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„Was heißt das, du kennst Ron?“, fragte Yannick überrascht.
„Ich habe mal mit ihm zusammengearbeitet“, erklärte Lutz in einem Tonfall, der deutlich machte, dass weitere Fragen überflüssig waren. „Also, denk nach, gibt es in dem Spiel einen geheimen Ort oder einen Gegenstand, der als Steuerung in Frage käme? Hat er dir vielleicht einen bestimmten Bereich verboten oder dich davor gewarnt?“
Yannick sah ihn träge an. Die Müdigkeit und der Whisky verlangsamten sein Denken. Plötzlich blitzte es in seinen Augen auf.
„Na klar!“, rief er, „Der Baum! Mitten im Garten ist ein Baum, den ich auf keinen Fall berühren soll. Ron hat gesagt, es sei eine ungesicherte Systemsteuerung, und wenn ich sie anfasse, könnte das Spiel abstürzen – o mein Gott, dann wäre Betty vielleicht tot!“
„Keine Panik“, sagte Lutz, „das wird nicht passieren. Sondern wenn du tust, was ich dir sage, bekommst du die Rechte als Systemadministrator. Dann wirst du sein wie Ron und kannst das Spielgeschehen ohne Einschränkungen beeinflussen!“
„Also gut. Was muss ich tun?“
****
Als Yannick am nächsten Abend zu Ron kam, wirkte der junge Mann nervös und angespannt. Er war blass, und man sah ihm an, dass er in den letzten Tagen noch weniger Schlaf bekommen hatte als sonst. Kein Wunder, dachte Ron mitfühlend, ihm steht ein schwerer Abschied bevor.
„Bist du bereit?“, fragte er seinen Assistenten.
Yannick nickte grimmig. „Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig, oder?“
Ron legte ihm den Arm auf die Schulter. „Du weißt, dass es zu deinem Besten ist“, sagte er leise.
Yannick lachte höhnisch und drehte sich von der Berührung weg. „Komm, hör bloß auf, ich kann’s nicht mehr hören. Wir haben ja wohl lange genug darüber diskutiert.“ Er ließ sich in einen Sessel fallen.
Ron nickte. Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte er: „Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“
Yannick sah ihn an: „Hast du vielleicht etwas zu trinken für mich? Ich habe einen ganz trockenen Hals.“
„Klar, was willst du denn? Bier ist leider alle.“
„Einfach ein Glas Wasser, denke ich. Aber schön kalt, wenn’s geht.“ Er vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Ron stand wortlos auf und ging in die Küche. Nachdem er den Raum verlassen hatte, kam plötzlich Bewegung in den Assistenten. Er sprang auf und zog etwas aus der Tasche, das Ähnlichkeiten mit einem USB-Stick hatte, aber etwas dicker und plumper wirkte. Yannick wusste nicht genau, was es war. Er hatte keine weiteren Fragen mehr gestellt, nachdem Lutz ihm das Gerät in die Hand gedrückt hatte. Er wusste, was er damit tun musste, und das reichte ihm.
Leise kniete er sich vor den Rechner neben Rons Schreibtisch und steckte den Stick in einen USB-Slot auf der Rückseite des Gerätes. Er hoffte inständig, dass das System keine Geräusche von sich geben würde, denn Ron kam schon wieder mit dem Wasser zurück. Glücklicherweise blieb der Computer stumm, und Yannick schaffte es gerade noch rechtzeitig in seinen Sessel zurück.
„Hier, es ist ganz kalt, ich habe sogar ein paar Eiswürfel hineingetan“, sagte Ron fürsorglich. Yannick trank das Glas mit großen Schlucken leer. Er war tatsächlich durstig, fühlte sich wie ausgedörrt. Das Wasser tat gut.
„Noch mehr?“
„Nein, ich will’s jetzt hinter mich bringen“, sagte Yannick, stand auf und legte das Cyberkit an. Ron überwachte die Einlogprozedur und schaute einen Augenblick überrascht auf seinen Monitor. Das, was sich da am Bildrand bewegt hatte, sah fast aus wie eine Schlange – aber das konnte nicht sein. Ron wusste genau, dass es keine Schlangen in seiner Welt gab, denn er konnte diese Tiere nicht ausstehen und hatte darum auch keine erschaffen. Wahrscheinlich war es also eine Echse oder einfach ein Schatten – egal, er hatte heute Abend Wichtigeres zu tun.
