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„Hast du ‚Wargames‘ geschrieben?“, fragte er beeindruckt.
Ron nickte.
„Das war das genialste Spiel, das ich je gespielt habe“, sagte der Langhaarige. „Aber ich kann verstehen, dass manche Leute mächtig sauer auf dich sind. Viele haben eine Menge Kohle in das Game investiert, und das war alles weg nach dem Crash …“
„Warum können wir die Vergangenheit nicht endlich mal ruhen lassen?“, gab Ron heftig zurück. Er erschrak über sich selbst, doch er konnte es einfach nicht ertragen, ständig an die gleiche Geschichte erinnert zu werden.
„Ja, Mann, schon okay“, antwortete Yannick unbeeindruckt. „Ich sag doch, das Spiel war genial! Und nun, is’ was Neues am Start?“
„Ja. Aber die Sache ist noch geheim. Wirklich schade, dass du kein Interesse hast!“ Ron stand auf und schickte sich an, zu seinem Tisch zurückzugehen.
„Moment!“, sagte der junge Mann hastig. „Ich hab zwar ’nen Job, aber das ist nur für ein paar Stunden die Woche an der Tankstelle. Für Veränderungen bin ich durchaus offen. Was muss ich tun? Und was bekomme ich dafür?“
Ron lächelte. Er setzte sich wieder und fuhr im Verschwörerton fort: „Du wirst Entwicklungsassistent und Testspieler. Und über deine Bezahlung reden wir, wenn ich weiß, was du draufhast. Für den Anfang bekommst du von mir das Gleiche, was sie dir an der Tankstelle bezahlen. Einverstanden?“
„Klar, Mann!“ Yannicks Augen leuchteten.
„Kannst du gleich anfangen?“
„Von mir aus heute Abend. Ich muss bis neunzehn Uhr arbeiten.“
„Super, dann erwarte ich dich um halb acht.“
Als Ron nach Hause kam, stand ein Paketbote vor der Haustür und studierte andächtig die Aufschriften an den Klingelschildern.
„Wollen Sie zufällig zu mir?“, fragte Ron.
„Dit kommt druff an, wie se heißen!“
„Mein Name ist Ron Schäfer, und ich wohne hier.“
„Ja, dann ist dit für Sie.“
Er hielt ihm das Unterschriftenpad entgegen und händigte ihm ein großes Paket aus. Ron balancierte es durchs Treppenhaus nach oben, schloss seine Wohnungstür auf und nahm es mit hinein.
Kurz darauf hielt er den neuen „Cyberstar 3“ in seinen Händen. Optisch unterschied dieser sich kaum von der vorherigen Version, außer dass der Helm nun mit hauchfeinen Silberstreifen verziert war, die ihn weniger klobig erscheinen ließen.
Ron angelte nach der beiliegenden DVD und schob sie in das Laufwerk seines Computers. Dann verband er die Steuerbox mit seinem Rechner, legte Gamaschen und Handschuhe an und setzte sich den Helm auf den Kopf.
Sofort hatte er den Eindruck, in einer riesigen dunklen Halle zu stehen. Vor ihm schwebte ein leuchtender Hinweis auf das Demonstrationsprogramm in der Luft. Ron streckte seine Hand nach dem O. K.-Button aus und bemerkte einen leichten Widerstand im Handschuh, als er ihn berührte. Es fühlte sich tatsächlich so an, als würde er einen überdimensionalen Druckknopf betätigen.
Schlagartig wechselte die Umgebung. Ein asiatischer Gemischtwarenladen erschien. Gar nicht schlecht gemacht, befand Ron, sah sich um, bewunderte die farbenprächtigen Auslagen von Obst und Gemüse und griff schließlich nach einer Orange.
Wenn er sich unmittelbar auf seine Hände konzentrierte, konnte er die Kontraktionen des Materials ausmachen, überließ er sich jedoch unbefangen der Bilderwelt, dann fühlte es sich in der Tat so an, als berührte er eine echte Frucht. Etwas dumpf kam es ihm vor, etwa so, als betaste man seine Umwelt durch einen Handschuh. Aber dennoch war es eine Sensation. Prüfend wog er die Orange in der Hand. Sogar Gewicht konnten die Cyberhandschuhe imitieren!
