Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe

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Das sind schon sehr lebendige Varianten, und sie hatten bedeutende Zukunft; Urbild, Abbild, Scheinbild, Traumbild sind Bedeutungen, die immer mit figurafigura verknüpft bleiben. Die geistreichste Verwendung des Wortes findet LucrezLukrez aber noch auf einem anderen Wege. Man weiß, daß er die demokritisch-epikurEpikureische Kosmogonie vertritt, die die Welt aus Atomen baut. Die Atome nennt er primordiaprimordia, principiaprincipia, corpusculacorpuscula, elementaelementa, seminasemina, ganz allgemein auch corpora, quorum
concursus motus ordo positura figura8 (1, 685 und 2, 1021)
die Dinge hervorbringt. Nun sind die Atome zwar sehr klein, aber doch stofflich und geformt; sie haben unendlich verschiedene Gestalten; und so kommt es, daß er sie selbst sehr oft Gestalten, figurae, nennt; und daß man umgekehrt häufig, wie DielsDiels, H. es auch gelegentlich getan hat, figurae mit «Atome» übersetzen kann.9 Die zahllosen Atome sind in unablässiger Bewegung, sie schweifen im Leeren, vereinen sich und stoßen einander ab: es ist ein Reigen von Figuren. Diese Verwendung des Wortes scheint nicht über LucrezLukrez hinausgedrungen zu sein; der Thesaurus führt noch eine einzige Stelle an, bei ClaudianClaudian in Rufin. 1, 17, also aus dem Ende des 4. Jahrhunderts. So ist, auf diesem kleinen Gebiet, seine originellste Schöpfung wirkungslos geblieben; ohne jeden Zweifel aber hat von allen Autoren, die ich aus Anlaß von figurafigura durchgearbeitet habe, LucrezLukrez zwar nicht den geschichtlich wichtigsten, aber den persönlich genialsten Beitrag geliefert.
In CicerosCicero häufiger und überaus geschmeidiger Verwendung des Wortes sind alle Abwandlungen des Gestaltbegriffs vertreten, die die politische, die publizistisch-rhetorische, die juristische und die philosophische Tätigkeit ihm nahebrachten; auch seine liebenswürdige, erregbare und unscharfe Menschlichkeit läßt sich aus ihr ablesen. Oft braucht er es vom Menschen, manchmal mit pathetischem Ton: portentum atque monstrum certissimum est, esse aliquem humana specie et figura, qui tantum immanitate bestias vicerit, ut …, heißt es pro S. Roscio 63, und tacita corporis figura ist pro Q. Roscio 20 die stumme Gestalt, deren Aussehen schon den Schurken verrät. Auch die Glieder und die inneren Organe, die Tiere, Geräte, Sterne, kurz alles Sinnliche hat figura, auch die Götter und das Universum im ganzen; das sinnlich Erscheinende, ja Scheinende des griechischen σχῆμασχῆμα kommt gut heraus, wenn er vom Tyrannen sagt, er habe nur die figura hominis, und von unsinnlichen Gottesvorstellungen, sie seien ohne figura und sensussensus. Selten sind klare Abgrenzungen gegen formaforma (z. B. de nat. Deor. 1, 90, vgl. oben Anm. 7), und der Gebrauch von beiden ist nicht auf das Optische und Plastische beschränkt; er spricht von der figura vocis, ja von einer figura negotii und sehr oft von den figurae dicendi. Natürlich besitzen auch die geometrischen und stereometrischen Gebilde eine figurafigura. Dagegen ist figura als Abbild bei ihm noch kaum entwickelt. Zwar ist de nat. Deor. 1, 71 davon die Rede, daß Cotta, einer der Unterredner, den Ausdruck quasi corpus der Götter eher verstehen könnte, si in cereis fingeretur auf fictilibus figuris, und de Div. 1, 23 handelt es sich um die figura eines Felsstücks, die einem kleinen Pan nicht unähnlich sein soll. Aber das