Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe

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Franz von AssisiFranz v. Assisi in der Komödie (1944)
Nicht sehr viele Stellen des Paradiso sind so bekannt und so allgemein bewundert: wie der elfte Gesang; das ist nicht erstaunlich, denn es handelt sich um Franz von Assisi, und die Verse sind besonders schön. Und doch ist die Bewunderung für diesen Gesang nicht ganz selbstverständlich. Franz war eine der eindrucksvollsten Gestalten des Mittelalters. Das ganze 13. Jahrhundert, dem DantesDante Jugend noch angehört, war gleichsam erfüllt von ihm, und keines anderen Menschen Art, Stimme und Gebärde sind uns aus dieser Zeit so deutlich erhalten wie die seinen. Das zugleich Einsame und Volkstümliche seiner Frömmigkeit, das zugleich Süße und Herbe seiner Person, das zugleich Demütige und Grelle seines Auftretens sind unvergeßbar geblieben; Legende, Dichtung und Malerei bemächtigten sich seiner, und noch lange später schien jeder Bettelmönch auf der Straße etwas von ihm an sich zu tragen und so es tausendfach zu verbreiten. Seine Erscheinung hat gewiß viel dazu beigetragen, den Sinn für das Eigentümliche und Ausgeprägte des einzelnen Menschen zu wecken und zu schärfen; eben jenen Sinn, dessen großes Denkmal DantesDante Komödie ist. Man sollte also von der Begegnung der beiden, das heißt vom Auftreten des Heiligen in der Komödie, einen der Höhepunkte konkreter Lebensdarstellung erwarten, deren es so viele in der Komödie gibt; DanteDante fand in der damals schon halb legendären Biographie Franzens überreichlich Material, um diese Begegnung zu gestalten. Um so seltsamer ist es, daß er die Begegnung gar nicht stattfinden läßt.
Fast alle Personen der Komödie erscheinen selbst. DanteDante trifft sie an dem Ort, den das Urteil Gottes ihnen angewiesen hat, und dort ergibt sich eine unmittelbare Begegnung in Rede und Antwort. Mit Franz von AssisiFranz v. Assisi ist es anders. Zwar sieht ihn DanteDante ganz am Schluß des Gedichts, auf seinem Sitz in der weißen Rose zwischen den Seligen des Neuen Bundes; aber er spricht nicht mit ihm, und an den anderen Stellen, wo er erwähnt wird, erscheint er nicht selbst; so auch da, wo die Erwähnung am ausführlichsten und grundsätzlichsten geschieht, eben im elften Gesang des Paradiso; Franz spricht nicht selbst, sondern es wird über ihn berichtet. Ist dies schon erstaunlich, so ist es noch mehr Rahmen und Art des Berichtes.
DanteDante und Beatrice sind im Sonnenhimmel von einem singenden Reigen seliger Geister umgeben, die, ihre Bewegung unterbrechend, sich als KirchenväterKirchenväter und Weisheitslehrer zu erkennen geben; einer von ihnen, Thomas von AquinoThomas v. Aquin, nennt und charakterisiert sich und seine Gefährten (hier ist auch die berühmte Stelle über Siger von BrabantSiger v. Brabant), und alsbald beginnt der Reigen von neuem. Nun hat aber DanteDante den Sinn einiger Worte des Thomas nicht verstanden: Ich war ein Lamm der Herde des DominicusDominicus, Hl., wo man gute Weide findet, wenn man nicht abirrt – dieser Vers, u’ben s’impingua se non si vaneggia (und auch noch eine andere, auf Salomo bezügliche Stelle) bedarf für DanteDante einer Erklärung. Thomas, der wie alle Seligen die unmittelbare Schau des ewigen Lichtes besitzt, so daß ihm durch dasselbe auch DantesDante Gedanken nicht verborgen bleiben können, erfüllt den unausgesprochenen Wunsch nach Erläuterung seiner Worte, und aufs neue werden Gesang und Reigen unterbrochen, damit