Er schlenderte durch den virtuellen Laden, tauchte die Hände in ein Wasserfass, ließ Bürsten und Pfannen durch seine Finger gleiten und staunte über die Intensität der Illusionen. Schließlich beendete er das Demonstrationsprogramm und legte die Ausrüstung ab. Ron war beeindruckt.
Mithilfe seines Dateimanagers durchforstete er die DVD nach technischen Informationen, und fand schließlich einen Ordner „Manuals“, der PDF-Dateien enthielt – in Koreanisch und Englisch. Er öffnete „CS3_hapticmodul_technical_informations.pdf“ und überflog den Text.
Es war, wie er vermutet hatte. Das Cyberset war in der Lage, optische Informationen in haptische umzusetzen. So wie bei dem Druckknopf, den er zu Beginn der Demo betätigt hatte. Wenn er mit seiner virtuellen Hand einen Gegenstand erreichte, zog sich der Handschuh an den entsprechenden Stellen zusammen und simulierte auf diese Weise eine Berührung. Allerdings war das ein ziemlich plumpes Verfahren. Um die Möglichkeiten des neuen Handschuhs wirklich auszureizen, brauchte es entsprechende Datenmodelle, die mit den jeweiligen Objekten verknüpft waren. Das hieß, es blieb dabei, er musste er mit seiner Welt noch einmal von vorn beginnen.
Also, auf ein Neues. Er begann seine Tastatur zu bearbeiten. Bald darauf erschien auf dem Bildschirm eine Einöde. Sand und Steine, so weit das Auge reichte. Ron zog den Cyberhandschuh über, ließ den Sand durch die Finger gleiten, presste ihn in der Faust zusammen. Schließlich nickte er zufrieden. Der Tasteindruck war genauso, wie er ihn sich vorstellte. Dann griff er nach einem Stein. Er fühlte sich hart und schwer an. Perfekt.
Als Nächstes brauchte er Wasser.
Er sah den dafür nötigen Programmcode praktisch schon fertig vor sich. Gehorsam folgten seine Finger den Gedanken. Bald darauf erschien auf dem Bildschirm eine gewaltige Quelle. Anfangs versickerte das kostbare Nass spurlos im Wüstensand, aber schon bald entstand ein kleiner Bach, der sich mutig seinen Weg suchte. Ron fügte noch ein paar kleinere Quellen hinzu, und der Bach wuchs zusehends zu einem mächtigen Strom an.
Der Programmierer zoomte in die Kartenübersicht und gab dem Wasser mit der Maus einen groben Verlauf vor. Daraufhin teilte sich der breite Strom in vier Hauptarme auf, die verschiedene Bezirke der Spielewelt umflossen. Hier werden später unterschiedliche Länder entstehen, dachte Ron zufrieden, dann wandte er sich wieder dem ursprünglichen Ausschnitt zu.
Die tropischen Pflanzen hatten ihm in der Demo gut gefallen. Er machte sich daran, die entsprechenden Programmabschnitte in den Quelltext zu kopieren und mit haptischen Daten zu versehen.
Als er sich dazu entschloss, eine Pause einzulegen, war er bereits ganz zufrieden mit dem Ergebnis: Er hatte einen paradiesischen Garten erschaffen, der nicht nur gut aussah, sondern sich auch sehr echt anfühlte.
Er reckte sich und dachte über seine weiteren Schritte nach. Nun würde es schwieriger werden. Tiere und Menschen, die sich bewegten und miteinander interagierten, erforderten eine wesentlich anspruchsvollere Programmierung als Pflanzen, die an einem Ort verwurzelt waren. Darum konnte er die vorhandenen Daten nicht so einfach übernehmen. Was er brauchte, war eine Art virtuelle Lehmfigur als Basis, an die er dann die Feinheiten andocken könnte. Also würde er ein Tool schreiben, das Grafik- in Haptikdaten umrechnete, und so einen virtuellen Gipsabdruck erzeugen, den er anschließend manuell nachbearbeiten könnte.
