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Im Krankenhaus wurden eine ganze Reihe von Tests vorgenommen, während die Schwestern beteten. Endlich betrat Dr. L. James Hoover mit verlegenem Ausdruck den Warteraum. Er trug einen festlich aussehenden roten Pullover, der bei diesem Anlass fast lächerlich wirkte. Mit den Händen in seinen Hosentaschen wirkte er irgendwie hoffnungslos.
„Wir können nichts für sie tun“, sagte Hoover gedehnt, als wollte er sich entschuldigen. „Sie hatte einen Schlaganfall und eine Gehirnblutung.“
„Und was wird jetzt geschehen?“, fragte Schwester Margaret Mary.
Der Arzt wich dem Blick der Nonne aus. „Sie wird einfach hinüberdämmern. Einer von hundert Patienten sind Kandidaten für eine Operation, doch in ihrem Alter und Zustand…“
Die Nonnen begriffen sofort, welche schreckliche Entscheidung sie treffen mussten, entweder nichts zu tun und mit anschauen zu müssen, wie ihre Oberin ihnen entglitt, oder die Fahrt nach Birmingham zu riskieren, um dort eine gefährliche Hirnoperation durchführen zu lassen, die sie womöglich nicht überleben würde. Während die schwerwiegende Entscheidung getroffen wurde, lag die Frau, die das weltweit größte religiöse Medienimperium aufgebaut hatte, im Koma in der Notaufnahme des Krankenhauses. In der Vergangenheit war sie schon so oft durch viele Wunder gerettet worden. Jetzt stand sie selbst an der Schwelle zur Ewigkeit, zu der sie anderen seit Langem den Weg gewiesen hatte.
Irgendwo in den Tiefen ihres angeschlagenen Bewusstseins fasste Mutter Angelica wohl unbewusst den Entschluss, den Kampf aufzunehmen. Wie schon immer wollte sie sich jetzt in der Verzweiflung in die Hände Gottes fallen lassen. Für Mutter Angelica gab es keinen anderen Weg.
1. Kapitel
Ein unglückliches Leben
Mutter Angelica kam unbeachtet und sogar unerwünscht zur Welt, zumindest was ihren Vater betraf. Geboren wurde sie am 20. April 1923 als Rita Antoinette Rizzo in der bescheidenen Stadt Canton in Ohio.
Wenn man davon absieht, dass Präsident William McKinley in Canton gewohnt hatte und auch dort begraben wurde, handelte es sich um eine unbekannte Industrieansiedlung, etwa eine Stunde von Cleveland entfernt. Am Horizont sah man überall dicke braune Rauchschwaden aus den Fabrikschornsteinen hervorquellen, ein Zeichen für die von dieser kleinen Stadt ausgehende Produktivität. Die Stärke Cantons war der Stahl, der Werkstoff des neuen Jahrhunderts, der als Magnet Tausende Einwanderer anzog. Aus Cantons Fabriken und seinen Förderbändern stammten Kugellager, Straßenbahnwagen, Ziegelsteine, Telefone und Rohre, mit denen sich das Land weiterentwickelte und seine großartigste Epoche erreichen sollte.
Doch neben der Industrieansiedlung sticht Canton auch heute noch durch seine grüne Weidelandschaft mit leicht gewellten Hügeln in der Mitte Amerikas hervor. Hier konnte man Kinder aufwachsen lassen ohne das Chaos und die Enge des Stadtlebens. Das traf allerdings nur zu, wenn man nicht gerade im südöstlichen Teil der Stadt wohnte, dort, wo Rita Rizzo geboren wurde.
Im Jahre 1923 war der Südosten von Canton als Rotlichtbezirk bekannt oder auch als „Slumgebiet“, wie manche diesen Teil nannten. Für die Schwarzen und die zahlreichen italienischen Einwanderer, die in den Fabriken arbeiteten, war der Südosten die Heimat. Die Italiener waren an das Viertel durch eine Kombination von Analphabetentum und regelmäßigen Schutzgeldzahlungen gebunden, die von ihren unberechenbaren Landsleuten eingefordert wurden. Es war ein Ghetto, das von der „Schwarzen Hand“ beherrscht wurde, einer kriminellen Organisation, deren Ursprünge in Sizilien lagen. Und obwohl die Bandenmitglieder Revolver mit schwarzen Griffen trugen, während sie im Viertel ihren Geschäften nachgingen, stammte die Bezeichnung „Schwarze Hand“ doch noch aus ihrer alten Heimat. In dieser Zeit nahm die Bandenkriminalität ungeheuer zu. Es gab eine durchgehende Kette organisierter Korruption von Cleveland über Canton und weiter nach Steubenville. In Canton war die Cherry Street das Zentrum, wo kriminelle Banden und Prostituierte sich um die gleichen Seelen bemühten wie die katholische Pfarrei St. Antonius.
