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„Das geht ja gar nicht!“, sagte er enttäuscht.
Ron machte sich eine Notiz. Er war stolz darauf gewesen, dass das Wandern über den Strand richtige Spuren hinterließ, aber so weit hatte er noch nicht gedacht.
Jonte schlenderte weiter und wandte sich dem Wald zu. Plötzlich erstarrte er. Ein etwa gleichaltriger Junge kam auf ihn zugelaufen und blieb vor ihm stehen. Neugierig musterte er Jonte von oben bis unten. „Was machst du auf meiner Insel?“, fragte er schließlich.
Ron beobachtete seinen Sohn aufmerksam. Lisa hatte sich schon des Öfteren Sorgen um ihn gemacht, weil es ihm schwerfiel, Kontakte zu knüpfen. In Bezug auf andere Kinder war er meist schüchtern und zurückhaltend. Ron konnte das gut verstehen, er hatte sich als Kind mit Gleichaltrigen auch immer schwergetan. Nur dass er seine Schüchternheit meist hinter Aggressionen versteckt hatte, was häufig in Raufereien ausgeartet war. Es gab so einige Freundschaften in seinem Leben, die mit blauen Flecken begonnen hatten. Er war gespannt, wie sein Sohn auf den virtuellen Spielkameraden reagieren würde – im Gegensatz zu seiner Frau hatte Ron ja nur wenig Gelegenheit, Jonte im Alltag zu erleben.
„Papa?“, fragte Jonte leise. Ron zögerte kurz. Schließlich beschloss er, nicht zu reagieren – der Junge hatte die vereinbarte Geste nicht gemacht, er musste also davon ausgehen, dass sein Vater ihn nicht hören konnte. Dann sah Ron, wie sich der Körper seines Sohnes straffte.
„Was heißt hier ‚deine Insel‘?“, sagte Jonte selbstbewusst. „Das ist meine Insel! Mein Papa hat sie extra für mich gemacht!“
„Echt? Du bist der Sohn des Schöpfers?“, gab der Junge beeindruckt zurück.
„Ja, das kannst du glauben. Und ich heiße Jonte. Jonte Schäfer!“
„Ich heiße Alf“, sagte der andere. „Wollen wir Freunde sein?“
„Ich weiß noch nicht“, sagte Jonte vorsichtig. Sein Gegenüber nickte ernsthaft.
„Komm, ich zeige dir alles!“, rief er fröhlich und sprang davon. Jonte folgte ihm, so schnell ihn seine virtuellen Füße trugen.
Zufrieden schaltete Ron den Ton aus und konzentrierte sich auf die Logdateien. Es war sehr hilfreich für ihn, das Spiel einmal in Aktion beobachten zu können. Seine To-do-Liste wuchs weiter an, aber im Grunde war er zufrieden – mit sich, mit X-World und mit Jonte. Er fand, sein Sprössling hatte die Begegnung mit dem fremden Kind hervorragend gemeistert.
Stunden später saßen Vater und Sohn bei ihrem Super-Spezial-Essen: Fischstäbchen mit Backofenpommes und einer mächtigen Portion Ketchup dazu. Dieses Gericht hatte Tradition bei den beiden, und Ron hortete große Vorräte davon in seiner Tiefkühltruhe. So war er immer gut gerüstet für die Besuche, die für ihn meist überraschend kamen, weil Zeitmanagement eindeutig nicht zu seinen Stärken gehörte. Als freischaffender Programmierer lebte er seinen eigenen Rhythmus, er arbeitete, bis er müde war und schlief, wann es gerade passte – so kam es häufig vor, dass er sich in einem anderen Zeitgefüge befand als die Menschen um ihn herum. Besonders wenn er an einem neuen Projekt arbeitete.
„Du Papa, das Spiel ist wirklich klasse“, sagte Jonte mit vollem Mund. „Und Alf ist total nett.“
Kein Wunder, dass er dir gefällt, dachte Ron, ich habe ihn schließlich an dein Psychoprofil angepasst. Er könnte dein Zwillingsbruder sein.