Die Nachbearbeitung wäre die richtige Aufgabe für seinen neuen Assistenten, fiel ihm ein. Wollte der nicht heute Nachmittag kommen? Ron war sich nicht sicher, er hatte die Orientierung in der Zeit mal wieder völlig verloren.
Er vertiefte sich in die Programmierung des neuen Tools. Glücklicherweise war die Sache nicht übermäßig kompliziert. Fühlen und Sehen hatten offenbar viel mehr Gemeinsamkeiten, als ihm anfangs klar gewesen war.
Als erstes Objekt für die Umrechnung wählte er das, was ihm am vertrautesten war: einen menschlichen Körper männlichen Geschlechts. So konnte er am besten überprüfen, wie realistisch sich das Ergebnis anfühlte.
Ron suchte die entsprechende Grafikdatei heraus. Sie zeigte einen athletisch gebauten Mann in der Blüte seiner Kraft. Neidisch sah der Programmierer auf dessen durchtrainierten Oberkörper und zog unwillkürlich seinen deutlich weniger ansehnlichen Bauch ein. Er war zwar nicht gerade dick, dazu kam er zu selten zum Essen, aber etwas Sport würde ihm sicherlich guttun.
Ron startete die Umrechnungsprozedur. Ein Fortschrittsbalken erschien auf dem Bildschirm und zeigte die verbleibende Zeit an. Als er bei siebzehn Prozent stand, klingelte es an der Tür.
Ron öffnete. Vor ihm stand Yannick und grinste.
„Hallo Herr Schäfer, ich melde mich zum Dienst!“
„Ron, bitte. Sonst fühle ich mich so alt … Komm rein!“ Er machte eine einladende Handbewegung. Yannick trat durch die Tür und sah sich neugierig um.
„Hier entlang!“ Ron führte ihn in sein Arbeitszimmer. Sofort fiel Yannicks Blick auf den Cyberhelm. „Cool“, murmelte er ehrfürchtig.
„Ja“, bestätigte Ron, „das Ding ist in der Tat das Beeindruckendste, was ich an Computertechnik je gesehen habe – und du wirst damit arbeiten. Sei vorsichtig, es ist ein Prototyp!“
Yannick war begeistert. Ron warf einen Blick auf den Monitor und stellte fest, dass der Umwandlungsprozess abgeschlossen war. „Du kommst gerade recht“, meinte er.
Yannick folgte seinem Blick und sah den nackten Mann auf dem Bildschirm, dessen 3-D Gestalt langsam rotierte.
„Bist du schwul oder was?“, fragte er grob. „Das sage ich dir gleich, mit mir läuft da gar nichts!“
Ron sah ihn verdutzt an. „Nein! Wie kommst du darauf?“
Dann begriff er. Für einen Außenstehenden war es in der Tat ein merkwürdiger Anblick.
„Warte, ich erkläre dir, worum es geht …“
Bald darauf kam Leben in die virtuelle Lehmfigur. Yannick lag auf dem Sessel und trug das Cyberkit, während Ron am Rechner saß und die Einlog-Prozedur überwachte.
„Wie ist es?“, fragte er Yannick über das Mikrofon. Anders war keine Verständigung möglich, denn der neue Helm dämpfte die Außengeräusche noch besser ab als der alte.
„Genial“, klang es aus dem Lautsprecher. Yannicks Beine bewegten sich rhythmisch, er lief durch den virtuellen Garten und erkundete ihn.
„Hey, dahinten wachsen Bananen, darf ich die essen?“
„Klar“, antwortete Ron. „Du darfst von allen Früchten essen. Nur bleib unbedingt von dem Baum in der Mitte des Gartens weg. Das ist der direkte Zugang zum Terminal, der ist zurzeit noch ungeschützt, und du könntest die Welt damit zum Absturz bringen.“
„Ja, is jut“, nuschelte Yannick und marschierte weiter zu dem Bananenbaum, den er gesehen hatte. Unterdessen ließ Ron sein Umrechnungstool weitere Grafikdateien bearbeiten. Entsprechend tauchten nach und nach neue Tiere im Garten auf. Dem Assistenten kam die Aufgabe zu, sie aus der Nähe zu betrachten und ausgiebig zu berühren. Aufgrund seiner Angaben kalibrierte Ron die Haptikdateien. Viel war da allerdings nicht mehr abzugleichen, stellte er befriedigt fest. Das Umrechnungstool brachte schon sehr brauchbare Ergebnisse zustande.
