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Moment, war das wirklich sein Ziel, Angestellter eines Konzerns zu werden?
Womöglich müsste er dann nach Frankfurt ziehen und wäre gezwungen, ständig irgendeinem Vorgesetzten zu erklären, woran er gerade arbeitete? Nein danke. Er war selbstständig und wollte es auch bleiben. Natürlich musste die Kasse stimmen, aber er war sehr zuversichtlich, dass sich sein Spiel gut verkaufen würde. Außerdem sollte es sein Spiel bleiben. Die Rechte daran wollte er auf jeden Fall behalten.
Der Zug hielt, Ron stieg aus und folgte dem Strom der Menschen in Richtung Ausgang. Er sollte am Bahnhof abgeholt werden, hatte man ihm gesagt. Suchend sah er sich nach einem „Meetingpoint“ um, bis er schließlich einen schlanken jungen Mann im Geschäftsanzug entdeckte, der ein Schild hochhielt. Es zeigte das Logo von Future Computing; darunter stand „Herr R. Schäfer“. Ron blieb einen Moment stehen, um den Anblick zu genießen. Endlich fühlte er sich wieder bedeutend.
Dann trat er auf den Angestellten zu und gab sich zu erkennen. Er wurde freundlich begrüßt und zum Firmenfahrzeug geleitet. Am Steuer saß der Mitarbeiter, dem Ron schon am Messestand auf der Funkaustellung gegenübergestanden hatte.
„Guten Tag, Herr Kim!“, sagte er.
Der Koreaner lächelte. „Guten Tag, Herr Schäfer. Schön, Sie zu sehen! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise!“
„Ja, die hatte ich“, behauptete Ron, dem Bahnfahren zuwider war.
„Das freut mich. Bitte steigen Sie ein. Sie werden erwartet.“
Folgsam kletterte der Programmierer in das Auto und versuchte sich zu sammeln. Die Straßen und Häuser zogen an ihm vorbei, ohne dass er es recht wahrnahm. Sein Gastgeber schwieg respektvoll, er schien zu spüren, dass Ron nicht nach Smalltalk zumute war.
Endlich hielt der Wagen vor einem Geschäftsgebäude. Glas, Stahl, Marmor – das übliche Business-Ambiente.
Ein Lift brachte sie in eine der oberen Etagen, wo ein Sitzungsraum vorbereitet war. Er trat ein und blinzelte einen Moment, bis er sich an die blendende Helligkeit gewöhnt hatte. In dem Raum stand ein langer Konferenztisch, an dem knapp 20 Geschäftsleute saßen. Ihre teuren Anzüge und Kostüme wiesen sie als hochrangige Führungspersonen aus. Jeder hatte einen schwarzen Cyberhelm sowie Handschuhe und Gamaschen vor sich liegen.
Ein älterer Mann, ein Europäer, der trotz seiner weißen Haare einen sportlichen und aktiven Eindruck machte, erhob sich und kam auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
„Herzlich willkommen, Herr Schäfer“, sagte er freundlich. „Schön, dass Sie gekommen sind. Wir alle erwarten Ihre Vorführung mit Spannung. Ich habe schon sehr von Ihnen geschwärmt.“ Dann wandte er sich an die Runde. „Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie unseren Gast, Herrn Ron Schäfer!“
Die Männer und Frauen erhoben sich von ihren Stühlen. Ron ging herum und gab allen die Hand. Er hasste solche Situationen, in denen er trotz seiner guten Erziehung ständig mit der Angst kämpfte, irgendwie gegen die Etikette zu verstoßen und sich damit bis auf die Knochen zu blamieren. Aber bislang schien alles gut zu laufen. Ihm wurde ein Stuhl angeboten, und als alle wieder saßen, ergriff der Vertriebsleiter erneut das Wort.
„Meine Damen und Herren“, sagte er, „wie Sie wissen, stehen wir kurz vor der Markteinführung unseres ‚Cyberstar 3‘.“ Ron stutzte. Er war sich ziemlich sicher, dass auf seinem Gerät der Schriftzug ‚Cyberstar 2‘ stand. Konnte es sein, dass es schon wieder ein neues Modell gab?
