gab es keine Barriere zwischen Mensch und Tier, und Ron wusste, dass er nicht den Hauch einer Chance hätte, wenn es dem Tiger einfallen sollte, ihn als Beute auszuwählen.
„Es ist alles nur virtuell!“, rief der Programmierer sich zur Ordnung. Er trat noch einen Schritt näher und hob die Hand, um das Fell des Tigers zu berühren. Plötzlich spürte er ein unangenehmes Vibrieren an seinem rechten Bein. Er zuckte zusammen. Ebenso unvermittelt, wie es gekommen war, verschwand das Vibrieren wieder, nur um Sekunden später erneut seine Beinmuskeln zum Pulsieren zu bringen.
Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass es sich um sein Handy handelte, das einen Anruf meldete. Hastig hob er die Hand und vollführte eine Doppelschleife in der Luft. Als das Display erschien, loggte er sich aus dem Spiel aus und riss sich den Helm vom Kopf. Jetzt konnte er auch den Klingelton hören – die Titelmusik der Uraltserie „Raumschiff Orion“, deren antikem Charme er vor langer Zeit verfallen war.
Er stellte die Verbindung her. Der Anrufer sprach mit asiatischem Akzent: „Guten Tag, Herr Schäfer, Kim hier von ‚Future Computing‘. Ich wollte mich nur bei Ihnen erkundigen, ob unser Paket Sie erreicht hat.“
„Oh ja, das hat es.“
„Und funktioniert alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Ja, bestens, vielen Dank, Herr Kim.“
„Sehr schön. Dann sind wir gespannt auf Ihre Präsentation. Mein Chef hat hohe Erwartungen an Sie.“
1. BIT AND BYTES
Die weiße Stadt leuchtete im Licht der Morgensonne. Einfache Hütten von Handwerkern und Fischern bildeten einen schimmernden Rand, weiter innen glänzten die herrschaftlichen Häuser der Kaufleute und Bürger. Doch das alles war nichts im Vergleich zu dem prunkvollen Palast aus weißem Marmor, der in der Mitte erstrahlte. Auf allen Türmen wehte die Fahne des Königs. Ein perfektes Motiv für einen Maler – doch müsste er sich mit seiner Kunst beeilen, denn so, wie die Dinge lagen, waren die Stunden dieses Ortes gezählt.
Unaufhaltsam rückten die schwarzen Heerscharen vor und zogen einen dunklen Ring um das leuchtende Juwel. Die Zahl der Angreifer war unermesslich. Die weiße Stadt glich bald einer Perle auf schwarzem Samt. Es war absehbar, dass sie sich binnen Kurzem erst zum feuerroten Rubin wandeln und schließlich als rauchende Kohle enden würde.
Die feindlichen Truppen brachten ihr Kriegsgerät in Stellung. Sie positionierten die Wurfmaschinen, schoben Rammböcke und Belagerungstürme heran. Die Lage war aussichtslos.
Aller Augen richteten sich auf Yannick, den jungen Befehlshaber der weißen Armee. Überraschenderweise war ihm keine Nervosität anzumerken – er vermittelte den wenig beruhigenden Eindruck, als wäre ihm das Schicksal seiner Stadt völlig gleichgültig.
Die Wachen auf den Stadtmauern patrouillierten auf und ab. Sie waren entschlossen, ihr Äußerstes zu geben. Munition und Löschmaterial gegen die Brandpfeile lagen bereit, doch den Steinwürfen der mächtigen Wurfmaschinen hatten sie außer der Dicke ihrer Mauern nichts entgegenzusetzen. Sie konnten nur hoffen, dass ihr Anführer einen genialen Plan hatte, denn sonst wäre ihr Untergang besiegelt.
Die Spannung wuchs ins Unerträgliche.
Schließlich begann der Angriff. Die Wurfmaschinen nahmen ratternd ihre Arbeit auf, riesige Felsbrocken sausten durch die Luft. Noch trafen die wenigsten – die Maschinen mussten sich erst einschießen.
Der junge Befehlshaber beugte sich vor. Er hatte den Ansturm erwartet, sogar erhofft. Sein Widersacher hatte alles in die Schlacht geworfen, was er an Material und Soldaten besaß. Nun war die schwarze Stadt schutzlos.