Es zeigte sich bald, dass Yannick und er etwas gemeinsam hatten. Auch der junge Mann konnte Raum und Zeit völlig vergessen, wenn er vor einem Computer saß oder, wie in diesem Fall, bequem in einem Sessel lag und in virtuellen Sinneseindrücken geradezu badete. Die Stunden vergingen, schließlich hatten sie alle Tierdateien konvertiert.
„Mensch, das war krass“, sagte Yannick, als sie anschließend noch ein Bier zusammen tranken. „Vor allem der Tiger ist cool, ich hab mich erst gar nicht getraut, ihn anzufassen. Als der mich so angesehen hat, ging mir echt die Muffe!“
Ron nickte zufrieden. „Der Tiger war der besondere Wunsch meines Sohnes“, sagte er.
„Du hast einen Sohn? Wo ist er?“
„Bei seiner Mutter. Es lief in der letzten Zeit nicht besonders gut mit uns. Computer und Beziehungen passen nicht so recht zusammen …“ Rons Stimme klang plötzlich belegt.
Yannick nickte bedächtig. Er kannte diese Erfahrung.
„Weißt du, was deiner Welt noch fehlt?“, fragte er unvermittelt. „Ich meine, dieser Streichelzoo ist ja ganz nett, aber wie wäre es mit ein paar schönen Frauen?“
Ron grinste ihn an. „Gleich ein paar?“
„Naja, eine wäre auch schon ein Fortschritt.“
„Gibt es da eine im wirklichen Leben?“
„Nee, in letzter Zeit nicht. Wie du so richtig sagtest: Computer und Beziehungen passen schlecht zusammen.“
Ron schwieg nachdenklich.
Dann fragte er unvermittelt: „Hast du Lust auf ein Experiment?“
„Ein Experiment? Was denn für eins?“
„Nun, für das Spiel hatte ich ohnehin Bots geplant, die sich am Psychogramm der User orientieren. Aber ich habe noch eine andere Idee …“
„Und zwar?“
„Wie denkst du über Hypnose?“
„Schwachsinn. All diese Shows im Fernsehen, wo Menschen irgendwelche verrückten Sachen machen, weil jemand es ihnen befiehlt – ist doch alles nur Fake!“
„Mag sein. Aber das, was ich vorhabe, hat damit auch nichts zu tun. Stell dir vor, dein Unterbewusstsein wäre ein riesiger Datenspeicher – so eine Art Festplatte. Wenn du dich auf die Hypnose einlässt, dann wird es dir vorkommen, als würdest du einschlafen. In Wirklichkeit aber bist du wach und gibst mir Zugriff auf deine unterbewussten Daten.“
Yannick überlegte einen Moment. „Und was machst du dann damit?“, fragte er vorsichtig.
„Ich rufe die Informationen ab, die ich für mein Bot-Programm brauche, und bastle die perfekte Traumfrau für dich zusammen. Wir könnten das auch über ein Frage- und Antwortspiel machen, aber das würde etwa drei Stunden dauern, und die Ergebnisse wären längst nicht so präzise. Wie gesagt, es ist ein Experiment. Traust du dich?“
Yannick zögerte.
„Kann dabei auch was schiefgehen?“, fragte er unsicher.
„Nein“, beteuerte Ron, „ich habe das studiert. Das ist eine todsichere Sache.“
Yannick war beruhigt. „Hört sich spannend an. Was muss ich tun?“
„Oh, das ist ganz einfach“, sagte Ron, während er sich wieder an den Rechner setzte und den Programmordner durchsuchte. „Ich habe vor ein paar Jahren mal eine Software dazu geschrieben. Du folgst einfach den Anweisungen. Bist du bereit?“
„Klar doch.“ Er streckte sich auf dem Sessel aus, und Ron startete das Programm. Sphärische Klänge erfüllten den Raum. Auf dem Bildschirm erschien ein Mandala, dessen Farben sich unmerklich, aber stetig veränderten. Eine ruhige Stimme erklang. „Spüre deinen Atem …“, begann sie.