Bandenmorde kamen im Südosten von Canton häufig vor. Leute, die früher einmal in der Gegend gewohnt haben, berichten heute noch von Menschen aus ihrer Nachbarschaft, die auf ihrer Veranda in die Luft gesprengt, an Straßenecken erschossen oder in das Flusswasser geworfen wurden. Auch heute noch reden einige der Dorfbewohner, die ja nun mittlerweile weit über achtzig sind, mit gesenkter Stimme über die „Schwarze Hand“, und sie lehnen aus Angst vor Repressalien jede Veröffentlichung ihrer Namen ab.
Dieses ethnische Ghetto – in dem Dirnen an die Fensterscheiben ihrer Bordelle klopften, um ihre Freier anzulocken; in dem Ladenbesitzer in der gleichen Straße zusammen mit Auftragskillern lebten; in dem die Priester der Pfarrei versuchten, kleine Gauner zu einem besseren Leben anzuleiten; in dem sich das Profane mit dem Sakralen vermischte, und jeder sich anstrengte, irgendwie über die Runden zu kommen – dies nun war die Umgebung, die auf Rita Rizzo bei ihrer Ankunft im Jahre 1923 wartete.
Sie kam im Haus von Mary und Anthony Gianfrancesco, ihren Großeltern mütterlicherseits, auf die Welt. Diese wohnten einen Häuserblock entfernt von der berüchtigten Cherry Street. Das Haus in der Liberty Street mit der Hausnummer 1029 grenzte auf der einen Seite an ein offenes Feld mit gepflegten Weinreben. Auf der anderen Seite des Hauses, an der Kreuzung der Liberty Street und der Eleventh Street, befand sich das Lokal von Großvater Gianfrancesco, ein beliebter Treffpunkt für die neu ankommenden Einwanderer und ihre amerikanische Verwandtschaft, die sich dort trafen und etwas tranken oder zu Mittag aßen.
Für ihre Mutter Mae war die Geburt der kleinen Rita eine schmerzvolle Angelegenheit. Es waren mehrere Stunden sowie anschließend fünfzehn Stiche vonnöten, um das fast zwölf Pfund schwere Kind zur Welt zu bringen. Mae Gianfrancesco Rizzo wurde nicht müde, dies ihrer einzigen Tochter immer wieder zu erzählen.
„Meine Großmutter sagte, ich hätte rosige Wangen, einen vollen Haarschopf und die Größe eines sechs Monate alten Kindes gehabt. Es hätte ausgesehen, als ob ich zum Gehen bereit gewesen wäre“, erinnerte sich Mutter Angelica Jahrzehnte später kichernd.
John Rizzo, Ritas Vater, wollte nie ein Kind. Als ihm seine Frau nach zwei Jahren Ehe mitteilte, dass sie schwanger war, „tobte er so vor Wut, dass er sie mit Gewalt packte und an den Haaren zerrte“. Mae Rizzo war überzeugt, dass sie aufgrund dieses Zwischenfalls und der nachfolgenden Angstzustände das Kind nicht stillen konnte.
Als Mae John zum ersten Mal begegnete, schien er der ideale Mann für sie zu sein. Er war groß und schlank, anständig und ruhig im Verhalten, tadellos gekleidet und trug Gamaschen und einen Spazierstock. In einem Ghetto, in dem es von einfachen Arbeitern und Ganoven nur so wimmelte, war John Rizzo die Verwirklichung eines Wunschtraumes. Von Beruf war er Schneider. Er hörte Mae singen, als er einmal die Eleventh Street hinunterschlenderte, und kam so zum ersten Mal an die Küchentür der Gianfrancescos.