Laut sagte er: „Das freut mich wirklich, Jonte. Schließlich habe ich diese Welt extra für dich gemacht!“ Das stimmte nicht ganz und war doch die Wahrheit.
„Dann darf ich mir doch bestimmt noch was wünschen, oder?“
„Klar“, sagte Ron.
„Machst du mir einen Berg mit einer richtigen Höhle drin? Das wäre toll!“
„Okay …“, sagte Ron nachdenklich. Das dürfte eigentlich kein Problem sein. Vor Urzeiten hatte er mal ein Adventure programmiert, das zum größten Teil in einer Höhlenwelt spielte. Er könnte die alten Daten etwas modifizieren und …
Eher zufällig blickte er auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht.
„Au weia, es ist schon spät, du musst ins Bett!“, sagte er. Jonte verzog sein Gesicht.
„Ich will aber nochmal zu Alf“, murrte er.
„Nein, heute nicht mehr“, sagte Ron entschieden. „Jetzt ist Feierabend. Und morgen bekommst du deinen Berg.“
„Na gut“, gähnte Jonte, „aber vergiss die Höhle nicht!“
„Warte nur ab“, schmunzelte Ron, „jetzt wird erstmal geschlafen!“
Er brachte den Jungen ins Bett und machte sich gleich an die Umsetzung seiner Ideen. Er freute sich, seinem Sohn diese Wünsche erfüllen zu können. Ihm war schmerzlich bewusst, dass er seiner Frau und seinem Kind viel schuldig geblieben war. Immer wieder hatte die Familie hinter seiner Arbeit zurückstehen müssen. Es hatte kaum ein Wochenende gegeben, an dem er nicht noch dieses oder jenes erledigen musste. Ständig war er gedanklich abwesend gewesen, im Geist mit irgendeinem Projekt beschäftigt, während seine Frau versucht hatte, ein Familienleben zu führen, das diesen Namen wirklich verdiente. Irgendwann hatte sie aufgegeben und war mit Jonte zu ihren Eltern gezogen.
Für Ron war das eine Katastrophe, auf die er nicht gefasst gewesen war. Als hätte sich alles gegen ihn verschworen, war kurz darauf auch noch sein berufliches Fiasko gefolgt. Es hatte sich angefühlt, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Noch keine dreißig und schon am Ende. Er hatte Monate gebraucht, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen.
Aber nun schien es allmählich aufwärtszugehen. Und jetzt bot sich ihm auch noch die Gelegenheit, seinem Sohn durch seine Programmierkunst mal etwas zu geben, nachdem er ihm zuvor so viel genommen hatte.
Ron griff nach seinen Collegeblock und kritzelte eine Skizze auf das Papier. Er wollte den Berg in die Mitte seiner Insel einfügen. Am einfachsten schien es ihm, die Grundfläche der Insel entsprechend zu vergrößern. Also berechnete er grob die Ausmaße der geplanten Anhöhe und gab die Daten in sein Programm ein. Prompt entstand in der Mitte des Dschungels ein grauer Fleck. Einige Tastenanschläge später erhob sich an dieser Stelle ein mächtiger Berg. Ron ließ ihn fürs Erste kahl – die Eigendynamik der virtuellen Pflanzenwelt würde ihn schon bald begrünt haben. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Innere des Berges. Er suchte auf seinem Rechner nach dem alten Adventure. Natürlich konnte er es nicht einfach in den Programmcode kopieren, weil er seinerzeit mit anderen Grafikstandards auskommen musste, aber zumindest brauchte er das Rad nicht neu zu erfinden, sondern konnte sich an seinen alten Entwürfen orientieren. Nach und nach entstand ein Höhlenlabyrinth, in dem es für Jonte jede Menge zu entdecken gab.
Als Ron den Rechner endlich herunterfuhr, graute draußen bereits der Morgen. Müde erhob er sich von seinem Bürostuhl und schlurfte ins Badezimmer. Dieser Tag war ziemlich lang gewesen. Bevor er selbst ins Bett ging, warf er noch einen zärtlichen Blick auf seinen friedlich schlafenden Sohn. Es war schön, ihn bei sich zu haben, und er freute sich schon jetzt darauf, Jonte die neuen Erweiterungen der Spielwelt entdecken zu lassen.