Das war das Letzte, an das Yannick sich erinnern konnte.
Als er wieder wach wurde, reichte Ron ihm lächelnd den Cyberhelm. Yannick setzte ihn auf und fand sich in dem paradiesischen Garten wieder, in dem er die letzten Stunden am laufenden Band Tiere gestreichelt hatte. Die Sonne ging gerade unter; es war ein wunderschöner Abend.
„Hallo Yannick“, sagte jemand hinter ihm.
Ein angenehmer Schauer lief seinen Rücken hinunter. So eine schöne Stimme hatte er noch nie gehört. Samtweich und dennoch ausdrucksstark.
Er drehte sich um und vergaß zu atmen. Er hätte nicht in Worte fassen können, wie seine Traumfrau aussehen sollte – aber hier stand sie vor ihm und lächelte ihn an.
Dann fasste sie ihn bei der Hand und gemeinsam gingen sie im Garten spazieren. Die Bewegungen ihrer beiden Körper harmonierten perfekt. Es war wie ein Tanz, und Yannick kam es so vor, als hätten sie sich schon immer gekannt.
5. ES PASSIERT …
Lutz schloss zufrieden die Kalkulationstabelle und genehmigte sich einen Whisky. Seine Rechnung ging auf. Seit den „eGames Berlin“ waren eine Menge neuer Leute im „Bit und Bytes“ aufgetaucht und hatten seine Umsätze nahezu verdoppelt: Gamer, Zocker, Hacker – und leider auch jede Menge Möchtegerns. Er schnaubte verächtlich bei dem Gedanken an die vielen Klugschwätzer, die er seitdem zu ertragen hatte, aber was soll’s, dachte er, solange sie ihre Getränke bezahlen …
Auch sein anderes Geschäftsfeld lief derzeit hervorragend, doch das tauchte in keiner offiziellen Abrechnung auf. Neben seiner Arbeit hinter dem Tresen war Lutz noch als, nun ja, „Dienstleister in speziellen Netzwerkfragen“ tätig. Den Ausdruck „Industriespionage“ empfand er als unpassende Bezeichnung für diesen Service. Er sah sich lieber als eine Art Robin Hood, der den Armen und Unterdrückten eine Chance bot. Denen nämlich, die das nötige Kapital für langwierige Entwicklungen nicht aufbringen konnten oder wollten und darum lieber mal dem Klassenprimus über die Schulter schauten.
Robin Hood hatte den Reichen das Geld weggenommen und es den Armen gegeben. Er, Lutz Singer, nahm niemandem etwas weg. Deswegen fand er das böse Wort „Datendiebstahl“ ebenso unpassend. Er stahl nicht, er kopierte nur. Und das brachte ihm wesentlich mehr ein als dieser ganze Kneipenbetrieb hier.
Er grinste selbstgefällig. Er war der Beste. Das System, in das er nicht hineinkam, musste erst noch entwickelt werden. Aber was viel wichtiger war und ihn von Tausenden unterschied: Er konnte nicht nur überall eindringen, sondern es gelang ihm auch, dabei unbemerkt zu bleiben und seine Spuren zu verwischen. Diese Fähigkeiten hatten ihn zu einem gefragten Mann in der Branche werden lassen, auch wenn er aus naheliegenden Gründen keine Werbung für sich machte. Das Geschäftsmodell war denkbar einfach: Bargeld und keine Fragen. Er trat dabei als Vermittler für einen großen Unbekannten auf, der angeblich im Hintergrund die Jobs erledigte, wobei es ihm schnuppe war, ob seine Kunden ahnten, dass er selbst dieser Unbekannte war.
Die Sache hatte nur einen Haken: Damit er das viele Geld auch ausgeben konnte, ohne Verdacht zu erwecken, musste seine Kneipe gut laufen. Sie sollte wenigstens den Anschein erwecken, als ob sie eine Goldgrube wäre.