„Tust du mir einen Gefallen, Ron?“, fragte Yannick über Interkom.
„Kommt darauf an“, gab Ron vorsichtig zurück. „Aber meine Entscheidung, was Betty angeht, steht fest. Darüber lasse ich nicht mit mir verhandeln.“
„Ja, ja, schon klar, aber vielleicht kannst du uns in unserer letzten Stunde ein bisschen Privatsphäre gönnen …“
„Kein Problem“, sagte Ron lächelnd, „ich klinke mich aus. Alles Gute!“
„Danke!“, antwortete Yannick. Gleich darauf kam das kleine Knacken, das das Ende der Verbindung anzeigte. Und dann stand sie vor ihm. Sein Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte – und sie liebte nur ihn.
„Hallo Yannick“, sagte sie. Der Klang ihrer Stimme jagte ihm einen wohligen Schauer über den Rücken. „Ich habe auf dich gewartet! Wo warst du so lange?“
Er nahm sie zärtlich in den Arm. „Es ist so schön, dich zu sehen!“, sagte er.
Sie schmiegte sich an ihn, und einen Atemzug lang versuchte er, alles andere zu vergessen und allein diesen Moment wahrzunehmen. Er wollte sich für alle Zeiten an ihn erinnern können. Schließlich sah er sie ernst an.
„Hör mal, was ich dir jetzt sage, wirst du vielleicht nicht verstehen, aber du musst mir vertrauen. Sonst wird es heute das letzte Mal sein, dass wir uns sehen!“
„Was, warum?“ Sie sah ihn bestürzt an. Ihre Augen schimmerten feucht. „Was redest du da? Du machst mir Angst!“
Yannick zog sie wieder in seinen Arm. „Du ahnst ja nicht, was da draußen vor sich geht …“, begann er, aber sie stieß ihn zur Seite.
„Nun fängst du schon wieder damit an! Ich mag es nicht, wenn du von dieser anderen Welt redest. Ich kann damit nichts anfangen, das weißt du doch!“
Yannick seufzte. Eigentlich hatte er mittlerweile gelernt, dieses Thema zu vermeiden. So gut sie ihn auch sonst verstand – jedes Mal, wenn er mit ihr über die Welt sprechen wollte, aus der er kam, hatte sie das Gespräch abgebrochen. Der Gedanke, dass es noch etwas anderes als ihr kleines Paradies geben könnte, erschien ihr abwegig, ja, geradezu bedrohlich. Es waren Hirngespinste in ihren Augen – und in gewisser Weise hatte sie ja auch recht damit. Für sie gab es nur diese virtuelle Welt.
Sie ist ein Bot, machte Yannick sich zum hundertsten Mal klar. Aber wie immer scheiterte diese Einsicht seines Verstandes an den Signalen aus seinem Herzen.
„Komm schon“, lockte sie ihn, „ich muss dir etwas zeigen. Da hinten gibt es eine Ecke im Garten, die ich gerade erst neu entdeckt habe. Da sind einzigartige Blumen und wunderbare Schmetterlinge – komisch, dass ich die nicht schon früher gesehen habe …“
Yannick verzichtete weise darauf, ihr zu erklären, dass dies das Ergebnis der letzten Programmierungen Rons war. Er entwickelte den Garten ständig weiter. Normalerweise ließ Yannick sich von ihrer kindlichen Entdeckerfreude nur zu gerne anstecken, zumal der Test der neuen Regionen in sein Aufgabengebiet als Programmentwicklungshelfer fiel – aber jetzt war dafür definitiv keine Zeit.
„Nein, heute nicht“, sagte er und zog sie in die entgegengesetzte Richtung. „Wir müssen etwas erledigen.“
„Wohin willst du?“, fragte sie verwirrt.