Er ging in sein Schlafzimmer, legte sich ins Bett und wartete auf den Schlaf. Es dauerte eine Weile, bis seine überreizten Nerven zur Ruhe kamen und plötzlich fiel ihm ein, dass Jonte Angst im Dunkeln hatte. Wäre eine Höhle wirklich der geeignete Spielplatz für ihn, selbst wenn sie nur virtuell war? Aber ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, hatte der Schlaf ihn übermannt.
Kurz darauf, wie es ihm schien, wurde er unsanft von Jonte geweckt, der energisch an seiner Bettdecke zog. „Aufstehen, Papa! Ich will Alf besuchen!“
Ron schielte auf die Uhr. Er hatte gerade mal vier Stunden geschlafen. Aber Jonte kannte keine Gnade. Mit aller Kraft zog er an der Decke, und als sie nicht nachgab, kletterte er kurzerhand auf den Bauch seines Vaters.
„Au-uf-ste-he-hen“, kommandierte er, während er rhythmisch auf und nieder wippte. Ron stöhnte und spannte die Bauchmuskeln an. Unauffällig griff er nach seinem Kopfkissen, riss es mit Schwung unter seinem Kopf hervor und traf seinen Sohn damit an der Schulter. Prompt verlor dieser das Gleichgewicht und kegelte ins weiche Bett. Mit lautem Kriegsgeheul stürzte er sich auf seinen Vater und versuchte, ihm das Kissen abzunehmen. Eine wilde Toberei entbrannte, bis schließlich beide schnaufend und lachend nebeneinander lagen.
Als Ron wieder zu Atem kam, sagte er: „Was hältst du davon: Du holst die Brötchen, und ich decke den Tisch?“
„Okay Papa, dann brauche ich aber Geld. Darf ich mir auch einen Comic kaufen?“
„Meinetwegen.“ Ron angelte nach seiner Jeans und zog das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. „Hier, fünf Euro sollten reichen.“
„Danke Papa!“
„Aber erst ziehst du dich mal an! Und Zähneputzen nicht vergessen!“
„Habe ich schon! Guck!“ Jonte bleckte sein Gebiss.
„Ist gut, ist gut, ich glaub dir ja!“
Ron stemmte sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Die Dusche vertrieb den Rest seiner Müdigkeit. Er drehte das Wasser heißer und genoss die Wärme, die durch seinen Körper strömte. Dann schob er den Hebel auf kalt. Erfrischt trocknete er sich ab, zog Hemd und Jeans an und deckte den Frühstückstisch.
Er spürte, wie gut ihm die Gegenwart seines Sohnes tat. Ein lebendiger Mensch war doch etwas anderes als ein Computer – auch wenn die virtuellen Welten noch so gut programmiert waren.
Es rappelte an der Tür. Jonte kam mit den Brötchen zurück. Während des Frühstücks sprudelte er wie ein Wasserfall. Haarklein erzählte er, was er auf der Insel gesehen hatte und wie gut er sich mit Alf verstand.
Ron war beeindruckt. Diese Erzählung klang ganz und gar nicht nach einem Computerspiel, eher nach einem Ferienabenteuer. X-World war offensichtlich überzeugend – zumindest für Fünfjährige. Er hoffte zutiefst, dass die koreanischen Geschäftsleute es ähnlich empfanden, denn davon hing seine Zukunft ab.
Jonte konnte es kaum erwarten, endlich das Cyberzeug anzulegen und die neue Welt zu betreten, die sein Papa extra für ihn erschaffen hatte – und zwar nach seinen Vorschlägen, wie er mehrere Male stolz bemerkte. Diesmal ließ Ron den Ton ausgeschaltet. Er war überzeugt, dass es Jonte gut ging, und machte sich daran, die bevorstehende Präsentation bei Future Computing vorzubereiten. Dazu war es notwendig, einen Mehrspielermodus einzurichten. Er vertiefte sich in seine Arbeit.