Thomas, von BonaventuraBonaventura unterstützt, seine Worte kommentieren kann. Dieser Kommentar umfaßt drei Gesänge. Im ersten, dem elften, erzählt Thomas das Leben des heiligen Franz und knüpft daran eine Klage über den Verfall seines eigenen, des dominikanischen Ordens; im zwölften schildert umgekehrt der Franziskaner BonaventuraBonaventura das Leben des DominicusDominicus, Hl. und schließt mit einem Tadel der Franziskaner; der dreizehnte Gesang enthält, wiederum aus Thomas’ Munde, den Kommentar über die König Salomo betreffende Äußerung. Aus den beiden Gesängen über die BettelordenBettelorden sollen DanteDante und der Leser lernen, daß beide Orden für das gleiche Ziel gegründet wurden, daß sie sich ergänzen und daß bei beiden das Leben der Stifter gleich vollkommen, der Abfall der Nachfolgenden gleich abscheulich war; daß man also in ihnen wohl gedeiht, wenn man dem Vorbild der Stifter folgt und nicht davon abirrt. Beide Gesänge sind ein Kommentar, lehrhaft, genau eingebaut in DantesDante Geschichtsdeutung, mit scharfen polemischen Wendungen nicht nur gegen die beiden Orden, sondern auch gegen PapsttumPapsttum und Geistlichkeit überhaupt. Zu dem Kommentar gehört auch die Darstellung von Franzens Leben; sie ist Teil eines Kommentars, und zwar eines mehrere hundert Verse umfassenden Kommentars, zu einem Nebensatz, der eine Zeile in Anspruch nimmt und der wohl auch kürzer zu erläutern gewesen wäre. Dies also ist der Rahmen: Thomas, der große Kirchenlehrer, kommentiert ausführlich einen eigenen Ausspruch. Solche Haltung oder Tätigkeit entspricht seiner Person; aber ist dies ein Rahmen, der der Biographie des Franciscus von AssisiFranz v. Assisi entspricht? Nach modernem Empfinden gewiß nicht. Wir haben zwar gelernt, die Art des mittelalterlichen Kommentierens aus ihren Voraussetzungen zu verstehen; wir wissen, daß sie aus der besonderen Art des damaligen Lehrbetriebes erwuchs; wir haben auch vielleicht sonst schon erfahren, daß sich in dem Geranke der kommentierenden Paraphrase zuweilen eine unvermutete Blüte findet, die der Stamm, nämlich der Text, kaum erwarten ließ, und oft genug ist er völlig verdeckt vom Kommentar; ja, dies Phänomen scheint sich nicht nur auf die Literatur zu beschränken, wenn man an manches InitialInitial oder an manche SequenzSequenz denkt. Aber hier, wo DanteDante das Leben des heiligen Franz erzählen will? Wäre dafür nicht ein weniger lehrhafter, weniger scholastischer Rahmen zu finden gewesen?
Nicht genug damit. Die Biographie, die Thomas gibt, enthält von all den bezaubernden und so überaus konkreten Einzelzügen, die die franziskanische Legende aufbewahrt hat, nur sehr wenig. Zwar das Hauptsächlichste, Geburt, Aufbau des Werkes und Tod sind der Überlieferung gemäß erzählt, aber nichts einzelnes, das zur anekdotischen Belebung dienen könnte; und auch das Hauptsächliche nur gleichsam aktenmäßig, in chronologischer Reihenfolge: Geburt, Armutsgelübde, Gründung des Ordens, Bestätigung durch den Papst InnocenzInnocenz (Papst), zweite Bestätigung durch Honorius, Missionsfahrt, Wundmale, Tod. Die Wandmalereien in Assisi erzählen viel mehr, und sie erzählen weit bunter, anekdotischer – von den verschiedenen literarischen Fassungen der Legende ganz zu schweigen. Und noch etwas kommt hinzu: bei DanteDante hat die Biographie außer dem äußeren Rahmen des Kommentars, dessen Teil sie ist, auch ein inneres Leitmotiv, und zwar ein allegorisches. Das Leben Franzens wird dargestellt als Ehe mit einer