„Zu dem Baum in der Mitte des Gartens“, sagte er grimmig.
„Aber – du hast doch immer gesagt, dass der verboten ist? Dass wir sterben müssen, wenn wir ihn berühren?“
„Ich weiß. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber glaube mir, er ist deine einzige Chance zu leben.“
„Es ist unsere einzige Chance“, fügte er nach einer Pause hinzu.
Betty sah ihn ängstlich an und schwieg. Widerspruchslos lief sie hinter ihm her. Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht.
Der Baum in der Mitte des Gartens wirkte überraschend unscheinbar. Eher ein Bäumchen als ein Baum. Seine wenigen Früchte erinnerten an die Schaltflächen der Menüs, die Ron zu programmieren pflegte. Eine große Schlange ringelte sich um den Stamm und verlieh dem Ganzen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Standessymbol der Ärzte.
Wie passend, dachte Yannick, hier finden wir die Medizin, die Betty das Leben retten kann.
Die Schlange sah ihnen mit unbewegten Augen entgegen. Dann löste sich ihre Schwanzspitze vom Baum und deutete auf eine bestimmte Frucht.
„Los, Betty“, sagte Yannick, „diese ist es, die musst du essen!“
„Aber ich traue mich nicht! Es ist doch verboten!“ „Tu es, bitte! Es muss sein!“
Betty sah ihn nachdenklich an. „Aber nur, wenn du auch davon isst“, forderte sie.
Unsicher schielte Yannick zu der Schlange hinüber. Sie nickte unmerklich.
„Na gut“, sagte er schließlich und schob seine Freundin sanft in die Richtung des Baumes.
Langsam ging Betty hinüber und streckte ihre Hand aus, wobei sie sichtlich bemüht war, die große Schlange nicht zu berühren, die ihr aufmerksam zusah. Noch einmal hielt das Mädchen inne und drehte sich mit einem fragenden Blick zu Yannick um, der ihr energisch zunickte. Endlich gab sie sich einen Ruck und pflückte die Frucht. Sie sprang zwei Schritte zurück, weg von der Schlange, und schnupperte misstrauisch an ihrer Beute.
„Riecht gut!“, stellte sie fest und biss herzhaft hinein. Die Frucht hatte helles, festes Fruchtfleisch, fast wie ein Apfel, doch es fehlten die Kerne darin. Sie reichte ihrem Freund den Rest. „Jetzt bist du dran“, sagte sie ernst. Ohne zu zögern, biss er hinein. Dann sahen sich Betty und Yannick an und warteten darauf, dass irgendetwas Außergewöhnliches passierte.
Den Triumphschrei von Lutz konnten sie nicht hören; er hatte sein Mikrofon wohlweislich nicht angeschlossen. Sein Schlangen-Avatar verständigte sich ausschließlich per Zeichensprache. Der Jubel war berechtigt, denn nun hatte er vollen Zugriff auf das System. Ohne große Umschweife begann er mit dem Download, wozu ihm das Gerät diente, das Yannick in die Rückseite des Servers gesteckt hatte – es stellte eine Datenverbindung über das Mobilfunknetz her.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Yannick und Betty die atmosphärische Veränderung in ihrer Umgebung wahrnahmen, aber sie verstärkte sich immer mehr und war schließlich so deutlich zu spüren wie ein kalter Zugwind. Unvermittelt brach Betty in Tränen aus und stürzte davon. Ratlos sah Yannick ihr hinterher. So hatte er sie noch nie erlebt. Er blieb eine Weile unschlüssig stehen, dann ging er ihr nach. Als er sie fand, war sie damit beschäftigt, Gräser und Blätter zu flechten und damit ihre Blöße zu bedecken.
„Was machst du da?“, fragte er betroffen. „Dir hat es doch bisher nichts ausgemacht, nackt zu sein?“
Sie sah ihn verlegen an. „Ich weiß auch nicht“, meinte sie schließlich. „Plötzlich fühle ich mich so – beobachtet.“
Und dann spürte Yannick es auch. Es fühlte sich an, als stünde er splitterfasernackt in einem beleuchteten Schaufenster mitten in der Innenstadt. Unwillkürlich hielt er sich die Hände vor seinen Intimbereich.