Derweil wanderte Jonte durch einen wunderschönen tropischen Regenwald. Er lauschte auf die Schreie von Affen und Papageien und staunte über die Farbenpracht exotischer Blumen, die um ihn herum wuchsen. Er war auf der Suche nach Alf. Zu dumm, dass sie keinen Treffpunkt vereinbart hatten!
Doch selbst dann wäre es schwierig geworden, denn die Geographie der Insel hatte sich seit seinem letzten Besuch entscheidend verändert. Mitten im üppig grünen Wald erhob sich nun ein Berg. Staunend sah Jonte die mächtigen Steilhänge hinauf. Ob da oben wohl Schnee lag? Bestimmt gab es hier Höhlen. Das hatte sein Vater ihm versprochen.
Wo sein Freund bloß steckte? Er rief ihn, so laut er konnte, aber statt einer Antwort hörte er nur das Echo, das von den Felswänden zurückgeworfen wurde.
Hatte sich dort nicht etwas bewegt? Vielleicht wollte Alf spielen und versuchte, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen. Aber daraus würde nichts werden! Jonte versteckte sich schnell hinter einem Felsbrocken und beobachtete den Schatten, der sich zwischen den Pflanzen bewegte. Dann stutzte er. Das, was er da sah, war eindeutig zu groß für Alf.
Ein mächtiger Tiger trat aus dem Gebüsch heraus und strebte dem bewaldeten Berghang entgegen. Jonte zuckte zusammen. Fieberhaft überlegte er, was er tun könnte. Weglaufen ging nicht, das Gelände bot keine Deckung, außerdem schätzte er, dass der Tiger mindestens dreimal so schnell laufen konnte wie er. Was hatte sein Vater sich nur dabei gedacht? Fürs Erste schien er in seinem Versteck sicher zu sein, aber wenn die Raubkatze näher kam …
Plötzlich kam ihm eine Idee. Er legte die Hände zusammen und breitete die Arme aus. Augenblicklich hörte er ein leichtes Rauschen in seinen Ohren.
„Ja, Jonte, was ist?“, hörte er die vertraute Stimme seines Vaters.
„Papa, hier ist ein großer Tiger!“, flüsterte Jonte.
„Ja natürlich, Jonte, den hast du dir doch gewünscht! Ich habe ihn extra für dich gemacht. Gefällt er dir?“
„Ich habe Angst!“, flüsterte Jonte.
„Das brauchst du nicht“, gab Ron zurück. „Du hast dir einen lieben Tiger gewünscht, und der hier ist lieb. Aber ich kann dich verstehen, mir hat er beim ersten Mal auch einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Er heißt übrigens Joey!“
„Echt? Das ist ja witzig!“, sagte Jonte.
„Wieso?“
„Weil ich einen Stofftiger habe, der genauso heißt. Weißt du das nicht mehr? Den hast du mir doch geschenkt!“
Ron war perplex. War es Zufall, dass Alf gerade diesen Namen ausgewählt hatte, oder gab es einen inneren Zusammenhang? Er beschloss, dieser Frage später nachzugehen. Im Moment musste er sich auf die bevorstehende Präsentation konzentrieren.
„Hör mal, Jonte“, sagte er, „warum sagst du nicht einfach ‚Hallo‘ zu dem Tiger? Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.“
Er beendete die Verbindung und beobachtete auf dem Monitor, wie sein Sohn langsam auf das Tier zuging. Es blieb wachsam stehen, zeigte aber keine Anzeichen von Aggressionen. Alles war in Ordnung, und Ron wandte sich wieder seinen Projektdaten zu.
Jonte hob den Arm, um den Tiger zu streicheln. Plötzlich passierte etwas Merkwürdiges: Als er den Rücken des Tieres erreichte, spürte er keinen Widerstand – doch seine virtuelle Hand folgte der realen Hand nicht mehr, als er sie weiter nach unten bewegte. Es war ein eigenartiges Gefühl, so als würden sich Leib und Seele voneinander trennen. Das war irgendwie unheimlich, und der Junge beeilte sich, seine Hände wieder in Einklang zu bringen, indem er den Arm schnell hoch über den Kopf hob. Gehorsam setzte seine virtuelle Hand die Bewegung um.