Mae sang oft beim Geschirrspülen die italienischen Opernarien mit, die vom Grammofon ihres Vaters aus dem Wohnzimmer erklangen. Seit ihrer Geburt war sie stets von Musik umgeben gewesen. Musik gehörte zu ihrem Leben genauso wie Papas Lokal oder der gusseiserne Herd in der Küche. Mae wollte gerne Sängerin werden und hatte sicher auch das Aussehen dafür. Sie war eine aparte Frau mit dunklen Augen, markanten Gesichtszügen und mit einem ernsten Ausdruck, der die Blicke der Männer in der Nachbarschaft auf sich zog. Familienfotos zeigen eine junge Frau, die sich ihres guten Aussehens bewusst war und die auch wusste, welche Mode zu ihr passte. Übergroße Hüte, bauschige Kleider, Handschuhe und Sonnenschirme schmückten Maes hübsche Figur. Ihre Schönheit nahm John gefangen.
Doch trotz all ihrer Reize war Mae sogar schon als junge Frau davon überzeugt, dass sie vom Leben betrogen worden war. Sie führte ihre Schwierigkeiten auf die fünfte Klasse zurück, als ein männlicher Klassenkamerad sie während einer Brandschutzübung an der Hand nahm. Ob Mae dies als eine Aufdringlichkeit empfand oder einfach nur schlecht gelaunt war, ist nicht bekannt. Jedenfalls riss sie eine Latte aus einem nahe gelegenen Zaun und schlug damit dem Jungen auf den Kopf. Vermutlich haben sich die Lehrer bei der Mutter darüber beschwert. Ihre Mutter, die Konflikten immer aus dem Weg gegangen war, entschied nun, dass Maes Schulbildung jetzt ausreichte. Sie wurde von der Schule genommen und kehrte nie mehr dorthin zurück. Dieses Gefühl, nicht genug gelernt zu haben oder nicht intelligent genug zu sein, hatte tiefe Narben bei Mae Gianfrancesco hinterlassen – Narben, die sich auch später noch bemerkbar machten und letztlich auch ihre Tochter belasteten.
Als John Rizzo an der Küchentür vorbeischlenderte und Komplimente über Maes Stimme machte, muss sie wohl gedacht haben, dass ihr Gebet erhört worden war. Jetzt war nun endlich die Gelegenheit in greifbare Nähe gerückt, diesem beengten und stürmischen Haushalt mit lauter Brüdern zu entkommen, eine Möglichkeit, ganz von vorne zu beginnen und vielleicht sogar eine Ausbildung zu machen. Mit zweiundzwanzig Jahren ergriff Mae ihre Chance zum Glücklichwerden und heiratete John Rizzo am 8. September 1919 gegen die Einwände ihrer Eltern, „die ihn noch nie gemocht hatten“.
Vier Jahre später, am 12. September 1923, trugen die Eheleute ihre fünf Monate alte Tochter zum Taufbecken der St. Antonius-Kirche in der Liberty Street. Es war damals Brauch, Säuglinge innerhalb weniger Tage nach der Geburt taufen zu lassen, doch ein paar säumige Taufpaten hatten diese Verzögerung verursacht. Als die Rizzos dann schließlich mit dem kräftigen Kind an das Taufbecken herantraten, das schon so viel älter als fünf Monate zu sein schien, wandte sich der erstaunte Priester an Mae und fragte: „Weshalb haben Sie nicht gewartet, bis sie von selbst hierher laufen konnte?“
Rita wurde von ihrer Mutter sofort nach der Taufe zu einem Seitenaltar getragen, der der Schmerzensreichen Mutter gewidmet war. Sicher fühlte sie sich von dieser Darstellung Mariens ganz besonders angezogen. Auf diesen Altar der Madonna, deren Herz von Schwertern des Leidens durchbohrt war, legte Mae ihr eigenes Kind. „Sie erzählte mir, sie habe zu Maria gesagt: ‚Ich gebe dir meine Tochter‘“, erinnerte sich Mutter Angelica später etwas wehmütig. „Ich bin mir sicher, sie dachte, sie würde noch weitere Kinder bekommen, aber sie bekam keine mehr.“
Das war auch kein Wunder. Die Ehe der Rizzos war bereits am Zerbrechen. Johns Unfähigkeit, die Familie finanziell zu unterhalten, trug maßgeblich dazu bei.