Betty reichte ihm einen geflochtenen Lendenschurz. „Hier, nimm das“, sagte sie. Er erkannte diese Handarbeit wieder: Sie hatte ursprünglich eine Decke werden sollen, mit der Betty vor einigen Tagen begonnen hatte.
Ungeschickt schlang er sich das improvisierte Kleidungsstück um die Hüfte, aber das Gefühl der Beobachtung wollte nicht weichen. Panisch sah er sich um.
„Wir sollten uns verstecken“, sagte er.
****
Mittlerweile hatte Ron seine Telefongespräche beendet, die Blumen gegossen, den Kühlschrank geputzt und alle Papiere auf dem Schreibtisch sortiert. Er blickte auf die Uhr. Die Stunde, die er Yannick und Betty zugestanden hatte, war längst überschritten, aber es fiel ihm schwer, das Mädchen zu eliminieren, auch wenn sie nur ein Programm war. Es steckte einfach zu viel Menschliches in ihr.
Komm schon, du musst es tun, es ist das Beste für Yannick, und du weißt es, rief er sich zur Ordnung – mit nur mäßigem Erfolg allerdings. Lustlos schlurfte er zu seinem Terminal. Auf seinen Befehl hin glommen die abgeschalteten Monitore auf. Automatisch überflog er die Anzeigen – da durchfuhr es ihn plötzlich, als hätte ihm jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Rücken gegossen.
Irgendetwas musste passiert sein. Die Firewall war ausgeschaltet. Wie konnte das sein?
Ihm fiel nur eine Möglichkeit ein, wie Yannick sie deaktivieren konnte – mit Hilfe der spielinternen Systemsteuerung, dem verbotenen Baum, den er all die Wochen lang nicht angerührt hatte.
Ron schüttelte ungläubig den Kopf. Das ergab keinen Sinn.
Vielleicht ist es ja eine Falschmeldung, dachte er, ohne selbst allzu sehr daran zu glauben. Er rief die Logdateien auf, um zu überprüfen, was in der letzten Stunde geschehen war, aber nichts passierte. Das System ignorierte seinen Befehl. Ungläubig starrte Ron auf die Tastatur, die ihm plötzlich fremd vorkam. Was war hier los?
Diese Firewall war im Prinzip eine überflüssige Schutzmaßnahme, denn der Rechner verfügte über die beste Absicherung, die es gab: Er hatte keine Verbindung zum Internet. Dennoch sprach alles dafür, dass jemand in das System eingedrungen war. Yannick musste etwas damit zu tun haben, wahrscheinlich irgendein verzweifelter Versuch, Betty zu retten. Er hätte es voraussehen müssen.
Er blickte auf den Körper des jungen Mannes, der da mit Cyberhelm, Gamaschen und Handschuhen auf dem Sessel lag und sich rhythmisch bewegte, als tanze er zu einer Musik, die außer ihm niemand hören konnte. Ron widerstand dem Impuls, ihm den Helm vom Kopf zu reißen und ihn zur Rede zu stellen. Wenn tatsächlich jemand die Kontrolle über das System übernommen hatte, wie er befürchtete, dann war Yannick sein letzter Fuß in der Tür. Sobald er sich ausloggte, kam möglicherweise niemand mehr hinein. Ron überlegte. Schließlich fiel sein Blick auf den „Cyberstar 2“, der in einer Ecke seines Arbeitszimmers lag.
Ja, das könnte funktionieren. Er würde versuchen, online zu gehen und Yannick zur Rede zu stellen. Ron hatte seinen Avatar noch nicht konvertiert und würde in der neuen Schöpfung nur als eine Art Lichtgestalt erscheinen, aber das war ihm jetzt egal. Er musste wissen, was vorgefallen war.
In X-World war der Abend angebrochen, und eine angenehme Kühle lag über dem Garten. Betty und Yannick saßen Händchen haltend auf einem Baumstamm. Sie schwiegen bedrückt. Keiner von ihnen wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Yannick nahm als Erster die Bewegung hinter den Büschen wahr.