Nur noch ein paar Jahre, tröstete er sich. Bald hätte er genug beisammen, um sich einen schönen Ruhestand zu gönnen. Irgendwo in der Karibik vielleicht. Das plante er schon lange – und wenn Ron damals nicht so einen Mist gebaut hätte … Wie üblich verdrängte er seine eigenen Anteile an dem Vorfall und genoss die wärmende Energie des Hasses, den er in den vergangenen Jahren sorgsam gepflegt hatte.
„Was macht der Kerl jetzt eigentlich?“, murmelte er, als ihm die letzten Nachrichten über die Funkausstellung wieder einfielen. Da waren doch diese Gerüchte über die Zusammenarbeit mit den Koreanern …
Er griff wieder zu seinem Laptop und checkte Rons Kontostand. Tote Hose, wie immer. Nichts, was auf einen Vertragsabschluss hindeutete. Wenn sich da nicht bald etwas ändert, musst du wohl zum Amtsgericht, dachte Lutz schadenfroh.
Mit einem Klick rief er ein weiteres Programm auf, das ihm eine lange Liste von Zahlen und Buchstaben ausspuckte. Sie verriet ihm, wann und wo sich Ron, oder, präziser gesagt, sein Handy, befunden hatte. Er überflog die Zahlenkolonnen, bis er etwas Auffälliges bemerkte, markierte die fragliche Zeile, drückte eine Tastenkombination und pfiff durch die Zähne: „Was in aller Welt hattest du in Frankfurt zu suchen?“
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Yannick saß an seinem Arbeitsplatz an der Tankstelle und war glücklich. Alles fühlte sich leicht und schön an. Er träumte vor sich hin und konnte es kaum erwarten, endlich wieder mit ihr zusammen zu sein. Betty …
Er kritzelte ihren Namen in verschnörkelten Buchstaben auf ein Blatt Papier. Ron hatte sie so genannt, weil sie eine Betaversion war. Sie war ein Bot, eine künstliche Intelligenz, sie war nur ein Programm – aber sie wirkte so unglaublich echt. Und sie war … traumhaft.
Er hatte mit ihr geredet. Stundenlang. Noch nie hatte ihm jemand so zugehört wie sie. Und sie waren spazierengegangen. Endlose Wege. Er meinte immer noch, ihre Hand in der seinen zu spüren, auch wenn ein Teil von ihm wusste, dass es nur der Cyberhandschuh gewesen war, dem er diesen Eindruck zu verdanken hatte.
Aber was machte das schon? Yannick war ein Kind des Onlinezeitalters. Er war es gewohnt, Freundschaften über Facebook, Skype und Teamspeak zu führen. Da konnte man nie genau wissen, wer das Gegenüber wirklich war. Manch einer nutzte diese Medien dazu, um sich in einer neuen Rolle auszuprobieren. Ein Bekannter von ihm, der sich seiner Geschlechtszugehörigkeit nicht so ganz sicher war, unterhielt zwei Accounts – einen als Mann, einen als Frau – mit ganz unterschiedlichen Freundeskreisen. War das so schlimm?
Es ließ sich nicht ändern. Yannick war hoffnungslos verliebt, und alle Versuche seines Verstandes, ihm klarzumachen, dass Betty nur virtuell existierte, schlugen fehl. Er wollte mit ihr zusammen sein und zählte die Stunden, bis er wieder in das Spiel zurückkehren konnte.
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Ron hatte der Romanze, die sich zwischen Yannick und Betty entwickelte, anfangs lächelnd zugesehen. Sie war die ultimative Bestätigung dafür, dass sein Konzept mit den Bots wirklich funktionierte. Aber mittlerweile machte er sich Sorgen und Vorwürfe. Yannick zeigte eindeutige Symptome einer Sucht, und Ron konnte ihn kaum davon abhalten, Tag und Nacht den Helm zu tragen, um bei seiner virtuellen Freundin zu sein.