Yannick gab seine Befehle, und die weißen Truppen, die sich bis dahin verborgen gehalten hatten, stürmten gegen die wehrlose Heimat des Gegners vor. Deren Mauern waren nur schwach befestigt, denn ihr Kommandant hatte die vorhandenen Ressourcen fast vollständig in die Herstellung von Kriegsmaschinen gesteckt.
Im Handumdrehen fiel das Tor. Die Angreifer drängten in das Innere der Stadt. Die wenigen Wächter hatten keine Chance. Nach einigen kurzen Scharmützeln marschierten die weißen Soldaten in den Palast ein und nahmen den schwarzen König gefangen.
Die Zuschauer applaudierten. Das Spiel war zu Ende.
Yannick schob sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht und reckte beide Hände in Siegerpose empor. Er hatte gewonnen – und nicht nur dieses Spiel. Es war die letzte Partie der „eGames Berlin“. Er war der Champion.
Wildfremde Menschen klopften ihm auf die Schulter, gratulierten zum Sieg. Irgendjemand reichte ihm ein Glas Sekt, ein Pressefotograf schoss Fotos und wollte seinen Namen und ein paar Einzelheiten zu seiner Person wissen. Yannick Adams. 19 Jahre. Geboren und aufgewachsen in Berlin. Stammgast im Bit & Bytes.
Er kostete den Augenblick aus. Hinter ihm lagen fast vierzehn Stunden am Computer, aber er fühlte keine Müdigkeit. Stattdessen schwamm er auf einer Woge von Glücksgefühlen. Endlich. Endlich war er auch mal dran. Endlich hatte er auch mal etwas zustande gebracht. Endlich jubelten die Menschen auch ihm mal zu. Solche Momente gab es in seinem Leben sonst eher selten.
Erfolgreich verdrängte Yannick den Gedanken daran, dass er bloß einen kleinen Computerspielwettbewerb gewonnen hatte, der von einer Hackerkneipe ausgerichtet worden war und sich mit einem größenwahnsinnigen Titel schmückte. Schon bald würde sich niemand mehr an diesen Sieg erinnern. Doch das spielte keine Rolle. Jetzt wollte er einfach nur die Gegenwart genießen.
Er holte Tabak und Blättchen heraus und drehte sich eine Zigarette. Vielleicht war dies ja der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Vielleicht bot sich ihm nun die Chance, auf die er gewartet hatte. Bislang sah es nämlich nicht so toll aus bei ihm. Er verfügte über einen mittelmäßigen Schulabschluss und drei Jahre Erfahrung in verschiedenen Aushilfsjobs, mit denen er sich gerade so über Wasser halten konnte. Zu einer Berufsausbildung hatte er sich noch nicht durchringen können.
Seine Mutter hatte längst aufgegeben, ihn nach seiner Lebensplanung zu befragen, und wenn sie das Thema doch mal wieder zur Sprache brachte, gab er die übliche Antwort: Er warte auf die richtige Gelegenheit. Wie in dem Spiel eben. Man muss einfach nur den richtigen Moment abwarten, und dann klappt es.
Für Außenstehende mochte es beim Blick auf sein Leben vielleicht so aussehen, als würde er verlieren, aber wenn sich die Gelegenheit bot, würde er schon allen zeigen, was in ihm steckte. Dumm war er jedenfalls nicht, das hatte er soeben bewiesen. Er verfügte über Durchhaltevermögen, konnte logisch und strategisch denken und verstand sich auf Computer, besonders auf die angesagten Spiele. Hier machte ihm so schnell keiner was vor.
Profi-Gamer, das wäre der perfekte Job für ihn! Den ganzen Tag zocken und dafür auch noch bezahlt werden, zu Turnieren fahren, jubelnden Fans begegnen …
Der Pressefotograf riss ihn aus seinen Träumen. Er wollte ein weiteres Foto gemeinsam mit dem Ladenbesitzer. Yannick musste sich nicht anstrengen, um für die Kamera zu lächeln. Er war rundum glücklich. Er war der Champion. Er hatte gesiegt. Er war der Größte. Dieser Moment hätte gern ewig dauern können.
Aber leider zerstreute sich die Menge schon bald. Die meisten waren müde.
Der Held des Tages suchte seine Sachen zusammen, verstaute sie in seinem Rucksack und machte sich auf den Weg. Müdigkeit konnte er sich nicht leisten. In den nächsten Stunden hatte er eine Tankstelle zu betreuen.
An der Kneipentür hielt er kurz inne, zündete sich seine Selbstgedrehte an.