„Ich bin davon überzeugt, dass dies das beste Produkt ist, das wir jemals auf den Markt gebracht haben.“ Gerhardt Fleischmann überhörte das unwillige Gemurmel einiger Ressortleiter, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlten, und fuhr fort: „Aber uns muss klar sein, dass wir damit Neuland betreten. Unsere Monitore, unsere Soundsysteme und unsere Scanner kann der Anwender für alle Standardanwendungen nutzen. Der Cyberstar funktioniert zwar auch mit herkömmlichen Programmen, aber die Software, die seine wirklichen Stärken nutzt, ist noch nicht geschrieben.“
Er übersah bewusst einen warnenden Blick des Direktors.
„Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass die Menschen einen guten Grund brauchen, um sich für unser Produkt zu entscheiden, und darum freue ich mich, dass dieser junge Mann dabei ist, eine Anwendung zu entwickeln, die die Vorzüge unseres Systems voll zur Geltung bringt. Ich hatte bereits in Berlin das Vergnügen, eine Kostprobe seiner Arbeit zu sehen, und bin davon überzeugt, dass er uns auch heute nicht enttäuschen wird. Herr Schäfer, nun sind Sie an der Reihe.“
Ron stand auf und schaute nervös in die Runde. „Sehr geehrte Damen und Herren“, begann er, ohne recht zu wissen, was er sagen sollte. Er hatte keine Rede vorbereitet.
„Äh – zunächst möchte ich für das in mich gesetzte Vertrauen danken und Ihnen zu Ihrem fantastischen Produkt gratulieren. Die Möglichkeiten, die darin stecken, sind einzigartig, und ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Da die Stärke des Cyberhelms in der realistischen Wiedergabe liegt, habe ich mich für eine Spielwelt entschieden, die der realen Welt eins zu eins nachempfunden ist. Aber zuvor möchte ich Sie mit einem kleinen Einführungsprogramm vertraut machen, dass ich für den Neuanwender konzipiert habe. Wenn Sie nun so freundlich wären, ihre Ausrüstung anzulegen?“
Er packte seinen Laptop aus und verband ihn mit dem Netzwerk des Konferenzraumes, während die Damen und Herren der Runde damit beschäftigt waren, Gamaschen, Handschuhe und Helme anzulegen.
Ron blickte auf den Netzwerkmonitor, der ihm die betriebsbereiten Geräte mit einer Kennnummer und einem grünen Punkt signalisierte. Er startete das Programm. Vor den Augen der Teilnehmer glitt der samtrote Vorhang auf, und die einführenden Übungen begannen. Einmütig pflückten die Führungskräfte virtuelle Äpfel und bewegten die Beine, um sich fortzubewegen.
Schließlich begann das eigentliche Spiel. Ron sah die Inselwelt auf seinem Bildschirm aus der Vogelperspektive. Grüne Punkte bewegten sich darauf – jeder stellte einen Spieler dar. Manche waren in kleinen Gruppen unterwegs, andere einzeln.
Schmunzelnd blickte er in die Runde. Ihm bot sich ein witziger Anblick. Krawattentragende Manager und Damen in modischen Kostümen hatten sich mit schwarzen Helmen und Handschuhen verkleidet. Allesamt ruderten sie wild in der Luft herum und strampelten aufgeregt mit den Beinen. Sie schienen sich köstlich zu amüsieren.
Nach 15 Minuten ließ er das Spiel langsam wegdimmen. Die Helme wurden abgenommen, die Handschuhe ausgezogen, und prompt erfüllte ein munteres Schwatzen den Raum, als man einander mitteilte, was man soeben gesehen und erlebt hatte.
Der Vertriebsleiter klopfte Ron auf die Schulter. „Herr Schäfer, Sie haben sich selbst übertroffen. Ich bin tief beeindruckt.“ Zustimmendes Gemurmel erklang.