allegorischen Frauengestalt, der Armut. Wir wissen zwar, daß dies ein Motiv der franziskanischen Legende war; aber war es notwendig, dies Motiv zum beherrschenden zu machen? Wir haben, soweit wir Spezialisten für mittelalterliche Kunst oder Literatur sind, allmählich und etwas mühsam gelernt, daß die AllegorieAllegorie für bestimmte Gruppen mittelalterlicher Geistigkeit etwas anderes, Wirklicheres bedeutete als für uns – daß man in der Allegorie eine Konkretisierung des Gedankens sah, eine Bereicherung der Möglichkeiten, ihn auszudrücken. Aber das hat einen ihrer eifrigsten und verständnisvollsten Neuentdecker, HuizingaHuizinga, J., nicht gehindert, sie doch etwas abschätzig «die Wucherpflanze aus dem Treibhaus der Spätantike» zu nennen. Bei aller Erkenntnis ihrer Bedeutung können wir das Dichterische an ihr nicht mehr spontan fühlen. Und doch gibt uns DanteDante, der so viele Menschen unmittelbar reden läßt, die lebendigste Gestalt der ihm vorausgehenden Epoche, Franz von AssisiFranz v. Assisi, im Gewand eines allegorischen Berichtes. Was fast jeder spätere Dichter getan hätte, und was er selbst so oft tat, worin er der erste Meister war, nämlich den Menschen selbst in Wort und Gebärde aufs Konkreteste und Persönlichste zu gestalten, das tut er hier nicht. Der Kirchenlehrer Thomas berichtet von der Hochzeit des Heiligen mit der Frau Armut, damit DanteDante versteht, was es bedeutet, daß man in der Herde des DominicusDominicus, Hl. gute Weide findet, wenn man nicht abirrt.
Wenn man an die bekannten allegorischen Dichtungen der Spätantike und des Mittelalters denkt, an die Werke von ClaudianClaudian etwa oder PrudentiusPrudentius, von Alain de LilleAlain de Lille oder Jean de MeunJean de Meun, so ist freilich wenig Gemeinsames zwischen ihnen und der Biographie des Franciscus in der Komödie. Jene Werke bieten ganze Armeen von allegorischen Gestalten auf, beschreiben ihre Gestalt, ihre Kleidung, ihre Wohnung, lassen sie miteinander disputieren und kämpfen. Übrigens kommt auch paupertaspaupertas bei einigen von ihnen vor, aber als Laster oder Begleiterin des Lasters. DanteDante bringt hier nur eine einzige allegorische Gestalt, eben die Armut, und verbindet sie mit einer historischen, das heißt konkret wirklichen Persönlichkeit. Das ist etwas ganz anderes; er zieht die AllegorieAllegorie ins Aktuelle, er verbindet sie eng mit dem Geschichtlichen. Dies ist zwar nicht DantesDante Erfindung, es wurde ihm, mit dem ganzen Motiv, von der franziskanischen Tradition überliefert; von Anfang an erscheint in ihr die Hochzeit mit der Armut als Figur der Tätigkeit des Heiligen. Bald nach seinem Tode schon wurde ein Traktat mit dem Titel Sacrum Commercium Beati Francisci cum Domina Paupertate1 geschrieben, und Anklänge an das Motiv finden sich fortwährend, etwa auch in den Gedichten Jacopone da TodisJacopone da TodiJacopone da Todi. Aber es wird kaum konsequent durchgeführt, sondern löst sich auf in viele didaktische oder anekdotische Einzelheiten; nie wird es für eine konkrete Lebensdarstellung festgehalten. Das Sacrum Commercium enthält überhaupt nichts Biographisches, sondern ist im wesentlichen eine lehrhafte Schrift, in der die Armut eine lange Rede hält. Die Darstellung in der Unterkirche in Assisi, die früher meist GiottoGiotto zugeschrieben wurde, zeigt die Hochzeit ebenfalls jenseits aller konkreten Biographie: Christus gibt den Heiligen mit der hageren und alten, in Lumpen gehüllten Armut zusammen, während zu beiden Seiten mehrere