„Ciao Lutz!“, sagte er zu dem leicht übergewichtigen Gastwirt mit dem dunkelbraunen Pferdeschwanz, der damit beschäftigt war, die letzten Spuren der Veranstaltung zu beseitigen. Mit seiner Lederweste und den schwarzen Lederhosen schien er eher in eine Motorradgang zu passen als hinter den Tresen einer Nerdkneipe.
„Mach’s gut, Yannick. Du warst echt spitze heute Abend!“, gab der Angesprochene zurück.
Er wollte sein Alter nicht verraten, aber Yannick schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Trotz des Altersunterschieds kam er ihm vor wie ein großer Bruder. Lutz war definitiv mehr als ein einfacher Kneipenwirt, so viel stand fest. Von Computern hatte er jedenfalls richtig Ahnung – und vom Leben auch.
„Ich freue mich, dass du gewonnen hast“, sagte Lutz, „aber nun schlaf dich erstmal aus!“
„Von wegen, ich muss zur Arbeit!“
„Na dann, viel Spaß. Mir reicht’s für heute.“
Der Wirt öffnete die Tür für seinen letzten Gast und blickte hinaus. Ein schmutzig-grauer Sonntagmorgen dämmerte über der Stadt.
Zufrieden schloss Lutz ab und schaltete die LED-Anzeige im Fenster auf „closed“. Fast 24 Stunden war er jetzt auf den Beinen, aber es hatte sich gelohnt. Nicht nur, weil heute so viele Gäste hier gewesen waren, sondern vor allem, weil die Presse über ihn und das Event berichten würde.
Das Bit & Bytes war auf dem besten Weg, ein angesagtes Szenelokal zu werden. Natürlich für eine sehr spezielle Szene. Hier trafen sich diejenigen, die ihre Nächte normalerweise vor dem Bildschirm verbrachten. Gamer, Hacker und Computernerds. Manchmal war es gut, sich von Angesicht zu Angesicht zu sehen; Informationen nicht online weiterzugeben, keine Spuren im Internet zu hinterlassen. Ein Treffen im RL hatte unbestreitbare Vorteile.
Lutz grinste bei seinem letzten Gedanken. Ein normaler Mensch würde mit dieser Abkürzung nicht viel anfangen können, mit dem die Spieler das wahre Leben, das „Real Life“, bezeichneten. Auch sonst hätte der Durchschnittsbürger wohl Mühe, den Gesprächen im Lokal zu folgen, die sich meist um aktuelle Computerspiele, die neueste und schnellste Hardware und ähnliche Dinge drehten.
Das war auch nicht weiter schlimm, denn man blieb gerne unter sich – nicht zuletzt, weil hier vieles besprochen wurde, was eindeutig jenseits der Legalitätsgrenze lag. Cracks und Raubkopien gehörten da noch zu den harmloseren Dingen, richtig spannend wurde es erst, wenn die Hacker zu später Stunde über selbstverfasste Viren oder Einbrüche in geschützte Computersysteme diskutierten.
Der Angriff auf die deutsche Börse, der im vergangenen Jahr für Schlagzeilen gesorgt und beinahe eine Wirtschaftskrise hervorgerufen hatte, war in diesem Lokal vorbereitet worden.
An diesem Tresen waren die ersten Skizzen für „triple6death“ entstanden, einem der gefährlichsten Trojaner, der je sein Unwesen im Internet getrieben hat – und Lutz war maßgeblich daran beteiligt gewesen. Er verstand eine Menge von diesen Dingen.
Aber allein von einer Handvoll Hackern, die hier gelegentlich ein Bier tranken, konnte der Laden nicht existieren. Darum war Lutz auf die Idee mit den „eGames-Berlin“ gekommen, und er hegte die Hoffnung, dass sich die neu gewonnene Popularität seiner Kneipe recht bald in deutlich höheren Umsätzen niederschlagen würde.
Obwohl er schon so lange auf den Beinen war, fühlte er sich erstaunlich fit, was wohl auf die Auswirkungen illegaler Substanzen zurückzuführen war, die er gelegentlich zum Einsatz brachte. Er zapfte sich ein Bier – wenn Gäste in seinem Lokal waren, trank er grundsätzlich keinen Alkohol – und schaltete sein Notebook ein.