genügt nicht, denn es ist eben die figura des Tones und des Steines, nicht die des Dargestellten, von der gesprochen wird.10 Die sich vom Körper ablösenden Schemen DemokritsDemokrit, von denen bei LucrezLukrez die Rede war, nennt er imagines (a corporibus enim solidis et a certis figuris vult fluere imagines Democritus. De Div. 2, 137),11 und die Götterbilder heißen bei ihm zumeist signa, nie figurae. Man kann als Beispiel dafür den bösen Witz gegen Verres 3, 89 anführen: Verres wollte in einer sizilischen Stadt ein kostbares Götterstandbild rauben, verliebte sich aber in die Frau seines Wirtes: contemnere etiam signum illud Himerae jam videbatur quod eum multo magis figura et lineamenta hospitae delectabant.12 Von so kühnen Neuerungen wie den lucrezischen Grundelementen ist vollends nichts zu finden, und so zeigt sich, daß CicerosCicero Beitrag vor allem in der Einführung, Anpassung und Nutzbarmachung des sinnlichen Gestaltbegriffs figurafigura für die Sprache der Gebildeten bestanden hat. Er hat es hauptsächlich in den philosophischen und rhetorischen Schriften verwendet, am häufigsten in der Schrift über das Wesen der Götter, und er hat sich dabei um etwas bemüht, was wir heute einen ganzheitlichen Gestaltbegriff nennen würden. Es ist nicht nur sein bekanntes Streben nach rednerischer Fülle, wenn er sich selten mit figura allein begnügt, sondern mehrere ähnliche, auf den Ausdruck eines Ganzen gerichtete Worte häuft: forma et figura, conformatio quaedam et figura totius oris et corporis, habitus et figura, humana species et figura, vis et figura, und vieles in dieser Art. Sein Streben nach einer Gesamtauffassung der Erscheinungen ist unverkennbar, und es mag sich davon auch etwas dem römischen Leser mitgeteilt haben. Zu einer energischen Begründung und Formulierung solchen Gestaltbegriffs befähigten ihn freilich weder sein Talent noch seine eklektische Haltung, und so bleibt sein Bemühen unscharf; man muß sich mit dem Vergnügen an der Fülle und der Ausgewogenheit der Worte begnügen. Noch wichtiger für die weitere Entwicklung von figurafigura ist etwas anderes: bei CiceroCicero und bei dem Auctor ad HerenniumAuctor ad Herennium findet es sich zum ersten Male als technischer Ausdruck der RhetorikRhetorik, und zwar für die σχῆματα oder χαραϰτῆρες λέξεως, die drei Höhenlagen des Stils, die ad Her. 4, 8, 11 als figura gravis, mediocrisfigurafigura gravis, mediocris, tenuis und attenuata, de or. 3, 199 und 212 als plena, mediocris und tenuis bezeichnet werden. Dagegen benutzt CiceroCicero (wie VetterVetter, E., der Verfasser des Artikels figura im ThLL, dort 731, 80f. ausdrücklich bemerkt) das Wort noch nicht als Fachausdruck für die umschreibenden und schmückenden, die eigentlich «figürlichen» Redeweisen. Diese kennt und beschreibt er ausführlich, aber er nennt sie noch nicht, wie die Späteren, figurae, sondern zumeist formae et lumina orationis, also auch hier pleonastisch. Übrigens braucht er den Ausdruck figura dicendi – meist forma et figura dicendi – auch häufig ohne genaue fachliche Festlegung, einfach als Art und Weise der Beredsamkeit; sowohl allgemein, wenn er ausdrücken will, es gebe unzählige Arten derselben (de or. 3, 34), als auch individuell, wo er von Curio sagt: suam quandam expressit formam figuramque dicendi (ib. 2, 98): so daß die Studenten in den Rhetorenschulen, für die Ciceros Schriften über die Beredsamkeit bald als Kanon galten, sich an diese Zusammenstellung gewöhnten.