Schichten von Engelchören an der Feier teilnehmen. Mit dem praktischen Leben des Heiligen hat das nicht unmittelbar zu tun – dieses wird in einem anderen Zyklus von Bildern dargestellt. DanteDante hingegen bringt beides in einem; mit der Hochzeitsfeier vereinigt er jene eindrucksvolle, ja sogar grelle Szene auf dem Markt in AssisiFranz v. Assisi, wo Franz öffentlich auf das Erbteil des Vaters verzichtet und diesem sogar seine Kleider zurückgibt. Verzicht auf Erbteil und Entkleidung, die sonst überall als eigentlicher Gegenstand der Darstellung hervortreten, werden bei DanteDante nicht ausdrücklich erwähnt; sie werden in die allegorische Hochzeit einbezogen; um einer Frau willen sagt sich hier Franciscus von seinem Vater los; einer Frau, die keiner haben will, die von allen wie der Tod gemieden wird; vor den Augen aller, vor den Augen des Bischofs, vor den Augen des Vaters tut er sich mit ihr zusammen. Hier wird zugleich das Besondere wie das Bedeutend-Allgemeine des Vorgangs greller hervorgehoben, als es durch den bloßen Verzicht auf etwas auszudrücken gewesen wäre: nicht weil er etwas nicht besitzen will, sondern weil er etwas anderes begehrt und zu besitzen trachtet, verwirft er die väterlichen Güter und sagt sich vom Vater los; er tut es um einer Liebe, um einer Begierde willen, die unwillkürlich die Erinnerung an andere ähnliche Vorgänge wachruft, wo junge Männer um schlechter Weiber willen, die ihre Begierden entzündet haben, ihre Familie verlassen. Schamlos gleichsam, vor aller Augen, tut sich Franciscus mit einem Weibe zusammen, das von allen verachtet wird, und die Erinnerung an schlechte Weiber wird, wie wir gleich genauer sehen werden, durch die weitere Ausmalung immer wieder geweckt. Es ist also eine seltsame, nach gewöhnlichen Begriffen abstoßende Hochzeit, eine häßliche Feier, die sich hier vollzieht, verbunden mit Streit wider den eigenen Vater, öffentlich, grell und eben dadurch noch bedeutsamer als die Rückgabe der Kleider, die ja nicht sogleich jene Gedanken an Verworfenheit und Heiligkeit heraufbeschwört wie die Ehe mit einem verachteten Weibe. Und hier erwacht die Erinnerung an einen anderen, der früher einmal solche Hochzeit feierte; der sich auch mit einem verachteten, verlassenen Weibe, der armen, verstoßenen Menschheit, der Tochter Zion, vermählte; der auch freiwillig sein Erbteil aufgab, um seiner Liebe zu der verstoßenen zu folgen. Die Vorstellung, daß Franz von AssisiFranz v. Assisi in seinem Leben und seinem Schicksal gewisse Übereinstimmungen mit dem Leben Christi zeigt, also das Motiv der Nachfolge oder Konformität, ist von der franziskanischen Überlieferung immer mit Liebe gepflegt warden. Die Biographie Bonaventuras läßt sich von diesem Gedanken leiten, und er hat auch in der Malerei seinen Ausdruck gefunden, zuerst in der Unterkirche von Assisi, wo fünf Darstellungen aus dem Leben Christi fünf entsprechenden aus dem Leben des Franciscus gegenübergestellt sind. Die Konformität wird auch in vielen Einzelheiten gefunden, etwa in der Zahl der Jünger, dem gemeinsamen Leben mit ihnen, den verschiedenen Wundertaten und vor allem in der Stigmatisation. DanteDante hat das Motiv in seinen Einzelzügen nicht verfolgt, bringt er doch überhaupt keine Einzelzüge; aber er hat es in der mystischen Hochzeit bewußt herausgearbeitet: also nicht in den einzelnen Zügen, sondern im Ganzen und Grundsätzlichen; freilich auf eine Weise, die dem mittelalterlichen Leser unmittelbarer einleuchtet als dem heutigen.