„Mein Vater hatte nie genügend verdient“, meinte Mutter Angelica. „Meine Mutter bestand darauf, endlich ein Haus zu mieten… Eines Nachts lag ich in meinem Gitterbett und fing an zu weinen, zu schreien und zu brüllen. Mae stand schließlich auf, um nach mir zu sehen. Und dann waren dort überall Kakerlaken, in meinem Bett, auf mir selbst und auch an den Wänden. Die Tapete bewegte sich, auch sie war voll von Kakerlaken.“ Nach einigen bissigen Kommentaren John gegenüber, in denen sie zweifellos ihre Wut über sein Versagen als Ernährer der Familie ausließ, packte Mae ihre kleine Tochter und verbrachte mit ihr die Nacht im Haus ihrer Eltern. Dies sollte in ihrer Ehe zum Normalfall werden.
Zudem wurde die Beziehung auch durch die Mutter von John Rizzo untergraben. Catherine war eine herrische Schwiegermutter. Um das Jahr 1926 konnte Catherine Rizzo keine Wohnung finden. Dabei hatte sie elf Kinder, eines davon war John. Daher wurde beschlossen, dass sie auf Maes Drängen hin bei der jungen Familie Rizzo in Canton einzog.
„Sie besaß einfach nicht genügend Weitsicht, um sich vorstellen zu können, dass etwas nicht stimmen konnte, wenn elf Kinder nichts mit ihrer Mutter zu tun haben wollten“, bemerkte Mutter Angelica mit einem bitteren Lächeln. „So nahm meine Mutter sie also auf, und damit fing der Ärger an.“
Tatsächlich gingen die Schwierigkeiten vermutlich schon sehr viel früher los. John hatte, Gerichtsunterlagen zufolge, Mae seit Jahren mit Wort und Tat misshandelt. Deshalb hatte wahrscheinlich nicht Catherine Rizzo die Ehe zerstört, jedoch war sie sicherlich der Auslöser für viele Ehestreitigkeiten.
Die beherzte Mae traf in der Großmutter Rizzo auf eine Persönlichkeit, die ihr ebenbürtig war. Sie war eine stattliche Frau mit einem entsprechenden Mundwerk. Sie duldete keine Dummköpfe, vor allem nicht in der Küche. Die gastronomischen Ansprüche von Großmutter Rizzo waren hoch. Maes Kochkünste und auch alles andere, was die junge Frau tat, entsprachen jedoch nicht den Erwartungen von Großmutter Rizzo. Sie waren auch nicht gut genug für Catherines Sohn. Die regelmäßigen Nörgeleien wurden für eine ohnehin schon verunsicherte Person wie Mae einfach zu viel.
Eines Nachmittags hatte Mae gerade ein Hähnchen mitsamt den Knochen in den Ofen geschoben, was Großmutter Rizzo nun ganz besonders auf die Palme brachte, denn sie selbst war stolz darauf, Geflügel innerhalb von Minuten entbeinen zu können. Noch ehe die Klappe zum Backofen geschlossen war, fiel die alte Dame über Mae her und beschimpfte sie wegen ihrer Unfähigkeit in der Küche. Die dreijährige Rita klammerte sich an ihre Mutter. Nachdem das Kind mehrere Minuten lang angespannt zugehört hatte, trat es zwischen seine Mutter und Großmutter Rizzo.
„Ich sagte zu meiner Großmutter: ‚Oh, sei still! Immer nur reden, reden, reden!‘ Da hob mich meine Mutter hoch und gab mir hundert Küsse, weil ich sie verteidigt hatte“, erinnerte sich Mutter Angelica. „Mein Vater hätte sie ja nie verteidigt!“
Dies sollte das erste, jedoch nicht das letzte Mal sein, dass Rita ihre Stimme erhob, um fast instinktiv ihre Mutter zu verteidigen. Auch die ersten Anzeichen der in den späteren Jahren für sie charakteristischen Fähigkeit, energisch aufzutreten, machten sich hier bemerkbar. Ihr Eingreifen trug jedoch nur wenig zur Abmilderung der Schärfe im Verhältnis zwischen Mae und ihrer Schwiegermutter bei.