Ein junger Mann meldete sich zu Wort. „Es ist ja alles schön und gut, die Grafik ist wirklich fantastisch, aber was soll denn die Spielidee sein? Tauchen da noch feindliche Soldaten auf, gegen die man das Land verteidigen muss, oder irgendetwas in dieser Richtung?“
„Nein“, sagte Ron, „dies ist kein Ballerspiel. Die Spielidee ist eine ganz andere. Mir schwebt X-World als eine Alternative zum realen Leben vor. Nicht jeder kann sich eine Reise in die Karibik erlauben, aber dieses Spiel ermöglicht es ihm trotzdem. Er kann dort sogar auf Dauer wohnen, wenn er will. Er kann Freunde treffen, Häuser bauen, was immer ihm einfällt.“
„Aber wird das nicht langweilig?“, wandte der junge Mann ein, der offenbar eine andere Art von Spielen bevorzugte.
„Wie kann das Leben langweilig sein? Es geht bei X-World nicht um den schnellen Adrenalinkick, sondern um ein langfristig angelegtes soziales Netzwerk. Hier können sich Menschen in einer wunderschönen Umgebung bewegen und einander begegnen. Ich denke schon, dass es dafür einen Markt gibt. Sehen Sie sich nur die Userzahlen der herkömmlichen Social Networks an!“
„Wie stellen Sie sich die fertige Welt vor? Wir haben jetzt eine karibische Insel gesehen – soll es beispielsweise auch Großstädte geben?“, wollte eine Frau in den mittleren Jahren wissen.
„Nein, ich stelle mir vor, dass das Spiel in vorindustrieller Zeit spielt. Vielleicht sogar in der Antike. Wussten Sie, dass es Tausende gibt, die sich regelmäßig treffen, um ein Wochenende lang wie im Mittelalter zu leben? Ich glaube, dass sehr viele Menschen Sehnsucht nach Einfachheit und Ursprünglichkeit haben. Sie suchen einen Gegenpol zu ihrem technisierten und hektischen Alltag. X-World bietet das, und zwar ohne die Nachteile. Es gibt keine lästigen Insekten, keine Seuchen, keinen Gestank. Man muss auch nirgendwo hinfahren, sondern kann bequem von Zuhause aus teilnehmen.“
Es gab keine weiteren Fragen. Die Runde schien beeindruckt. Es wurde Zeit, zum geschäftlichen Teil zu kommen.
Ein älterer Asiate mit Goldrandbrille erhob sich von seinem Platz.
„Das war eine sehr interessante Vorführung, Herr Schäfer, doch nun ruft uns die Pflicht wieder zu anderen Aufgaben. Wir freuen uns sehr, dass Sie an diesem Projekt arbeiten, und wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.“
Ron sah ihn verwirrt an. Er wusste nicht, wer der Mann war, aber die Art und Weise, in der er gesprochen hatte, ließ darauf schließen, dass er in diesem Raum das Sagen hatte.
„Ich dachte, wir wollten uns nun über meine Bezahlung unterhalten?“, sagte er unbeholfen.
„Nun, da liegt sicherlich ein Missverständnis vor. Soweit ich informiert bin, leiten Sie eine eigene Firma. Wir gehen davon aus, dass Sie das Spiel auf eigene Rechnung produzieren und veröffentlichen werden. Wie gesagt freuen wir uns über Ihr Engagement und halten Sie gerne über unsere neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden.“
Ron hatte das Gefühl, als würde der Raum um ihn herum verschwimmen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Alle Arbeit umsonst? Natürlich wollte er gerne unabhängig bleiben, aber so konnte es nicht funktionieren. Für die Entwicklung einer kompletten Spielwelt brauchte er ein großes Team, und dazu reichten seine finanziellen Möglichkeiten bei weitem nicht aus. Hilflos sah er zu Gerhardt Fleischmann herüber, der unmerklich den Kopf schüttelte.
Ron verstand nicht, was hier vorging, aber er sah ein, dass er im Moment keine andere Möglichkeit hatte, als seine Vorführung zu beenden und sich einen würdevollen Abgang zu verschaffen. „Nun, dann danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und für die Zeit, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben“, sagte er so lässig wie er konnte und begann, seinen Laptop einzupacken.