Die Biographie, die Thomas von AquinThomas v. Aquin hier erzählt, beginnt mit einer Beschreibung der Lage von AssisiFranz v. Assisi. «Von jenem Hange», fährt Thomas dann fort, «ward der Welt eine Sonne geboren, leuchtend wie diese, wenn sie aufgeht; darum sollte, wer von jenem Ort spricht, nicht Ascesi sagen, sondern Oriente.» Dies Wortspiel kann nur dazu dienen, den Vergleich der Geburt des Franciscus mit der aufgehenden Sonne zu betonen; sol oriens aber, oriens ex alto ist nach einer im Mittelalter weit verbreiteten Vorstellung Christus selbst (nach LucasLukas (Evangelist) 1, 78 und einigen lichtsymbolischen Stellen bei JohannesJohannes (Evangelist));2 dies Symbol beruht auf Mythen, die, weit älter als das Christentum, in den Mittelmeerländern feste Wurzeln haben – zumal in Verbindung mit der mystischen Hochzeit. Für DanteDante verschmolzen in der Vorstellung des Sonnenkindes als Weltheiland, dem die mystische Hochzeit bestimmt ist, die Geburt des Herrn, die Hochzeit des Lammes und die Vision der vierten Ekloge VergilsVergil, die für ihn und seine Zeitgenossen eine Christusprophetie war. Kein Zweifel also, daß er durch den Vergleich mit der aufgehenden Sonne, auf den die mystische Hochzeit als erste Bestätigung der sonnengleichen Kraft des Heiligen unmittelbar folgt, das Motiv der Konformität oder Nachfolge Christi hat anklingen lassen und herausarbeiten wollen. Der Vergleich mit der aufgehenden Sonne ist eine überaus feierliche Einleitung, mit der das Herbe, Häßliche und Abstoßende der Hochzeit in wirksamem Gegensatz steht. Der Gegensatz ist schon länger vorbereitet, und ich glaube nicht, daß das Zufall ist. Das Motiv der mystischen Hochzeit ist nämlich kurz vorher schon zweimal angeschlagen worden, das eine Mal auf sehr liebliche, das zweite Mal auf erhaben-feierliche Art, beide Male mit allem Zauberglanz der Schönheit, dessen DanteDante fähig ist. Das erste Mal erscheint es als Bild, in dem Vergleich des Reigens der seligen Geister mit dem Glockenwerk, das zur Matutin ruft, am Ende des 10. Gesanges:
Indi, come orologio che ne chiami
Nell’ora che la sposa di Dio surge
A mattinar lo sposo perchè l’ami,
Che l’uma parte l’altra tira ed urge
Tin tin sonando con si dolce nota,
Che’l ben disposto spirto d’amor turge;
Cosi vid’io la gloriosa rota
Muoversi …
Hier ist das Motiv nur in einem Vergleich angedeutet, aber doch in all seiner lieblichen Freude, seiner dolcezza konkret geworden; hier wie in der folgenden Stelle ist der Bräutigam Christus, und die Kirche, das heißt die Christenheit, ist die Braut. In der zweiten Stelle, unmittelbar vor dem Beginn der Vita Francisci, wird es dramatischer, grundsätzlicher und bedeutender: es ist die Kreuzeshochzeit selbst, um die es geht. Thomas will, zu Beginn seiner kommentierenden Rede, DanteDante die Absicht der Vorsehung verdeutlichen. Zwei Führer, so sagt er (nämlich Franciscus und DominicusDominicus, Hl.), sandte die Vorsehung, damit die Kirche sicherer und treuer ihrem Weg zu Christus folgen könne: und dieser «Damit»-Satz lautet:
Però che andasse vêr lo suo diletto
La sposa di colui ch’ad alte grida
Disposò lei col sangue benedetto
In sè sicura ed anche a lui più fida …
Das ist nicht mehr lieblich, das ist feierlich und erhaben; die ganze nachchristliche Weltgeschichte ist für DanteDante beschlossen in dem Bilde von der Braut, die zu ihrem Geliebten geht. Auch hier ist das Freudige, die jubelnde Bewegung des Hochzeitlichen sehr stark; zwar auch das Bittere der Qual jener Kreuzeshochzeit klingt auf; mit lautem Schrei, durch das heilige Blut ward sie vollzogen; aber nun «ist es vollbracht», und der Triumph Christi ist entschieden.