Somit war figurafigura am Ende der republikanischen Zeit zum festen Besitz der gebildeten und philosophischen Sprache geworden, und das erste Jahrhundert des Kaiserreichs hat die Bedeutungs- und Verwendungsmöglichkeiten des Wortes noch weiter ausgeschöpft. An dem Spiel zwischen Urbild und Abbild, dem Gestaltwandel, dem täuschend nachahmenden Traumbild sind, wie sich denken läßt, besonders die Dichter beteiligt. Schon CatullCatull hat de Aty. 62 die charakteristische Stelle: quod enim genus figurae est ego quod non obierim? ProperzProperz sagt13 3, 24, 5 mixtam te varia laudavi semper figura oder 4, 2, 21 opportuna meast cunctis natura figuris; in dem schönen Schluß des Panegyricus ad Messalam findet sich, wo von der gestaltwandelnden Kraft des Todes gesprochen wird, mutata figura; und VergilVergil beschreibt Aeneis 10, 641 das Trugbild, das dem Turnus die Gestalt des Aeneas vorspiegelt, morte obita qualis fama est volitare figuras. Aber die ergiebigste Quelle für figurafigura im Gestaltwandel ist natürlich OvidOvid. Zwar braucht er unbedenklich, wenn der Vers ein zweisilbiges Wort verlangt, auch forma; aber meist ist es doch figura, und ein bewunderungswürdiger Reichtum an Kombinationen steht ihm dabei zur Verfügung: er sagt figuram mutare, variare, vertere, retinere, inducere, sumere, deponere, perderefigurafiguram mutare, variare, vertere, retinere, inducere, sumere, deponere, perdere; und die folgende kleine Sammlung mag von seiner Mannigfaltigkeit eine Vorstellung geben:
… tellus … partimque figuras/rettulit antiquas (Met. 1, 436);
… se mentitis superos celasse figuris (ib. 5, 326);
sunt quibus in plures ius est transire figuras (ib. 8, 730);
… artificem simulatoremque figurae/Morphea (ib. 11, 634);
ex alias alias reparat natura figuras (ib. 15, 253);
animam … in varias doceo migrare figuras (ib. 15, 172);
lympha figuras/datque capitque novas (ib. 15, 308).
Auch das Bild vom Siegel ist aufs schönste vertreten:
Utque novis facilis signatur cera figuris
Nec manet ut fuerat nec formas servat easdem,
Sed tamen ipsa eadem est … (ib. 15, 169ss).
Ferner findet sich schon recht deutlich bei ihm figurafigura als «Abbild», etwa fast. 9, 278 globusimmensi parva figura poli, oder Her. 14, 97 und Pont. 2, 8, 64; als «Buchstabe», wie schon übrigens bei VarroVarro, ducere consuescat multas manus una figuras (ars, 3,493); schließlich als Stellung im Liebesspiel: Venerem iungunt per mille figuras. Ars, 2, 679. Überall erscheint bei ihm figura bewegt, wandelbar, vielfältig und zu Täuschung geneigt. Sehr kunstvoll verwendet das Wort auch der Dichter der Astronomica, ManiliusManilius, bei dem figura, außer in den schon erwähnten Bedeutungen, als «Sternbild» und als «Konstellation» (neben signumsignum und forma) erscheint. Als «Traumbild» trifft man es bei LucanLukan und bei StatiusStatius.
Sehr verschieden hiervon, und auch von dem, was uns die RhetorikerRhetorik zeigen werden, ist das Bild bei dem Architekten VitruvVitruv. Bei ihm ist figurafigura die architektonische und die plastische Gestalt, allenfalls die Nachbildung davon oder der Grundriß; von Täuschung und Verwandlung ist bei ihm nichts zu spüren, und figurata similitudine, 7, heißt in seiner Sprache keineswegs «durch Vortäuschung», sondern «durch formende Herstellung einer Ähnlichkeit». Oft heißt figura «Grundriß», «Plan» (modice picta operis futuri figura, 1, 2, 2), und universae figurae species oder auch summa figuratiofiguratio ist die Gesamtgestalt eines Gebäudes oder eines Menschen (er vergleicht gern beides unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie). Trotz gelegentlicher mathematischer Verwendung hat figura (und auch fingerefingere) bei ihm und den anderen zeitgenössischen Fachschriftstellern eine sehr fest plastisch-sinnliche Bedeutung; so bei FestusFestus p. 98 crustulum cymbi figura,14 bei CelsusCelsus venter reddit mollia, figurata (2, 5, 5), bei ColumellaColumella ficos comprimunt in figuram stellarum floscularumque (12, 5, 5). Weit großzügiger geht es auch in dieser Einzelheit bei dem älteren PliniusPlinius (älterer) zu, der ja einer anderen Gesellschafts- und Bildungsschicht angehörte; alle Abstufungen des Gestalt- und Artbegriffs sind vertreten. Ausgezeichnet läßt sich bei ihm, in dem bemerkenswerten Anfang des 35. Buches, wo er den Verfall der Porträtmalerei beklagt, der Übergang von Gestalt zu Porträt beobachten: Imaginum quidem pictura, qua maxime similes in aevum propagantur figurae …, und etwas später, wenn er von den durch Porträts illustrierten Büchern spricht, deren Herstellungstechnik VarroVarro erfunden hatte: imaginum amorem flagrasse quondam testes sunt … et Marcus Varro … insertis … septingentorum illustrium … imaginibus: non passus intercidere figuras, aut vetustatem aevi contra homines valere, inventor muneris etiam diis invidiosi, quando immortalitatem non solum dedit, verum etiam in omnes terras misit, ut praesentes esse ubique credi passent.