Der Tiger zuckte zusammen, als Jonte sich so plötzlich bewegte, drehte sich um und lief mit großen Sprüngen zurück in den Wald. Es kümmerte ihn nicht, dass Jonte hinter ihm herrief. Dafür antwortete eine menschliche Stimme.
„Hallo Jonte! Da bist du ja! Ich muss dir was Tolles zeigen. Eine echte Höhle! Ich schwöre, die war gestern noch nicht da!“ Gemeinsam kletterten die Jungen den Berg hinauf, einem neuen Abenteuer entgegen.
Das Wochenende verging wie im Fluge. Es gelang Ron kaum, seinen Sohn zum Essen zu bewegen, was ihn einerseits erschreckte, aber andererseits auch ganz recht war, denn im Mehrspielermodus tauchten plötzlich Probleme auf, die er nicht vorhergesehen hatte, und deren Lösung sich als sehr zeitaufwendig herausstellte. So waren Vater und Sohn auf höchst unterschiedliche Weise mit X-World beschäftigt. Beide verloren jedes Gefühl für die Zeit.
Es war ein glücklicher Zufall, dass Ron und Jonte gerade beim Essen saßen, als es an der Tür klingelte, und Lisa kam, um ihn abzuholen. Freudestrahlend lief er ihr entgegen und nahm sie in den Arm.
„Na ihr beiden, wie war euer Männerwochenende?“, fragte sie.
Jonte sprudelte förmlich über. „Es war so toll! Ich habe einen neuen Freund, er heißt Alf, und er ist so alt wie ich, und wir haben …“
„Oh, Schatz, das ist ja wunderbar!“, sagte Lisa zu ihrem Sohn und schaute ungläubig zu Ron hinüber, dessen Gesicht eine rötliche Färbung annahm. Er beugte sich vor und begann, intensiv ein interessantes Detail an seinem Wurstbrot zu studieren.
„Er ist doch sonst so zurückhaltend mit anderen Kindern!“
„Ja“, sagte Ron ausweichend, „ich glaube, er hat große Fortschritte gemacht!“
„Und ich habe einen Tiger gesehen!“, rief Jonte. „Der war ganz zahm, aber als ich ihn streicheln wollte, ist er weggelaufen …“
„Wart ihr im Zoo?“, fragte Lisa verwirrt.
„Nein, in der neuen Welt, die Papa gemacht hat. Die ist super, Mama, die musst du dir unbedingt anschauen!“
Lisas Miene gefror zu Eis.
„Ich fasse es nicht“, sagte sie. „Der Junge war nicht einmal draußen, stimmt’s?“
„Doch, er war Brötchen holen“, antwortete Ron lahm.
„Ja und ich durfte mir ein Comic-Heft kaufen!“, rief Jonte dazwischen. „Ach Mama, Papa, bitte streitet euch nicht!“
Flehentlich sah er zu seiner Mutter hinauf. Sie biss sich auf die Lippen.
„Nein, nein, es ist schon gut“, sagte sie zu ihm. „Hol deine Sachen. Ich stehe im Halteverbot.“
Ihre schönen blauen Augen schossen Blitze auf Ron. Aber sie verlor kein weiteres Wort zu dem Thema. Das war auch nicht nötig. Ron wusste ohnehin, was sie sagen wollte. Als sein Sohn mit seinem Koffer wiederkam, nahm er ihn kurz in die Arme.
„Es war ein tolles Wochenende mit dir“, flüsterte er.
„Ja, Papa, das fand ich auch!“, flüsterte Jonte zurück. Dann verließ er mit seiner Mutter das Haus.
Ron war wieder allein.
3. FRANKFURT AM MAIN
Mit gemischten Gefühlen machte sich Ron Schäfer auf den Weg nach Frankfurt, wo sich der deutsche Firmensitz von Future Computing befand.