Das eine Mal lieblich, das zweite Mal feierlich-erhaben, beide Male voll hochzeitlicher Freude, stehen beide Vorankündigungen, ebenso wie die Sonnengeburt, ästhetisch in scharfem Gegensatz zu der Hochzeit, die sie vorbereiten. Schrill, mit einem Mißton, dem Streit mit dem Vater, den harten Reimworten guerra und morte beginnt dieses Fest. Und vollends die Braut: sie wird nicht genannt und nicht beschrieben, aber sie ist so, daß ihr niemand die Pforte der Lust öffnen will – ebensowenig wie dem Tode (la morte). Es erscheint mir durchaus erforderlich, das Eröffnen der Pforte der Lust im eigentlichsten Sinne, als geschlechtlichen Vorgang zu verstehen, porta also als Tor des weiblichen Körpers. Die andere, von manchen Kommentatoren vorgezogene Erklärung, daß es sich um das Tor des Hauses desjenigen handelt, der der Armut oder dem Tode den Eintritt verweigert, läßt sich zwar durch manche Stellen aus verschiedenen Texten stützen, wo gesagt wird, daß dem anpochenden Tod oder der anpochenden Armut niemand öffnen will; sie paßt aber nicht in den hochzeitlichen Zusammenhang und erklärt nicht ausreichend porta del piacere; DanteDante hätte überdies die so stark sich aufdrängende Möglichkeit der geschlechtlichen Erklärung gewiß vermieden, wenn er sie nicht eben ausdrücklich beabsichtigt hätte: sie paßt vollkommen zu dem konkreten Eindruck des Bitter-Abstoßenden, den er hier überhaupt hervorrufen will. Keiner also mag die Frau, die Franciscus sich erwählt hat, sie ist verachtet und gemieden, seit Jahrhunderten wartet sie vergeblich auf einen Liebhaber – einer der alten Kommentatoren, Jacopo della LanaJacopo della Lana, betont noch ausdrücklich, daß sie nie jemandem nein gesagt hat –, aber Franciscus, die aufgehende Sonne vom Berg Subasio, vereinigt sich öffentlich mit dieser Frau, deren Namen noch nicht genannt wird, deren Darstellung aber in jedem Hörer das Bild einer alten und verachteten, häßlichen und doch noch liebesdurstigen Dirne wecken muß. Seither liebt er sie von Tag zu Tag mehr. Seit mehr als einem Jahrtausend ist sie ihres ersten Gemahls (Christi, der aber noch nicht genannt wird) beraubt, inzwischen lebte sie verachtet und verlassen, bis Franciscus erschien; es hat ihr nichts genutzt, daß sie beim Besuch CaesarsCaesar ihrem damaligen Gefährten, dem Fischer Amiclates (nach LucanLukan) ruhige Sicherheit verlieh; auch nicht, daß sie, stark und mutig, mit Christus aufs Kreuz stieg, als selbst Maria unten blieb. Nun wird es freilich klar, um wen es sich handelt, und nun nennt Thomas auch den Namen; aber auch jetzt ist das Erhaben-Heroische der paupertaspaupertas nicht frei von einem grotesken und bitteren Beigeschmack. Daß eine Frau mit Christus aufs Kreuz steigt, ist schon eine etwas seltsame Vorstellung;3 noch seltsamer ist die Durchführung der Allegorie bei der Gewinnung der ersten Gefährten. Wie man auch den syntaktisch nicht ganz deutlichen Satz v. 76–78 verstehen mag, der allgemeine Sinn ist ganz klar: die einträchtige Liebesgemeinschaft in der Ehe zwischen Francesco und Povertà erregt bei anderen den Wunsch, an solchem Glücke teilzunehmen; zuerst legte Bernardo (von Quintavalle) seine Schuhe ab und begann «diesem Frieden nachzulaufen, und während er lief, schien er sich selbst noch allzu langsam»; dann ziehen auch Egidio und Silvestro die Schuhe aus und folgen dem sposo, dem jungen Gatten; so sehr gefällt ihnen die sposa!