Aus der juristischen Literatur des 1. Jahrhunderts sind einige wenige Stellen belegt, die figurafigura als «leere äußere Form», ja als «Anschein» zeigen: Dig. 28, 5, 70 non solum figuras sed vim quoque condicionis continere (ProculusProculus) und Dig. 50, 16, 116 Mihi Labeo videtur verborum figuram sequi, Proculus mentem (JavolenusJavolenus).
Das Bedeutendste aber und Folgenreichste, was für die Entwicklung des Wortes im 1. Jahrhundert geschah, war die Ausbildung des rhetorischenRhetorik Figurbegriffes, deren Niederschlag wir im 9. Buch QuintiliansQuintilian besitzen. Die Sache ist älter, sie ist griechisch, und sie war, wie wir oben feststellten, schon von CiceroCicero latinisiert worden; doch CiceroCicero brauchte dafür das Wort figurafigura noch nicht, und überdies scheint in der Zwischenzeit die unablässige Diskussion über rhetorische FragenRhetorische Frage die Figuraltechnik noch sehr verfeinert zu haben. Wann für die Sache zuerst das Wort verwendet wurde, ist nicht genau zu bestimmen, wahrscheinlich schon bald nach CiceroCicero, wie sich aus einem bei GelliusGellius 9, 10, 5 erhaltenen Buchtitel (de figuris sententiarum) von Annaeus CornutusCornutus, A. und aus den Bemerkungen und Anspielungen bei beiden SenecaSeneca (Philosoph)Seneca (pater)15 und dem jüngeren PliniusPlinius (jüngerer) vermuten läßt. Es lag ja nahe, da der griechische Ausdruck σχῆμασχῆμα war. Man muß überhaupt annehmen, daß der wissenschaftstechnische Gebrauch des Wortes schon früher und reicher entwickelt worden ist, als die erhaltenen Schriften es bezeugen; daß zum Beispiel von den Figuren des SyllogismusSyllogismus (die σχῆματα συλλογισμοῦ stammen von AristotelesAristoteles selbst) im Lateinischen schon weit früher gesprochen wurde als bei BoethiusBoethius oder in dem pseudo-augustinischen Kategorienbuche.
Im letzten Abschnitt des 8. und im 9. Buche der Institutio oratoria also gibt QuintilianQuintilian eine eingehende Darstellung der TropenTropenFiguren- und FigurenlehreFigurenlehre, die einerseits, wie es scheint, eine zusammenfassende Auseinandersetzung mit früheren Meinungen und Arbeiten darstellt, andrerseits für die späteren Bemühungen um den Gegenstand grundlegend wurde. Er scheidet die Tropen von den Figuren; Tropus ist der engere Begriff und bezieht sich nur auf die uneigentliche Bedeutung von Worten und Redewendungen; Figur hingegen ist jede Formung der Rede, die vom gewöhnlichen und nächstliegenden Gebrauch abweicht. Es handelt sich bei der Figur nicht darum, Worte statt anderer Worte zu setzen, wie bei allen TropenTropenFiguren; es lassen sich auch aus Worten in ihrer eigentlichen Bedeutung und Anordnung Figuren bilden. Im Grunde sei jede Rede eine Formung, eine Figur, man brauche das Wort aber nur für poetisch oder rhetorischRhetorik besonders ausgebildete Formungen, und so unterscheide man einfache (carens figuris, ἀσχματιστόςἀσχματιτός (carens figuris)) und figürliche (figuratus, ἐσχηματσμένοςἐσχηματισμένος) Redeweisen. Die Unterscheidung zwischen Tropus und Figur gelingt nur mühsam. QuintilianQuintilian selbst schwankt häufig, zu welchem der beiden eine Redeform zu rechnen sei; der spätere Sprachgebrauch hat sich vielfach dafür entschieden, figurafigura als den Oberbegriff anzusehen, der den Tropus miteinschließt und also jede uneigentliche oder mittelbare Ausdrucksweise als figürlich zu bezeichnen. Als Tropen nennt und beschreibt er die MetapherMetapher, die SynekdocheSynekdoche (mucronem pro gladio; puppim pro navi), die MetonymieMetonymie (Mars für den Krieg, VergilVergil für VergilsVergil Werke), die AntonomasieAntonomasie (der Pelide für Achill) und vieles Ähnliche; die Figuren teilt er in solche, die den Inhalt, und solche, die die Worte betreffen (figurae sententiarum und verborumfigurafigurae verborum, figurae sententiarum). Als