Dong-Min Choi nickte ihm zu, und verließ den Raum, gefolgt von seinen Assistenten, die wie ein Kometenschweif hinter ihm hereilten. Nach und nach strebten auch die anderen Führungskräfte dem Ausgang zu und zückten im Gehen ihre Smartphones. Hilfesuchend wandte Ron sich an Gerhardt Fleischmann. „Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt“, sagte er.
„Ich mir auch“, knurrte dieser. „Aber verlieren Sie nicht den Mut. Ich bin sicher, dass wir eine Lösung für Sie finden werden.“ Er sah sich um und wartete einen Moment, bis die letzten Nachzügler den Raum verlassen hatten. Dann beugte er sich neben Rons Ohr und fügte leise hinzu: „Unser Chauffeur wird Sie zurück zum Bahnhof bringen. Wir treffen uns in zwei Stunden im Restaurant des Hotels Excelsior.“
Danach trat er einen Schritt zurück und fuhr betont laut fort: „Herr Schäfer, wir freuen uns, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, uns Ihre Arbeit vorzustellen. Diese Präsentation war wirklich sehr inspirierend. Kommen Sie gut nach Hause, und lassen Sie bitte wieder von sich hören! Mein Assistent wird Sie zum Auto begleiten. Auf Wiedersehen!“
Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Als Gerhardt Fleischmann beim Hotel Excelsior vorfuhr, war Ron Schäfer schon bei seinem dritten Glas Bier. Er fühlte sich am Boden zerstört. Von der Hochstimmung, die ihn auf der Hinreise beflügelt hatte, war nichts übriggeblieben.
Ron kämpfte mit seiner Enttäuschung. Es war so ungerecht. Die harte Arbeit der letzten Wochen, seine neuen Hoffnungen, seine ehrgeizigen Ziele, alles vergeblich. Und er war sich so sicher gewesen, endlich wieder auf der Siegerstraße zu sein. In Gedanken ging er noch einmal die Gespräche durch, die er mit den Vertretern von Future Computing geführt hatte, aber er konnte keinen Fehler entdecken, fand keinen Hinweis auf ein mögliches Missverständnis. Auch die Präsentation war gut gelaufen. Soweit er das beurteilen konnte, waren alle Anwesenden von seinem Spiel begeistert gewesen, auch wenn es hier und da einige kritische Fragen gegeben hatte. Warum also dieser abrupte Sinneswandel?
Ron sah auf die Uhr. Ob dieser Fleischmann wirklich noch kommen würde? Er war schon zehn Minuten über die Zeit. Heute würde ihn nichts mehr wundern.
Andererseits – er mochte den älteren Herrn mit dem verschmitzten Lächeln und hatte den Eindruck, dass ihm zu trauen war. Auch wenn Ron die Zusammenhänge in der Firma nicht kannte, schien es ihm doch offensichtlich, dass das abrupte Ende der Konferenz manche der Anwesenden überrascht hatte. Dies war vermutlich auch der Grund für dieses inoffizielle Treffen in der Hotelbar. Wenn es denn tatsächlich noch stattfinden sollte.
Ein leises Räuspern ließ ihn hochschrecken. Gerhardt Fleischmann stand an seinem Tisch, trotz seines fortgeschrittenen Alters noch immer eine imposante Erscheinung. Sein Anzug wirkte erlesen, aber dezent. Seine weißen, kurzgeschorenen Haare vermittelten eine eigenartige Mischung aus Jugendlichkeit und Erfahrung. Er hatte eine große markante Nase und lustige Fältchen um die Augen.
„Nun lassen Sie den Kopf mal nicht hängen, mein Junge“, sagte er und klopfte Ron väterlich auf die Schulter. Ohne viele Umstände nahm er sich einen Stuhl, winkte den Ober heran und bestellte zwei Bier.
„Möchten Sie etwas essen?“, fragte er, als sie wieder alleine am Tisch saßen.