Zu der grotesken und schauerlichen Vorstellung der geschlechtlichen Vereinigung mit einem verachteten Weibe, welches Armut oder Tod heißt und diese Inhalte auch in ihrer Gestalt verwirklicht, gesellt sich hier ein Bild, das für spätere Geschmacksrichtungen bis zur Unerträglichkeit ungehörig gewesen wäre; die fromm-ekstatische Nachfolge der ersten jünger wird dargestellt als liebesdurstige Verfolgung des Weibes eines anderen. Solche Bilder waren im christlichen MittelalterMittelalter, zu Beginn des 14. Jahrhunderts, sicher ebenso eindrucksvoll, wie sie später gewesen wären, aber die Art des Eindrucks war eine andere. Das Leibliche, Intensive und Plastische, welches in Vorstellungen erotischer Art liegt: einem Weibe nachlaufen, sich mit ihr geschlechtlich vereinigen, wurde nicht als ungehörig, sondern, wie in der Deutung des Hohen Liedes, als Versinnbildlichung des Inbrünstigen empfunden. Für späteres Empfinden ist freilich die Verflechtung so verschiedener Bereiche, die Mischung des bis zum Würdelosen Leiblichen mit der höchsten geistigen Würde schwer zu ertragen, und selbst heutzutage, wo man wieder weit eher geneigt ist, auch extreme Formen der StilmischungStilmischung in der modernen Kunst zu bewundern, werden bei einem älteren, allgemein verehrten Dichter wie DanteDante solche Stellen selten in ihrem Inhalt voll ausgeschöpft; meist werden sie nicht bemerkt und überlesen. Noch verkehrter wäre es freilich, wenn man sie im Sinne eines anarchischen Extremismus deuten wollte, wie er sich, oft sehr ehrlich und aus sehr ernsten Ursachen, in unserer Epoche bemerkbar macht; DanteDante ist zwar oft bis zum äußersten «expressionistisch», aber dieser Expressionismus lebt aus einer vielschichtigen Überlieferung und weiß, was er ausdrücken will und soll.
Das Vorbild eines Stils, in dem sich die äußerste Erhabenheit mit der äußersten Entwürdigung im Sinne dieser Welt verband, war die Geschichte Christi, und dies führt uns zu unserem Text zurück. Franz, der Nachfolger Christi, lebt nun mit seiner Geliebten und seinen Gefährten, alle bekleidet mit dem Strick der Demut – auch er ist, wie seine Geliebte, dem äußeren Anschein nach überaus verächtlich und von geringer Abkunft; aber das erfüllt ihn nicht mit Kleinmut, sondern wie ein König offenbart er seine «harte Absicht», nämlich die Gründung eines Bettelordens, dem Papst. Denn auch er ist, wie Christus, zugleich der Ärmste und Verachtetste der Armen und ein König – und wenn im ersten Teil der Vita mehr das Verächtliche zum Ausdruck kommt, so tritt in dem zweiten, der von den päpstlichen Bestätigungen, seiner Missionsfahrt, seinen Wundmalen und seinem Tode handelt, Triumph und Verklärung stärker hervor. Königlich eröffnet er seinen Plan dem Papst und erhält dessen Bestätigung; die Schar der MinoritenMinoriten wächst, die ihm folgt, ihm, dessen Leben besser in der Glorie des Himmels zu besingen wäre; der heilige Geist krönt sein Werk durch den Papst HonoriusHonorius (Papst); und nachdem er vergeblich bei den Heiden das Martyrium gesucht hat, empfängt er in der Heimat, auf dem rauhen Fels zwischen Tiber und Arno, von Christus selbst das letzte Siegel, das seine Nachfolge bestätigt: die Wundmale. Als es Gott gefällt, ihn für seine Demut durch den Tod, durch die ewige Seligkeit zu belohnen, empfiehlt er seine Geliebte der treuen Liebe seiner Brüder, seiner rechten Erben; und aus ihrem, der Armut Schoß steigt seine herrliche Seele empor, um in ihr Reich zurückzukehren; für den Leib wünscht er keine andere Bahre als eben den Schoß der Armut. Das Ganze klingt aus in eine starke rhythmisch-rhetorische Bewegung, die zu der Anklage gegen die späteren Dominikaner überleitet; Thomas fordert seinen Hörer DanteDante auf, an der Größe Franzens die des anderen Führers, des DominicusDominicus, Hl. zu ermessen, der den Orden, dem Thomas selbst angehörte, gegründet hat: Pensa oramai qual fu colui …