Er war stolz auf sein Werk, und das mit gutem Grund. In den vergangenen Wochen hatte er praktisch rund um die Uhr gearbeitet und dabei eine Software erschaffen, die wie maßgeschneidert zu dem Cyberhelm passte, den der Konzern auf den Markt bringen wollte. In technischer Hinsicht machte er sich keine allzu großen Sorgen, obwohl er den Mehrspielermodus nur begrenzt hatte testen können. Das würde schon alles laufen.
Bauchschmerzen bereitete ihm der Gedanke an das, was danach unweigerlich kommen musste: Verhandlungen. Ron war kein Geschäftsmann. Geld und Verträge interessierten ihn immer nur so weit, wie sie es ihm ermöglichten, in Ruhe zu leben und zu arbeiten. In wenigen Stunden aber würde er einer Gruppe von Menschen gegenübersitzen, die in dieser Hinsicht völlig gegensätzlich dachten. Geschäftsleute, die sich für Computertechnik nur so weit interessierten, wie sie ihnen Geld einbrachte.
Ron schloss die Augen und suchte nach einer bequemen Position in seinem Sitz. Die gleichmäßigen Bewegungen des Zuges ließen seine Müdigkeit überhandnehmen. In den letzten Tagen hatte er nur wenig Schlaf bekommen.
Aber es hatte sich gelohnt. Die Demo-Version war nun auf Hochglanz poliert. Sogar Sandburgen konnte man jetzt bauen, auch wenn er bezweifelte, dass hochrangige Manager daran Interesse hatten. Doch für Jonte war es wichtig gewesen. Er lächelte bei dem Gedanken an seinen kleinen Jungen und glitt in einen traumlosen Schlaf.
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„Sie sind mal wieder dabei, Ihre Kompetenzen zu überschreiten!“, sagte der Chief Executive Officer frostig. Sein Gesicht war unbewegt, doch die schmalen Augen hinter der Brille mit dem Goldrand funkelten bedrohlich.
„Unsere Konzernleitung hat unmissverständlich klargestellt, dass diese Firma sich nicht im Softwaresektor zu engagieren gedenkt. Wir sind kein Gemischtwarenladen. Wir handeln mit Hardware. Unser Ziel ist es, den Anwendern die weltweit beste Computerperipherie zur Verfügung zu stellen, die technisch möglich ist.“
Dr. Gerhardt Fleischmann verdrehte die Augen, als sein Vorgesetzter zum hundertsten Mal aus dem Leitbild der Firma zitierte. Aber er wusste, dass Dong-Min Choi meinte, was er sagte. Die Koreaner hätten keinen treueren Vertreter ihrer Interessen in sein Land schicken können.
Er atmete langsam aus und versuchte, seine innere Ruhe wiederzugewinnen. Diese Angelegenheit ging ihm schon seit Jahren gegen den Strich. Sie saßen in den Räumen des Unternehmens, das sein Vater nach dem Krieg Stück für Stück aufgebaut hatte. Nach dessen Tod war die Leitung an ihn, den einzigen Sohn, übergegangen, und er hatte die „Prometheus AG“ über vierzig Jahre lang erfolgreich weitergeführt.
Doch dann war „Future Computing“ gekommen.
Die Koreaner hatten gezielt nach einer alteingesessenen Firma mit guten Vertriebswegen gesucht, die für eine feindliche Übernahme in Betracht kam, und waren ausgerechnet bei ihm fündig geworden. Glücklicherweise war die Mehrheit der Aktionäre ihm und seinem Vater persönlich verbunden, so dass der Konzern kein so leichtes Spiel gehabt hatte, wie es sich die Strategen ursprünglich vorgestellt hatten. Dennoch hatten die Teilhaber ihn dazu gedrängt, in die Verhandlungen einzutreten, und auch Gerhardt Fleischmann hatte schließlich einsehen müssen, dass seine Firma sich der Globalisierung auf Dauer nicht verschließen konnte.
Daraufhin hatte er beschlossen, das Beste aus der Sache zu machen und die Übernahme so weit wie möglich nach seinen Interessen zu gestalten. Im Ergebnis war er nun „CMO“ – Chief Marketing Officer – für Deutschland, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man wie früher einfach „Vertriebsleiter“ dazu gesagt.