Ron schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „ich habe keinen Hunger.“
„Es tut mir wirklich leid, was da vorhin passiert ist“, sagte der Vertriebsleiter. „Leider bin ich nicht mehr Herr in meinem Haus.“ Ron sah ihn verständnislos an.
„Der Betrieb ist vor ein paar Jahren von den Koreanern übernommen worden“, erläuterte er. „Das war wirtschaftlich nicht zu vermeiden, und vieles ist anders geworden seitdem. Ich habe einen sicheren Job, aber die letzten Entscheidungen hinsichtlich der Firma werden nun in Seoul getroffen.“ Seine Stimme klang bitter.
„Und was heißt das jetzt für mich?“, fragte Ron.
„Sie haben es doch gehört: Future Computing hat kein Interesse daran, X-World zu vermarkten.“
„Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was das für mich bedeutet?“, entgegnete Ron heftig. „Wir hatten eine Abmachung!“
„Ja, das weiß ich, und bitte glauben Sie mir, wenn ich jemandem mein Wort gebe, dann stehe ich dazu. Aber leider sind mir, was Future Computing angeht, die Hände gebunden.“
„Na prima“, gab Ron bitter zurück, „Ihnen tut alles herzlich leid, und ich kann sehen, wo ich bleibe.“
Gerhardt Fleischmann blieb unbeeindruckt.
„Herr Schäfer, ich halte Sie für ausgesprochen talentiert, und X-World ist das Beste, was ich seit langem gesehen habe.“
„Danke für die Blumen.“ Ron konnte seinen Sarkasmus nicht zügeln. „Ich bin auch sehr zufrieden mit mir, wenn ich das so sagen darf, und wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich das Programm selbst auf den Markt bringen. Leider fehlen mir, offen gestanden, die Mittel dazu.“
„Trotzdem bitte ich Sie weiterzumachen.“
„Haben Sie nicht gehört?“, Ron wurde lauter. Ihm war jetzt alles egal. „Ich bin pleite! Ich kann nicht einmal mehr meine Miete bezahlen!“
„Würden Ihnen fünftausend als Vorschuss erst einmal genügen?“, fragte Gerhardt Fleischmann. Ron glaubte, sich verhört zu haben.
„Was für ein Vorschuss?“, fragte er verwirrt. „Ich denke, das Geschäft mit Future Computing ist gestorben?“
„Ist es auch.“
„Woraufhin bekomme ich dann einen Vorschuss?“
„Auf Ihren Vertrag mit der Prometheus Software AG“, sagte der Geschäftsmann trocken. „Es gibt da nur ein kleines Problem …“
„Und das wäre?“, fragte Ron misstrauisch.
„Die Firma existiert noch nicht.“
Ron starrte ihn entgeistert an.
„Hören Sie“, fuhr Gerhardt Fleischmann fort, „ich möchte Sie nicht mit Details langweilen, die Sie vermutlich ohnehin nicht interessieren. Sie können mir vertrauen. Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie gut können, und ich werde das tun, was ich gut kann.“
Er wirkte motiviert und entschlossen. Ron fühlte sich auf unerklärliche Weise sicher in seiner Gegenwart.
„Gut“, sagte er nach kurzem Zögern, „ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren. Also, wie geht es jetzt weiter?“
Der Geschäftsmann griff in die Innentasche seines Sakkos und zog einen dicken Umschlag heraus. „Hier ist erst einmal Ihre Anzahlung“, sagte er. „Den Papierkram regeln wir, wenn ich mit der Firmengründung so weit bin. Bis dahin muss sich jeder von uns auf das Wort des anderen verlassen.“
Das ist nicht die schlechteste Basis, dachte Ron und streckte seine Hand über den Tisch. Gerhardt Fleischmann ergriff sie ernst und schüttelte sie. „Auf gute Zusammenarbeit“, sagte er.
Die beiden Männer sahen sich an. Der ältere räusperte sich. „Sie haben vermutlich mitbekommen, dass es einen neuen Prototyp gibt?“
„Ja“, sagte Ron, „Sie erwähnten bei der Präsentation den Cyberstar 3. Ich dachte erst, Sie hätten sich versprochen.“
„Nein, nein, unsere Entwicklungsabteilung arbeitet momentan mit Hochdruck. Sie wollen den technologischen Vorsprung gegenüber den Mitbewerbern auf jeden Fall halten. Das Neue am Cyberstar 3 ist das haptische Modul.“
„Das was?“ Ron hob den Kopf. Sein Interesse war augenblicklich geweckt.