„Schnell“, flüsterte er dem Mädchen zu, „versteck‘ dich!“
Doch es war zu spät. Leuchtend und groß stand Ron Schäfer vor ihnen. „Was hast du getan?“, herrschte er Yannick mit Donnerstimme an. „Wieso warst du an dem Baum, den ich dir verboten hatte?“
Yannick begann zu stammeln. „Sie hat als Erste gegessen!“, sagte er hastig. Dann fing er sich. Sein Rücken wurde gerade. „Du hast sie doch programmiert, du musst doch wissen, warum sie so etwas tut“, fügte er patzig hinzu. Ein eisiger Blick von Ron brachte ihn zum Schweigen.
„Nun?“, fragte er Betty.
Sie lag zusammengesunken und ängstlich vor seinen Füßen. Ihr Atem ging stoßweise. Ihre Stimme klang verweint. „Da war eine Schlange …“, sagte sie zaghaft.
„In meinem Garten gibt es keine Schlangen!“, brüllte Ron. „Ich hasse Schlangen!“
Plötzlich dämmerte ihm etwas. Wieder wandte er sich an Yannick.
„Sag mir die Wahrheit. Woher kennst du Lutz?“
Der Angesprochene fuhr so sehr zusammen, dass jedes Leugnen zwecklos war.
„Aus der Kneipe …“, stotterte er, „der Wettbewerb … aber wieso … woher weißt du …“
„Ich habe mal mit ihm zusammengearbeitet“, sagte Ron, „die Schlange ist sein Markenzeichen. ‚Andere programmieren bloß Würmer – ich bin die Schlange‘, pflegte er zu sagen. Er ist der durchtriebenste Hacker, den ich kenne. Und außerdem ist er ein überaus nachtragender Mensch, der seit Jahren auf Rache gegen mich sinnt. Also raus mit der Sprache, was hast du getan?“
Yannick schluchzte. „Ich wollte Betty doch nicht verlieren!“, jammerte er, „und Lutz hat gesagt, er könne mir helfen. Mit diesem – komischen USB-Stick.“
Ron zuckte zusammen. Natürlich, es war so einfach. Ein modifizierter Mobilfunk-Stick! Dass er nicht schon früher darauf gekommen war! Er musste das System sofort abschalten, jetzt hatte er keine Wahl mehr.
„Gut“, sagte er, „das war’s. Yannick, du bist gefeuert. Lass dich nie wieder bei mir blicken. Betty, deine Existenz ist hier zu Ende. Und du, Lutz, du alte Schlange“, brüllte er plötzlich los, „wenn ich dich in die Finger kriege, dann breche ich dir jeden Knochen einzeln. Auf dem Bauch sollst du kriechen und um Entschuldigung winseln, du mieser Misthund!“
6. DIE PROMETHEUS SOFTWARE AG
Zur Feier des Tages genehmigte sich Lutz ein Glas seines besten Whiskys. Behaglich ließ er sich den aromatischen Duft in die Nase steigen, prostete in Gedanken seinem Erzfeind zu und trank einen Schluck voller Andacht. Es hätte kaum besser laufen können. Er hatte nicht nur Zugriff auf das Spiel bekommen, sondern den gesamten Server geplündert und die Spieledateien komplett heruntergeladen. Er grinste gehässig. Ron war so ein Idiot. Er hatte den Mobilfunkstick viel zu spät entdeckt. Egal, welche Verträge er nun mit diesen Koreanern aushandelte, das Spiel würde es in Kürze für jedermann zugänglich im Internet geben. Das sollte dem Verkauf doch wohl etwas den Schwung nehmen. Tja Ron, war wohl nichts mit deinem Comeback!
Lutz genoss den Triumph. Auf diese Gelegenheit hatte er lange gewartet. Und das war erst der Anfang. Er stellte das Glas beiseite, wandte sich wieder seinem Laptop zu und startete den Passwort-Cracker.