Von der Funkausstellung hatte er diesmal nicht viel mitbekommen. Allerdings interessierte ihn die offizielle Berichterstattung eher wenig. Stattdessen verfolgte er die Blogs einiger Bekannter, die ähnlich dachten wie er. Besondere Sensationen schien es in diesem Jahr nicht zu geben, und er wollte gerade abschalten, als sein Interesse plötzlich von einer kleinen Meldung geweckt wurde:
Ron Schäfer gesichtet! Der Star der Onlinewelten, der nach dem Skandal um „Wargames“ von der Bildfläche verschwunden ist, wurde am Samstag auf der IFA gesehen. Angeblich hat „Future Computing“ ihn zu einem Meeting eingeladen. Ob man für Rons nächste Welt einen Cyberhelm braucht? Wir sind gespannt.
Lutz’ Gesichtszüge verfinsterten sich.
Mit diesem Mann hatte er noch eine Rechnung offen.
2. JONTES WÜNSCHE
Ron arbeitete voller Energie an seiner neuen Welt. Mittlerweile war der anfängliche Schöpfungsrausch verflogen und hatte einer konzentrierten Stetigkeit Platz gemacht. Das war nichts Neues für ihn und lief häufig so. Bei den meisten Projekten kam schon nach wenigen Tagen ein vorzeigbares Ergebnis heraus, während die Arbeit an den Details oft Wochen in Anspruch nahm. Aber gerade diese Details waren es, die eine mittelmäßige Software von einer wirklich guten unterschieden.
Es klingelte an der Tür, und er erhob sich, um zu öffnen. Vor ihm standen Lisa und Jonte. Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er seine attraktive Exfrau vor sich sah. Er liebte sie nach wie vor, aber er hatte einsehen müssen, dass sie mit keinem Mann zusammen sein wollte, der mehr Nächte an seinem Computer als in ihren Armen verbrachte.
„Hallo Lisa“, sagte er freundlich, „ist denn heute schon Freitag?“
Sie funkelte ihn an und warf ihre dunkelblonden Locken mit einer energischen Kopfbewegung in den Nacken. „Allerdings“, schnaubte sie. „Sag nicht …“ Sie ließ den Satz unvollendet, doch ihre Körperhaltung sprach Bände.
„Nein, nein, alles gut, ich freue mich!“, sagte Ron schnell und streckte die Arme nach seinem kleinen Sohn aus. „Wir werden bestimmt viel Spaß haben, was, Jonte?“
Der Junge strahlte. „Klar, Papa! Ist die Welt fertig, die du mir versprochen hast?“
„Noch nicht ganz, aber du kannst sie schon ausprobieren. Du wirst staunen!“
„Und lass das Kind nicht wieder das ganze Wochenende vor dem Computer sitzen, hörst du?!“, sagte Lisa. „Draußen ist schönes Wetter, geht in den Park oder unternehmt etwas zusammen!“
„Ja, Mama!“, sagte Jonte ungeduldig. „Papa soll mir ja nur die Welt zeigen, die er für mich programmiert hat!“
„Mach dir keine Sorge, Lisa“, sagte Ron. „Ich achte schon darauf, dass er nicht zu viel am Bildschirm sitzt …“
„Davon bin ich überzeugt“, fauchte Lisa und drückte ihm einen kleinen Koffer in die Hand. „Ich hole ihn am Sonntag wieder ab.“
Sie drehte sich um und rauschte davon, ohne Ron Zeit für eine Erwiderung zu lassen.
Er grinste in sich hinein. Sein Sohn würde an diesem Wochenende wirklich nicht viel vor dem Bildschirm sitzen. Schließlich hatte er ja jetzt einen Cyberhelm.
Ron war gespannt, wie Jonte die Demo-Welt gefallen würde. Er schloss die Haustür, stellte den Koffer in den Flur und ging in sein Arbeitszimmer, das der Kleine bereits zielsicher angesteuert hatte.
„Na, wie ist es, willst du nicht erst mal was essen? Ich habe unser Super-Spezial-Gericht eingekauft!“ Aber sein Sohn war nicht bereit, noch länger zu warten.
„Nein Papa“, sagte er energisch. „Du musst mir jetzt das neue Spiel zeigen. Ich habe schon so lange darauf gewartet!“
„Na gut“, sagte Ron. Der Eifer seines Sohnes amüsierte ihn.
„Vorher muss ich dir aber noch ein paar Dinge erklären. Du bekommst gleich diesen Helm auf. Ich hoffe, er passt einigermaßen …“
Jonte blickte mit großen Augen auf den geheimnisvollen schwarzen Gegenstand, den sein Vater in den Händen hielt. „Cool“, sagte er beeindruckt.