Doch in vielen Punkten ging es nun nicht mehr nach seinem Willen. Er hatte zwar einen wichtigen Posten inne und war durch seinen Vertrag unkündbar, aber er hatte sich der Konzernleitung unterzuordnen, die Dong-Min Choi mit unerschütterlicher Loyalität vertrat. Manches wäre leichter gewesen, wenn das Verhältnis zu ihm nicht so unterkühlt wäre. Aber das war es nun mal, und so kam es ständig zu Auseinandersetzungen.
Dieses neue Produkt aus Korea, das nun auf den Markt kommen sollte, dieser Cyberhelm, war, soweit er es beurteilen konnte, sicherlich eine tolle Sache, aber sein unternehmerischer Instinkt sagte ihm, dass es so nicht funktionieren würde.
Choi vertrat die Ansicht, dass es in der Computertechnik einen natürlichen Regelkreislauf gäbe. Neue Hardware sorgte stets auch dafür, dass neue Software entstand, ebenso wie neue Software die Entwicklung neuer Hardware vorantrieb. Doch er selbst bewertete die Situation anders: Wenn sich ihr Helm nicht gut genug verkaufte, weil dem hohen Anschaffungspreis keine interessanten Anwendungen gegenüberstanden, dann würde sich auch keine Softwareschmiede der Welt die Mühe machen, Spiele für den Helm zu entwickeln. Das gäbe die geringe Stückzahl nicht her. Ein Teufelskreis, der dazu führen würde, dass man das Gerät wieder vom Markt nehmen müsste – mit gewaltigen Verlusten, die letztlich von der Belegschaft aufzubringen wären. Und ehe das Mutterwerk Schaden leidet, würde zuerst die deutsche Tochter geschlossen – es ging hier also um seine Firma und seine Angestellten, für die er sich nach wie vor verantwortlich fühlte.
Aber es war sinnlos. Er hatte mit dem Direktor schon etliche Male immer dieselben Argumente ausgetauscht. Mittlerweile kam er sich vor wie ein Zirkuspferd auf einem Kinderkarussell, das unablässig seine Runde dreht, ohne dabei wirklich voranzukommen.
„Es ist natürlich Ihre Entscheidung, Herr Choi“, sagte er, als der Koreaner mit seinen Ausführungen zum Ende gekommen war. „Wenn Sie das Softwaregeschäft anderen überlassen wollen, bitte. Aber so weit sollten wir uns doch einig sein, dass es für den Vertrieb, für den ich nach wie vor verantwortlich bin, nur von Vorteil sein kann, wenn ein junger begabter Softwareingenieur eine Anwendung schreibt, die die Menschen dazu bewegt, unser Produkt zu kaufen. Ich konnte mich in Berlin von seinem Talent überzeugen. Schauen Sie sich wenigstens einmal an, was er zu bieten hat!“
Der Direktor schwieg nachdenklich.
„Na gut, Herr Dr. Fleischmann. Informieren wir uns darüber, was unser Cyberstar auf dem Softwaremarkt bewegt.“
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Ron schreckte hoch. Einen glühend heißen Moment lang fürchtete er, den Ausstieg verschlafen zu haben. Aber das war kaum möglich, denn dieser Zug endete in Frankfurt. Die altmodischen Zeiger seiner Taschenuhr beruhigten ihn. Er hatte noch zwanzig Minuten Zeit, eventuelle Verspätungen nicht mitgerechnet.
Verschlafen sah er aus dem Fenster, blickte der vorbeijagenden Landschaft hinterher und versuchte, sich auf das bevorstehende Verhandlungsgespräch einzustellen. Er hätte sich einen Berater engagieren sollen. Aber abgesehen davon, dass diese Erkenntnis etwas zu spät kam, kosteten gute Berater Geld, und er war praktisch pleite.
So schwierig wird es schon nicht sein, sagte er sich. Die Sache wird sich an branchenüblichen Preisen orientieren. Wir sind schließlich nicht auf einem orientalischen Basar …
Gab es eigentlich Basare in Südkorea? Er wusste es nicht. Es war ihm auch egal. Alles, was er wollte, war ein vernünftiges Gehalt und …