Nach den Worten von Mutter Angelica rannte Mae irgendwann zwischen 1927 und 1928 wie besessen die Treppen ihres Hauses hinauf, um ein Gewehr zu suchen, mit dem sie die alte Frau erschießen wollte. „Wenn die Mutter meines Vaters daheim gewesen wäre, hätte sie es auch getan. Zum Glück war sie aber schon nach Reading in Pennsylvania abgereist, um dort bei ihrer Tochter zu wohnen…“
Ab November 1928 lebte auch John Rizzo anderswo. Er zog nach Kalifornien und ließ zwei Jahre lang nichts von sich hören. Er gab weder einen Grund für seine Abreise an, noch hinterließ er irgendeine Adresse. Ohne Geld und ohne eine Arbeit musste Mae den Rest der Familie versorgen. Wie Flüchtlinge kehrten sie und die fünfjährige Rita in das Haus ihrer Eltern zurück. Dort hieß man sie nicht gerade willkommen. Das Haus der Gianfrancescos war bereits voll belegt. Maes vier Brüder (Tony, Pete, Frank und Nick) und die alten Gianfrancescos bewohnten die beiden Schlafzimmer. Deshalb waren Rita und Mae gezwungen, in einer renovierten Dachkammer zu schlafen. In den letzten Jahren erzählte Mutter Angelica oftmals über den ersten Winter in diesem Haus. Als sie und ihre Mutter in der Dachkammer schliefen, riss ein Sturm die Fenster auf und bedeckte sie mit Schnee. Doch angesichts der damaligen finanziellen Möglichkeiten und des Großmutes der Gianfrancescos erscheint es doch seltsam, dass sie ihre eigene Tochter und Enkelin solch widrigen Umständen ausgesetzt hatten…
Anthony Gianfrancesco war trotz der Armut, die ihn umgab, alles andere als arm. Er besaß drei Häuser in der Nachbarschaft, die er äußerst günstig an Familien sowie an frisch ankommende italienische Einwanderer vermietete. Anthony stammte aus Neapel, wanderte von dort aus und ließ sich zunächst in Colorado nieder, wo er in einer Goldmine arbeitete, bevor er nach Akron in Ohio umzog. Dort begegnete er Mary Votolato und heiratete sie. Konflikte mit seiner Schwiegermutter trieben ihn dazu, nach Canton umzusiedeln. Dort eröffnete er ein Geschäft.
Das Lokal, das Anthony Gianfrancescos Namen trug, wurde zu einem sicheren Hafen für ausländische Familien, die mit dem Schiff in einem fremden neuen Land ankamen. Im Südosten Cantons wurde Gianfrancescos Lokal zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Italiener: Dort konnte man die Muttersprache sprechen, untereinander in Kontakt kommen, sich unter seinesgleichen aufhalten und sich gegenseitig von den Demütigungen erzählen, die man bisweilen durch die Amerikaner erdulden musste. Mutter Angelica erinnerte sich daran, wie ihr Großvater die italienischen Neuankömmlinge mit Kleidung versorgte und ihnen bei der Arbeitssuche behilflich war. Großmutter Gianfrancesco gab den Einwandererfamilien oft in einem Zimmer oberhalb des Lokals etwas zu essen. Dort trafen sich auch manchmal die italienischen Clubs. Es war ein Familienlokal, in dem es verboten war, sich zu betrinken. Wenn die Rechnung zu hoch wurde oder die Stunde vorgerückt war, schickten die Gianfrancescos ihre Gäste nach Hause.
Wahrscheinlich wurde im Lokal der Gianfrancescos auch noch Schnaps oder Bier serviert, als dies durch das staatliche Alkoholverbot nicht mehr erlaubt war, das in Canton ab dem 16. Januar 1920 Gültigkeit hatte und erst im Februar 1933 wieder aufgehoben wurde. Noch lebhaft erinnerte sich Mutter Angelica an ein Ereignis, das sich entweder 1929 oder 1930 abspielte.