„Sei vorsichtig damit, das ist ein Prototyp“, mahnte ihn sein Vater.
„Ja, ganz bestimmt“, flüsterte der Kleine ehrfürchtig.
„Außerdem bekommst du Cyber-Handschuhe und diese Gamaschen an. Damit steuerst du das Spiel. Jede Bewegung, die du machst, wird vom Computer direkt umgesetzt.“
Jonte nickte stumm. Er war fasziniert und konnte es kaum erwarten, die Sachen auszuprobieren.
„Sobald du den Helm aufsetzt, kannst du mich nicht mehr hören und ich dich auch nicht mehr. Wenn du zu mir sprechen willst, tust du Folgendes …“
Ron legte seine Handflächen vor der Brust zusammen und bewegte sie dann in einem Halbkreis nach außen, wo er sie in einer Position hielt, als würde er etwas willkommen heißen, das von oben kam.
„Wenn du das tust, erkennt der Computer die Geste und schaltet dich auf meinen Lautsprecher; dann können wir miteinander reden – alles klar?“
Jonte nickte.
Ron setzte seinen Sohn auf einen Sessel, legte ihm die Gamaschen an und zog ihm die Handschuhe über. Sie bestanden aus einem ungewöhnlichen Material, das ein wenig an einen Taucheranzug erinnerte. Es zog sich im unbenutzten Zustand erstaunlich weit zusammen und ließ sich mühelos wieder dehnen, gerade so, als würde es mit dem Körper mitwachsen.
An Jontes kleinen Händen schlackerten die Handschuhe ein wenig, aber es würde schon gehen. Mehr Bedenken hatte Ron bei dem Helm. Vorsichtig setzte er ihn dem Kind auf den Kopf. Er saß sehr lose, aber doch besser als gedacht. Solange Jonte sich nicht zu ruckartig bewegte, bestand keine Gefahr.
Ron drückte eine Taste auf seiner Tastatur und sprach in ein Mikrofon. „Kannst du mich hören?“, fragte er.
„Ja Papa“, kam es prompt aus dem Lautsprecher.
„Und was siehst du?“
„Ich weiß nicht genau, es sieht ein bisschen aus wie ein Vorhang!“
„Das ist gut. Mach es dir auf deinem Sessel bequem – und jetzt Vorhang auf für X-World!“
Seine Hände flogen über die Tastatur. Das Bild auf dem Monitor teilte sich – auf der linken Seite erschienen verschiedene Zahlenreihen, während die rechte Hälfte wiedergab, was an den Cyberhelm übertragen wurde.
Ron seufzte. Früher war diese Bildschirmteilerei nicht nötig gewesen. Da hatte er drei Monitore besessen. Aber die letzten Monate hatten ihre finanziellen Spuren hinterlassen. Doch nun bestand endlich wieder Hoffnung für ihn. Wenn der Deal mit den Koreanern klappte, wäre er aufs Neue im Geschäft.
Er startete den Trailer. Von einer altmodischen Theatermusik untermalt, schob sich der Vorhang auf und gab den Blick frei auf einen Screenshot von X-World.
„Willkommen in X-World!“, sagte eine sonore Männerstimme. Ron hatte den Text selbst gesprochen und die Aufnahme so lange elektronisch verfremdet, bis der Klang seinen Vorstellungen entsprochen hatte.
Es folgte eine kurze Einführung in den Umgang mit dem Cyberequipment, verbunden mit ein paar kleinen Übungen. Ron lächelte, als er seinen Sohn dabei beobachtete, wie er vor sich in die Luft griff, um ein paar virtuelle Äpfel zu pflücken, und wie er mit den Beinen strampelte, als er seine ersten Gehversuche machte. Wenn man die entsprechenden Bilder dazu nicht sah, wirkte es urkomisch.
Schließlich war die Einführung zu Ende, und Jonte betrat das kleine Paradies, welches sein Vater geschaffen hatte. Fürs Erste ließ Ron den Ton mitlaufen. Er wollte live dabei sein, wenn der erste Mensch seine Welt betrat.
„Cool“, sagte Jonte verzückt. Er blickte sich um, wobei er brav seinen Kopf gerade hielt, um den Helm nicht ins Rutschen zu bringen. Vorsichtig ging er einige Schritte auf dem herrlichen Sandstrand. Er bückte sich und versuchte, den Sand zu einem Berg zusammenzuschieben.