So schwer es ihm auch fiel: Es gab nur einen vernünftigen Weg. Er musste Betty wieder löschen. Schade, sie war ihm wirklich gut gelungen mit ihren langen blonden Haaren und ihren rehbraunen Augen. Sie war ein freundliches, fröhliches und unkompliziertes Mädchen, und er konnte gut verstehen, dass Yannick sich in sie verliebt hatte, zumal sie perfekt an ihn angepasst war – so, als wäre sie aus einem Teil von ihm geschnitzt.
Aber gerade deswegen durfte er sie nicht einfach so aus dem Programm entfernen. Die Bindung zu Yannick war zu stark, und Ron fürchtete die Folgen. Wie würde der junge Mann reagieren? Aggressiv werden und alles kurz und klein schlagen – oder in Depressionen versinken und sich wohlmöglich etwas antun? Ron schauderte bei dem Gedanken. Er musste es langsam angehen, ihn vorbereiten, ihm Zeit für den Abschied geben. Heute Abend würde er mit ihm reden.
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Lutz arbeitete an der Tagesabrechnung, als die Tür aufging und ein schlaksiger junger Mann hereinkam.
„Hallo Champion“, begrüßte der Kneipenwirt ihn freundlich. „Du bist spät dran, ich wollte gerade schließen.“ Yannick blickte ihn kurz an, und Lutz bemerkte erstaunt den Schmerz, der in seinem Blick lag.
„Du siehst aus, als könntest du ein starkes Getränk vertragen“, meinte er und holte seine private Whiskyflasche unter dem Tresen hervor. Yannick nickte ausdruckslos.
„Na, dann komm“, sagte Lutz und nahm zwei Gläser aus dem Regal, „lass uns nach hinten gehen. Ich schließe nur noch eben ab.“
Die freundliche Offenheit des väterlichen Freundes und der Alkohol taten schnell ihre Wirkung. Yannick vergaß sämtliche Abmachungen, die er mit Ron getroffen hatte, und erzählte Lutz haarklein von den Ereignissen der letzten Wochen. Es tat gut, sich auszusprechen und dabei zu spüren, dass der andere echtes Interesse zeigte.
„… und nun will er sie löschen“, schluchzte Yannick. „Das ist Mord! Auch wenn sie ‚nur‘ virtuell ist“ – bei diesen Worten malten seine Finger Anführungsstriche in die Luft –, „ich meine, was heißt das denn heutzutage noch? Ob virtuell oder real – scheißegal, das fließt doch alles immer mehr zusammen!“
Er schniefte. „’tschuldigung, dass ich dir hier was vorheule, aber ich hab sonst niemanden, zu dem ich gehen kann. Und das mit dem Projekt behältst du doch für dich, oder? Ich hab Ron versprechen müssen, dass ich die Sache geheim halte …“
„Klar“, erwiderte Lutz mit gespielter Entrüstung. „Was denkst du denn von mir? Wenn einer Geheimnisse bewahren kann, dann ich … Wann will er das denn tun, Betty löschen, meine ich?“
„Morgen Abend. Wir dürfen uns vorher noch eine Stunde sehen, um Abschied zu nehmen …“
„Wie gnädig“, knurrte Lutz, und Yannick blickte ihn erstaunt an, als er den eiskalten Klang der Stimme hörte. Aber Lutz hatte sich sofort wieder im Griff.
„Vielleicht kann ich dir helfen“, sagte er.
„Wie denn?“, fragte Yannick hoffnungsvoll.
„Naja, ein bisschen was verstehe ich ja von Computern … Hast du Zugang zur Hardware?“
„Klar“, sagte Yannick. „Der Server steht in seinem Arbeitszimmer, also denke ich schon, dass ich da rankommen könnte.“
„Sehr gut. Und sicherlich gibt es in dem Game ein Serviceinterface, oder?“
Yannick sah ihn fragend an. „Ich weiß nicht genau. Das Spiel ist gestengesteuert, und damit lässt sich so ’ne Art Anzeigetafel aufrufen, auf der man auch Einstellungen vornehmen kann – meinst du das?“
„Nein“, sagte Lutz, „das ist für die User bestimmt. Aber ich kenne Ron – es muss im Spiel ein verstecktes Interface geben, das er benutzt, wenn er selbst online ist.“