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Yannick irrte durch die Straßen. Es hatte geregnet, überall standen Pfützen mit schmutzig braunem Wasser, doch er achtete nicht darauf. Sein Leben lag in Trümmern. In den vergangenen Wochen war so viel geschehen, dass er innerlich gar nicht mehr hinterherkam: Erst sein glanzvoller Sieg bei den eGames, dann der Job bei einer Legende der Softwarebranche, die Arbeit mit Computerperipherie der Zukunft – und schließlich sie. Betty. Ein Traum von einem Mädchen. Warum begegnet einem so eine nie im realen Leben?
Und nun war alles vorbei. Die langen vertrauten Gespräche mit ihr, die Entwicklung der Spielwelt, die Fachsimpeleien mit Ron, die Träume von einem festen Job in einem Bereich, der hundertprozentig zu ihm passte. Diese Tankstellengeschichte hielt ihn zwar über Wasser, aber damit wollte er sein Leben nun wirklich nicht verbringen.
Er sah auf die Uhr. In einer Stunde begann sein Dienst. Ausgerechnet jetzt. Aber vielleicht war es auch ganz gut so. Das würde ihn von dummen Gedanken abhalten. Fürs Erste.
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Als das Telefon klingelte, brauchte Ron eine ganze Weile, um sich zu orientieren. Er hatte Kopfschmerzen. Vorsichtig öffnete er die Augen und stöhnte, als er die leeren Flaschen in seiner Wohnung herumliegen sah. Er versuchte, den Anruf zu ignorieren, aber das Telefon klingelte ungerührt weiter. Schließlich gab er auf, hob den Hörer ans Ohr und meldete sich so freundlich er konnte: „Hmpf?“
„Guten Morgen, Herr Schäfer, ich habe Sie doch nicht etwa geweckt? Es ist zehn Uhr morgens!“
Ron erkannte die Stimme von Gerhardt Fleischmann. Der hatte ihm gerade noch gefehlt! Vorsichtig, um den enormen Kopfschmerz nicht noch weiter zu verschlimmern, setzte er sich in seinem Bett auf.
„Ich habe fast die ganze Nacht am Computer verbracht“, sagte er. Das war nicht mal gelogen. Nach der gestrigen Katastrophe hatte er sich auf der Suche nach Ablenkung bis in die frühen Morgenstunden im Internet herumgetrieben.
„Das freut mich zu hören. Ich hoffe, das Projekt geht gut voran? Haben Sie einen Assistenten gefunden?“
„Ja, habe ich. Aber leider musste ich ihn wieder entlassen. Er hat mich hintergangen.“
„Oh, das tut mir leid“, sagte Dr. Fleischmann, und in seiner Stimme schwang aufrichtiges Bedauern mit. „Die Situationen, in denen ich mich mit Vertrauensbruch seitens meiner Mitarbeiter konfrontiert sah, gehören zu den schwärzesten Erinnerungen meines Lebens.“
Er machte eine kurze Pause.
„Aber vielleicht tröstet es Sie ein wenig, wenn ich Ihnen erzähle, dass die Firmengründung nun erfolgreich abgeschlossen ist und ich Ihnen ein Team von zwanzig fähigen Spieleprogrammierern anbieten kann.“
Ron staunte. Der Alte war wirklich ein Mann der Tat. Einen Moment lang überlegte er, ob er ihn in die gestrigen Vorkommnisse einweihen sollte, aber dann besann er sich eines Besseren. Erstmal einen klaren Kopf bekommen.
„Ich erwarte Sie morgen früh in Frankfurt“, fuhr Dr. Fleischmann fort. „Bringen Sie Ihre bisherigen Ergebnisse mit, und bereiten Sie sich darauf vor, das Team einzuweisen. Inwieweit Ihre Anwesenheit vor Ort dann erforderlich ist, müssen wir sehen. Ich bin noch von der alten Schule und habe meine Mitarbeiter gerne vor Augen, aber ihr Computermenschen regelt so was ja heutzutage über das Internet. Es ist mir egal, wie Sie das machen, doch in spätestens sechs Wochen möchte ich an den Markt gehen.“
Ron nickte innerlich. Das war durchaus zu schaffen. Er konnte auf ein Backup zurückgreifen, das er unmittelbar vor Bettys Erschaffung angelegt hatte. Darin fehlten zwar alle Tiere, die Yannick und er seitdem in die Welt entlassen hatten, aber das war zu verschmerzen.