figurae sententiarum zählt er auf: die rhetorische FrageRhetorische Frage, mit der dazu selbstgegebenen Antwort; die verschiedenen Arten der Vorwegnahme von Einwänden (prolepsisProlepsis); das scheinbare Ins-Vertrauen-Ziehen der Richter oder Hörer oder sogar des Gegners; die ProsopopöeProsopopöe, in der man andere Personen, etwa den Gegner, oder Personifikationen wie das Vaterland selbst sprechen läßt; die feierliche ApostropheApostrophe; die konkretisierende Ausmalung eines Vorgangs, evidentiaevidentia oder illustratioillustratio; die verschiedenen Formen der IronieIronie; die AposiopeseAposiopese oder obticentiaobticentia oder interruptiointerruptio, bei der man etwas «hinunterschluckt»; die gespielte Reue über etwas, was man gesagt hat; und vieles in der gleichen Art; vor allem aber diejenige Figur, die man damals als die wichtigste ansah, die den Namen Figur vor allem zu verdienen schien: die versteckte AnspielungAnspielung (versteckte) in ihren verschiedenen Formen. Man hatte eine raffinierte Technik ausgebildet, etwas auszudrücken oder zu insinuieren, ohne es auszusprechen, und zwar natürlich etwas, was aus politischen oder aus taktischen Gründen oder einfach um der größeren Wirkung willen verborgen oder wenigstens unausgesprochen bleiben sollte. QuintilianQuintilian beschreibt, welch große Bedeutung die Übung in dieser Technik in den Rhetorenschulen besaß und daß man eigens Fälle konstruierte, die controversiae figurataecontroversiae figuratae, um sich darin zu vervollkommnen und auszuzeichnen. Als Wortfiguren schließlich nennt er absichtliche SoloecismenSoloecismus, rhetorische WiederholungenWiederholung (rhetorisch), AntithesenAntithese, GleichklängeGleichklang, Auslassungen eines Wortes, AsyndetonAsyndeton, KlimaxKlimax und einiges Verwandte.
Seine Darstellung der TropenTropenFiguren und Figuren, aus der hier nur das Allerwesentlichste zusammengefaßt wurde, ist mit einer Fülle von Beispielen und mit genauen Untersuchungen über Art und Unterscheidung der einzelnen Formen ausgestattet; sie nimmt einen großen Teil des 8. und des 9. Buches in Anspruch. Es handelt sich um ein ausgebildetes System, eine Lehre, auf die der größte Wert gelegt wurde, und dabei ist zu vermuten, daß QuintilianQuintilian unter den Rhetoren eine vergleichsweise freie Stellung einnimmt und, soweit es die Neigung der Zeit erlaubte, dem Übermaß der Haarspaltereien abgeneigt war. Die Kunst der uneigentlichen, umschreibenden, andeutenden, insinuierenden und verbergenden Redeweisen, durch die der Gegenstand, sei es geschmückt, sei es wirksamer oder perfider, herausgearbeitet werden sollte, war in der spätantiken Beredsamkeit zu einer uns fast unbegreiflichen und seltsam, ja oft albern erscheinenden Vollendung und Elastizität gediehen, und jene Redeweisen hießen figurae. Die Lehre von den Figuren der Rede hat, wie bekannt, noch im MittelalterMittelalter und in der RenaissanceRenaissance große Bedeutung gehabt; für die Stiltheoretiker des 12. und 13. Jahrhunderts dient als Hauptquelle die Schrift ad HerenniumAuctor ad Herennium.16
Damit ist die Bedeutungsgeschichte von figurafigura in der heidnischen Antike abgeschlossen; einige grammatische, rhetorische und logische Weiterbildungen ergeben sich von selbst aus dem schon Gesagten und sind zum Teil auch schon erwähnt worden.17 18
Geschichtlich bedeutend wurde der Sinn, den die KirchenväterKirchenväter dem Wort auf Grund seiner auf den vorhergehenden Seiten beschriebenen Entwicklung zu geben vermochten.
II. «Figurafigura» als RealprophetieRealprophetie bei den KirchenväternKirchenväter
Die eigentümlich neue Bedeutung des Wortes in der christlichen Welt findet sich zuerst, und zwar sogleich sehr häufig, bei TertullianTertullian. Um ihren Inhalt zu entwickeln, sollen einige Stellen besprochen werden.