„Das haptische Modul. Damit kann man nicht nur sehen und hören, sondern auch tasten.“
„Schon klar. Aber wie …“
„Haben Sie schon einmal von künstlichen Muskeln gehört? Das Zeug ist faszinierend. Ein Polymer, das auf elektrischen Strom reagiert. Ohne Strom ist es schlaff wie ein leerer Luftballon, aber wenn man eine Spannung anlegt, fängt es an zu zucken. Aus diesem Material werden die neuen Cyberhandschuhe gebaut. Unsere Techniker haben einen Chip entwickelt, der es erlaubt, einzelne Punkte gezielt anzusteuern, so dass man einen Tasteindruck simulieren kann. Ihre nächste Aufgabe besteht darin, diese Option in Ihr Spiel zu implementieren. Suchen Sie sich einen Assistenten. Es ist wichtig, dass wir so schnell wie möglich an den Markt gehen.“
Unwillkürlich begann Ron, die Informationen in Algorithmen umzusetzen. Dies war Neuland für ihn. Aber wenn das mit den Tasteindrücken wirklich funktionierte, wäre es genial. Gedankenverloren griff er nach seiner Serviette und skizzierte ein Datenmodell darauf. Wie viele Bits würde die Steuerung des haptischen Moduls wohl benötigen? Hoffentlich gab es brauchbare technische Informationen dafür …
Beinahe hatte er vergessen, wo er sich befand.
Gerhardt Fleischmann lächelte. „Ich dachte mir, dass Sie das reizen würde“, sagte er. „Aber nun müssen Sie sich beeilen. Ihr Zug fährt in zwanzig Minuten.“
4. SCHÖPFUNG, DIE ZWEITE
Von der Rückfahrt bekam Ron ebenso wenig mit wie von der Hinfahrt, die er fast komplett verschlafen hatte. Zwar blieb er diesmal wach, doch dachte er so intensiv über das neue Projekt nach, dass er seine Umwelt praktisch vergaß.
Der Gedanke an eine Spielwelt, die nicht nur Bilder und Geräusche, sondern auch Tasteindrücke vermittelte, faszinierte ihn. Allerdings erforderte sie einen völlig anderen Aufbau. Zusätzlich zu Form und Farbe musste jedes Ding nun auch noch Daten zur Haptik beinhalten. Das bedeutete, dass er mit seiner Welt noch einmal neu beginnen musste – aber das schien ihm die Sache wert zu sein.
Als er endlich zuhause eingetroffen war, fuhr er sofort den Rechner hoch. Die Sandburgen wiesen schon in die richtige Richtung, überlegte er. Sandkörner könnten für das haptische Modell in etwa das sein, was die Pixel im Grafikbereich sind. Diesmal wäre der Ausgangspunkt seiner Schöpfung folglich eine Wüste.
Ein lautes Knurren riss ihn aus seinen Überlegungen. Es kam von seinem Magen, der ihn daran erinnerte, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte.
Ron hasste solche Einbrüche der Realität in seine schöpferischen Prozesse, aber er wusste, dass er besser auf diese Signale hörte, sonst würde er in nächster Zeit keinen klaren Gedanken fassen können. Widerstrebend erhob er sich und ging hinüber in die Küche. Der Kühlschrank enthielt eine Tube Senf, einen Rest Ketchup und eine Packung Milch mit abgelaufenem Verfallsdatum. Seine Vorräte an Brot und Müsli hatte er am Wochenende mit Jonte vertilgt. Ron fluchte leise vor sich hin. Im Tiefkühlschrank waren noch Backofenpommes und Fischstäbchen, aber darauf hatte er jetzt keine Lust. Er beschloss, zum Imbiss um die Ecke zu gehen. Ein Döner würde seinem Magenknurren sicher abhelfen.