„In Ordnung“, sagte er. „Wir sehen uns morgen.“ Er kletterte mühsam aus dem Bett und wankte ins Bad.
Gut, dass ich nicht schon heute nach Frankfurt soll, dachte er und übergab sich.
Als Ron am nächsten Morgen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof eintraf, waren seine Kopfschmerzen einer grimmigen Entschlossenheit gewichen. Er wollte sich von Lutz nicht stoppen lassen, egal was der sich in seinem Rachedurst noch einfallen ließ. Wie konnte ein Mensch bloß so an seinem Zorn festhalten? Immerhin war er selbst es gewesen, der damals den Bug im Internet veröffentlicht und damit den Stein ins Rollen gebracht hatte.
Ron verbot sich, weiter über dieses Thema nachzudenken. Es war sinnlos. Mehr als einmal hatte er versucht, sich mit seinem ehemaligen Assistenten auszusprechen und war dabei immer nur auf eine Wand aus Ablehnung und Hass gestoßen. Ihn schauderte es bei der Erinnerung daran.
Während ihrer Zusammenarbeit hatte er Lutz nie anders als zuvorkommend und nett erlebt, aber im Nachhinein hatte sich das als bloße Fassade erwiesen. In Wahrheit hatte es den Älteren zutiefst gekränkt, dass er nur der Assistent gewesen war und sich nach den Anweisungen eines jüngeren, weniger erfahrenen Programmierers richten musste.
Ron konnte diese Entscheidung der Firmenleitung nachvollziehen. Lutz war auf seine Art brillant; sein enormes Wissen über die Tiefen und Abgründe der Systeme hatte schon fast etwas Unheimliches – aber seine Begabung war doch recht speziell.
Ron war eindeutig der kreativere Kopf. Während Lutz tausend Wege einfielen, um an fremde Ideen zu kommen und sie mit wenigen Veränderungen als seine eigenen auszugeben, sprudelten bei Ron die genialen Einfälle nur so heraus.
Er blickte sich um. Der Bahnhof war voll mit hastenden Menschen, die anscheinend alle wussten, wo sie hinwollten. Ron nahm seinen Koffer auf und ging den Bahnsteig hinab. Diesmal würde ihn wohl kein Bediensteter mit einem Firmenwagen abholen. Aber diesmal würde er auch keine Enttäuschung erleben. Denn jetzt wartete ein ganzes Heer von Programmierern auf seine Anweisungen, um seine Welt nach seinen Wünschen zu gestalten. Er sonnte sich in dieser Gewissheit. Es war ein wohltuendes Gefühl nach der langen Durststrecke, die hinter ihm lag.
Er entschied sich für ein Robotaxi – nicht nur, weil es etwas billiger war als die Fahrzeuge mit Fahrern, sondern vor allem, weil hier keinerlei Risiko bestand, gegen seinen Willen in ein Gespräch verwickelt zu werden. Ron schob seine Kreditkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz. Dann nannte er die gewünschte Adresse. Sofort erschien der Straßenname auf dem Display in der Mittelkonsole, Ron bestätigte die Auswahl, und die Fahrt begann. Er war gespannt, wohin es ihn verschlagen würde. Halb rechnete er mit einem verfallenen Fabrikgebäude oder einer zugigen Halle auf irgendeinem Hinterhof. Allzu klein konnte es ja nicht sein, wenn es zwanzig Mitarbeitern samt der nötigen Ausrüstung Platz bieten sollte.
Das Taxi hielt vor einem Verwaltungsgebäude am nördlichen Stadtrand. Es wirkte nüchtern, vielleicht ein bisschen langweilig, aber solide und gepflegt. Ron nickte zufrieden. Er hätte durchaus auch auf einem Hinterhof begonnen, hätte es sogar romantisch gefunden, aber diese Wahl war deutlich besser. Er war gespannt auf das Innere.