In der Schrift adversus Marcionem 3, 16 spricht TertullianTertullian von Hosea, dem Sohne Nuns, der von Moses Josua genannt wird (nach 4. Mos. 13, 16): … et incipit vocari Jesus … Hanc prius dicimus figuram futurorum fuisse. Nam quia Jesus Christus secundum populum, quod sumus nos, nati in saeculi desertis, introducturus erat in terram promissionis, melle et Jacte manantem, id est vitae aeternae possessionem, qua nihil dulcius; idque non per Moysen, id est, non per legis disciplinam, sed per Jesum, id est per evangelii gratiam provenire habebat (vulgärlat. Form für «geschehen sollte»), circumcisis nobis petrina acie, id est Christi praeceptis; Petra enim Christus; ideo is vir, qui in huius sacramenti imagines parabatur, etiam nominis dominici inauguratus est figura, Jesus cognominatus. Es handelt sich hier um die Namengebung Josua-Jesus als prophetischen Vorgang, der Späteres vorausverkündigt.19 So wie Josua, und nicht Moses, das Volk Israel ins gelobte Land Palästina führte, so führt Jesu Gnade, und nicht das jüdische Gesetz, das «zweite Volk» in das gelobte Land der ewigen Seligkeit. Der Mann, der als prophetische Vorankündigung dieses noch verborgenen Mysteriums auftrat, qui in huius sacramenti imagines parabatur, wurde unter der figurafigura des Gottesnamens eingeführt. Die Namengebung Josua-Jesus ist also eine RealprophetieRealprophetie oder vorausdeutende Gestalt des Zukünftigen; figurafigura ist etwas Wirkliches, Geschichtliches, welches etwas anderes, ebenfalls Wirkliches und Geschichtliches darstellt und ankündigt. Das gegenseitige Verhältnis der beiden Ereignisse wird durch eine Übereinstimmung oder Ähnlichkeit erkennbar; so sagt TertullianTertullian etwa adv. Marc. 5, 7: Quare Pascha Christus, si non Pascha figura Christi per similitudinem sanguinis salutaris et pecoris Christi? Oft genügen schattenhafte Ähnlichkeiten in der Struktur der Vorgänge oder in ihren Begleitumständen, um die figura erkennbar zu machen; es war ein bestimmter Interpretationswille erforderlich, um sie jeweils zu finden. So etwa, wenn ib. 3, 17 oder adv. Iudaeos 14 die beiden Opferböcke aus 3. Mos. 16, 7ff. als Figuren der ersten und zweiten Ankunft Christi gedeutet werden; oder wenn aus Adam als figura Christi Eva als figura Ecclesiae entwickelt wird, wie es De anima 43 (vgl. auch De monogamia 5) geschieht: Si enim Adam de Christo figuram dabat, somnus Adae mors erat Christi dormituri in mortem, ut de iniuria (Wunde) perinde lateris eius vera mater viventium figuraretur ecclesia.20 Über die Entstehung dieses Interpretationswillens werden wir noch sprechen. Die Art der Interpretation zielte darauf ab, die im Alten TestamentAltes Testament auftretenden Personen und Ereignisse als Figuren oder RealprophetienRealprophetie der Heilsgeschichte des Neuen zu deuten. Dabei ist zu beachten, daß TertullianTertullian ausdrücklich es ablehnt, die wörtliche und geschichtliche Geltung des Alten Testaments durch die FiguraldeutungFiguraldeutung zu entkräften. Es besteht vielmehr bei ihm eine entschiedene Abneigung gegen etwaige Übergriffe des SpiritualismusSpiritualismus; er will keineswegs das ATAltes Testament als bloße AllegorieAllegorie verstehen; überall habe es wörtlichen Wirklichkeitssinn, und auch da, wo es sich um figurale Prophetie handle, sei die Figur ebenso geschichtliche Wirklichkeit wie das durch sie Prophezeite. Die prophetische Figur ist sinnlich-geschichtliche Tatsache, und sie wird durch sinnlich-geschichtliche Tatsachen erfüllt: TertullianTertullian gebraucht hierfür den Ausdruck figuram implere (adv. Marc. 4, 40 figuram sanguinis sui salutaris implere) oder confirmare (de fuga in pers. 11 Christo confirmante figuras suas): wir wollen die beiden Ereignisse von nun an als Figur und Erfüllung bezeichnen.