„Ich konnte nicht älter als vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, und mein Großvater wollte mich nicht im Lokal haben. Er gab mir einen kleinen Krug mit Bier. Er gab mir außerdem vier oder fünf Brezeln und sagte zu mir: ‚Geh hinaus und setz dich auf den Bordstein und lass es dir schmecken!‘ Ich ging also hinaus, setzte mich auf den Bordstein, trank dieses Bier und aß dazu die Brezeln, als plötzlich die Musikkapelle der Heilsarmee auftauchte. Sie stellten sich also vor mich hin und fingen an, alle möglichen Psalmen aufzusagen und für mein Seelenheil zu beten. Sie müssen total schockiert gewesen sein, als sie sahen, wie dieses kleine Kind Bier trank. Ich erinnere mich noch daran, wie ich meinen Großvater anbrüllte: ‚Da draußen ist eine Musikkapelle!‘“
Das kleine Mädchen mit der Pagenkopf-Frisur hatte jedenfalls die beste Gelegenheit, das Leben in seiner ungeschminkten Form aus nächster Nähe zu kennenzulernen. An der Kreuzung zwischen der Liberty Street und Eleventh Street beobachtete sie die Menschen und den Lauf der Welt, wobei wohl nicht alle so harmlos waren wie die vorbeimarschierende Heilsarmee. Bei ihren Bordsteinausflügen unterhielt sie sich mit Prostituierten, Bandenmitgliedern, mit Männern, die aus den Fabriken heimkehrten, mit Mamooch – einer Italienerin, die betend auf den Straßen umherstreunte – und mit den Schwarzen, die auch in ihrem Viertel wohnten. Dieses sich ständig drehende Karussell vieler verschiedener Menschen flößte dem Kind ein Mitgefühl für Fremde ein und brachte ihm bei, wie man leicht Kontakt zu Menschen verschiedenster Herkunft knüpft. In diesem Laboratorium des Lebens nahm die kleine Rita das Elend der Welt und den verborgenen Humor auf, wie es nur wenigen möglich ist.
Etwa zu dieser Zeit eröffnete Mae Rizzo eine chemische Reinigung neben dem Lokal ihres Vaters, nachdem sie zuvor eine kurze Ausbildung bei einem Schneider und in einer Reinigung gemacht hatte. Es sollte die erste von vielen Bemühungen sein, mit einem Geschäft ohne Unterstützung ihrer Familie für Ritas Unterhalt zu sorgen. Wenn sie schon unter dem Dach ihrer Eltern leben musste, dann war sie auch entschlossen, ihnen zu zeigen, dass sie ihre Tochter auch ernähren konnte, und zwar allein.
Auch in Glaubensdingen bewies Mae denselben Hang zur Eigenständigkeit. Obwohl die Gianfrancescos keine Kirchgänger waren, fing Mae an, die St. Antonius-Kirche regelmäßig zu besuchen. Die Kirche und ihr Seelsorger, Pfarrer Joseph Riccardi, vermittelten der verlassenen Frau ein Gefühl des Trostes und des Friedens. Ehrenamtlich organisierte sie italienische Festlichkeiten für die Pfarrei. Eine dieser Veranstaltungen sollte den Rahmen für Rita Rizzos ersten öffentlichen Auftritt bilden. Einige Jahre, nachdem Al Jolsons Film „Der Jazzsänger“ das Land 1927 im Sturm nahm, imitierte Rita ihn auf der Bühne. Die Sechsjährige trug einen Knabenanzug und spazierte in den überfüllten Gemeindesaal, um „Danny Boy“ zu singen.
„Die Bühne machte auf mich einen gigantischen Eindruck… Meine Mutter war wie zu Stein erstarrt, aber sie sagte: ‚Schau, ich werde dort im Publikum sitzen, sodass du deine Augen direkt auf mich richten kannst, und dann wird schon alles gut gehen! Du singst einfach dein Lied, in Ordnung?‘ Ich sagte: ‚In Ordnung.‘ Und ganz plötzlich schob mich mein Onkel hinaus, die großen Vorhänge hoben sich, und ich stand da. Ich begann also, mein Lied zu singen. Und genau an der Stelle, an der Al Jolson in dem Lied weinte, weil Danny Boy starb, konnte ich meine Mutter nicht finden. Jemand musste sich vor sie hingestellt haben. So fing ich an, erbärmlich zu weinen. Ich sang weiter, aber ich weinte dabei wie ein Baby und wurde selbst zu ‚Oh Danny Boy!‘ Bald weinte das ganze Publikum. Dann sah ich plötzlich meine Mutter, und ich war wieder ganz glücklich und sang weiter. Es war einfach perfekt! Mein Onkel Nick wurde fast verrückt. Er hob mich hoch und warf mich in die Luft, während die Leute johlten und klatschten.