Eine halbe Stunde später saß er an einem kleinen Esstisch und starrte geistesabwesend auf seinen leer gegessenen Teller mit der schmuddeligen rot-weiß gewürfelten Tischdecke darunter. Ihre Struktur erinnerte ihn an eine Datenmatrix. Angenommen, der eingetrocknete Senffleck dort enthielte die haptischen Informationen, während der Teller – nein, das brachte nichts. Er rief sich zur Ordnung. Solange er kein Datenblatt hatte, waren seine Spekulationen reine Zeitverschwendung. Er sollte lieber …
Am Nebentisch klingelte ein Handy und warf ihn aus seinen Gedankengängen. Irritiert schaute er sich um.
Ein schlaksiger junger Mann mit schulterlangen dünnen Haaren fischte sein lärmendes Mobiltelefon aus der Tasche und begann eine längere Unterhaltung. Offensichtlich war es ihm völlig egal, dass alle im Raum mithören konnten. Vielleicht gefiel es ihm sogar, denn er prahlte mit seinem Sieg bei irgendeinem Computerwettbewerb.
Ron hörte notgedrungen zu und verzog dann verächtlich das Gesicht. Er erinnerte sich, die Ankündigung des Wettbewerbs gelesen zu haben, und war schon damals über die Dreistigkeit der Veranstaltung empört gewesen. „eGames Berlin“ – was für ein hochtrabender Titel für eine bessere LAN-Party im Hinterzimmer einer Berliner Hackerkneipe! Aber immerhin schien der Betreiber über einen gesunden Geschäftssinn zu verfügen. Schließlich hatten die Medien darüber berichtet und ihm kostenlose Werbung verschafft, worauf er es wohl auch abgesehen hatte. Und dieser junge Mann hier war nun der Sieger. Offensichtlich verstand er also etwas von Computern und von Spielen.
Ron überlegte, ob ihm der Zufall hier vielleicht den neuen Assistenten über den Weg schickte, zu dem ihm Gerhardt Fleischmann so eindringlich geraten hatte. Eigentlich arbeitete er am liebsten allein, aber für die Tests brauchte er dringend Unterstützung. Er konnte beim besten Willen nicht zugleich in der virtuellen Welt eingeloggt sein und am Rechner die laufenden Prozesse überwachen. Er hatte aber auch weder Zeit noch Lust, sich auf eine langwierige Suche nach einem geeigneten Mitarbeiter zu begeben. Also warum es nicht mit dem hier versuchen? Das Risiko wäre nicht größer als bei jedem anderen.
Er wartete geduldig, bis der junge Mann sein lautstarkes Telefonat beendet hatte, und ging dann hinüber zu dessen Tisch.
„Guten Abend! Darf ich den Berliner Meister zu einem Bier einladen?“
Der Angesprochene brachte es fertig, zugleich geschmeichelt und verwirrt auszusehen.
„Ja, danke, gerne … äh … Woher kennst du mich?“
„Na, es stand ja groß in der Zeitung“, sagte Ron und grinste in sich hinein. Sollte der junge Mann sich wirklich nicht im Klaren darüber sein, wie viele Zuhörer er mit seinem Telefonat unterhalten hatte?
„Mir kam da eine Idee, als ich dich gesehen habe“, fuhr er fort. „Wir haben nämlich etwas gemeinsam …“
„Und das wäre?“, fragte der junge Mann argwöhnisch.
„Eine Leidenschaft für Computerspiele“, antwortete Ron, setzte sich und legte seine Visitenkarte auf den Tisch wie ein Skatspieler, der einen Trumpf ausspielt. „Und wie es der Zufall so will, bin ich gerade auf der Suche nach einem fähigen Mitarbeiter.“
„Ich hab’ schon einen Job, Mann“, antwortete Yannick abweisend. Anscheinend war ihm die Sache nicht geheuer. Trotzdem griff er nach der Visitenkarte und musterte sie nachdenklich. Eine Weile lang sagte er gar nichts, dann blickte er Ron unverwandt mitten ins Gesicht.