So hatte Rita schon in ihrem zarten Alter nicht unbedingt für ihre Darbietungskünste Beifall bekommen, sondern vielmehr für ihre Fähigkeit, in der Öffentlichkeit aufrichtige Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Die Zuschauer fühlten sich tief verbunden mit den Gefühlskundgebungen dieses Kindes und reagierten darauf mit Zuneigung. Doch diese momentane Freude sollte nicht lange andauern.
In den späten Zwanzigerjahren löste die Bande der „Black Hand“ erneut eine Welle des Schreckens und der Gewalt in Canton aus. Ihr böses Treiben blieb von der Stadtpolizei weitgehend unbeachtet, da diese selbst an den Verbrechen beteiligt war. Bei einem der berühmtesten Mordfälle in dieser Zeit wurde Don Mellett in seiner Garage niedergeschossen. Er war der mutige Herausgeber der Tageszeitung Canton Daily News, in der er eine Artikelserie veröffentlicht hatte, in der Schwarzbrennerei und Prostitutionsringe in der Stadt angeprangert wurden. Der Polizeichef von Canton, Saranus Lengel, ein Kriminalbeamter und noch andere Personen wurden später wegen dieses Mordes verurteilt.
Da Rita, Mae und viele ihrer Nachbarn kein Vertrauen zu den Gesetzeshütern hatten, wandten sie sich lieber an die einzige stabile Institution, die ihnen zur Verfügung stand, die katholische Kirche. Sie war relativ stark in Canton und eine wirksame Kraftquelle im Leben der Gemeindemitglieder.
Bei einer von Mutter Angelica, ihrer Mutter und einigen Einheimischen berichteten Begebenheit entdeckte Pfarrer Joseph Riccardi, dass die Gangster schwarzgebrannten Schnaps an einem über jeden Verdacht erhabenen Ort vergraben hatten: auf dem Pausenhof der St. Antonius-Schule. Dieser Platz sollte einen doppelten Zweck erfüllen: Zum einen diente er den Gangstern als hervorragende Tarnung für ihren schwarzgebrannten Schnaps, zum anderen ergab sich hier eine Möglichkeit, den geradlinigen Priester zu beschämen. Doch Pfarrer Riccardi verteidigte sein Gelände, ließ auf dem Schulhof trotz Morddrohungen Scheinwerfer anbringen und benachrichtigte die städtischen Behörden. Es wäre wohl besser gewesen, wenn jemand dem zweiunddreißigjährigen Priester mitgeteilt hätte, dass die Behörden auf der Gehaltsliste der Mafia standen.
Schließlich war es jedoch die Ankündigung von Pfarrer Riccardi, dass die St. Antonius-Kirche aus dem Zentrum des Mafia-Gebietes in die relativ ruhigere Eleventh Street im Südosten der Stadt verlagert würde, die nun tatsächlich den Zorn der „Schwarzen Hand“ hervorrief. Die Umgebung der Kirche hatte immerhin als Wohngebiet und als „Geschäftsbereich“ der Gangster gedient und diesen einen gewissen Anschein von Ehrbarkeit verliehen. Außerdem war sie sicher auch ein durchaus brauchbarer Treffpunkt, um Geschäfte einigermaßen unbelästigt abzuwickeln. Was immer auch ihr Motiv gewesen sein mag, die Mafia war fest entschlossen, die Umsiedlung zu verhindern. Die neue Kirche sollte lieber in der Liberty Street gebaut werden, und zwar an der Stelle, an der das alte Gotteshaus stand. Unter Druck reichten Pfarrangehörige einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung bei Gericht ein, durch die ein Baustopp erreicht wurde, der die Bauarbeiten an der Eleventh Street für eine gewisse Zeit aufhielt.