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Das Göttliche Leben
im Werden
Sri Aurobindo

SRI AUROBINDO
DIGITAL EDITION

Copyright 2021
AURO MEDIA
Verlag und Fachbuchhandel
Wilfried Schuh
Deutschland
www.sriaurobindo.center
www.auro.media
eBook Design

SRI AUROBINDO DIGITAL EDITION
Deutschland, Berchtesgaden
Das Göttliche Leben im Werden Eine Zusammenstellung aus: THE LIFE DIVINE THE COMPLETE WORKS OF SRI AUROBINDO VOLUME 21 and 22 Seventh, Indian edition 2. Ausgabe 2021 ISBN 978-3-96387-007-1

© Fotos und Textauszüge Sri Aurobindos und der Mutter:
Sri Aurobindo Ashram Trust
Puducherry, Indien
Das Werk – ausgewählte Kapitel aus den zwei Teilen des überragenden philosophischen Schlüssel- und Hauptwerks The Life Divine von Sri Aurobindo – ist eine umfassende Schau der gesamten spirituellen Evolution, die in der Transformation des Menschen von einem mentalen in ein supramentales Wesen und im Anbruch eines göttlichen Lebens auf Erden kulminiert.
Die sieben Kapitel erschienen 1964 unter dem Titel Der Mensch im Werden. Den Kapiteln sind einige Erläuterungen der Mutter zu diesem philosophischen Werk angehängt.
Die Übersetzung der Textstellen von Sri Aurobindo erfolgte aus dem ursprünglichen Englisch, während die Passagen der Mutter bereits Übersetzungen aus dem Französischen waren. Alle Texte der Mutter wurden ihren Gesprächen, die sie mit Kindern und Erwachsenen führte, entnommen.
Sri Aurobindo und die Mutter machen von der in der englischen Sprache gegebenen Möglichkeit, Wörter groß zu schreiben, um ihre Bedeutung hervorzuheben, häufig Gebrauch. Mit dieser Großschreibung bezeichnen sie meist Begriffe aus übergeordneten Daseinsbereichen, doch auch allgemeine Worte wie Licht, Friede, Kraft usw., wenn sie ihnen einen vom üblichen Gebrauch verschiedenen Sinn zuordnen. Diese Begriffe wurden kursiv hervorgehoben, um dem Leser zu einer leichteren Einfühlung in diese subtilen Unterscheidungen zu verhelfen.
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InhaltTitelseiteCopyrightVorwortZitat von Sri AurobindoDAS GÖTTLICHE LEBEN IM WERDEN1. Das sehnsuchtsvolle Streben des Menschen2. Der Mensch und die Evolution3. Die Entwicklung des spirituellen Menschen4. Die dreifache Umwandlung5. Der Aufstieg zum Supramental6. Der gnostische Mensch7. Das Göttliche LebenANHANGErläuterungen der Mutter IErläuterungen der Mutter IIErläuterungen der Mutter IIIGuideCoverInhaltsverzeichnisStart

Sri Aurobindo
Der Aufstieg zum göttlichen Leben ist die Reise des Menschen, das Werk der Werke, das annehmbare Opfer. – Sri Aurobindo
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Kapitel 1
Das sehnsuchtsvolle Streben des Menschen
Usha folgt denen zum Ziel, die ins Jenseitige weitergehen. Sie ist die erste in der Folge der ewigen Morgendämmerungen, die kommen – sie weitet sich aus, bringt das Lebendige hervor, erweckt einen Gestorbenen... Wie weit reicht sie, wenn sie Einklang schafft zwischen den Morgendämmerungen, die früher leuchteten, und denen, die jetzt scheinen müssen? Sie sehnt sich nach den Morgen der Vergangenheit und bringt ihr Licht zu vollem Glanz. Sie strahlt ihr Licht in die Zukunft und eint sich mit denen, die noch kommen sollen.
Kutsa Angirasa – Rig Veda, I.113.8,10
Dreifach sind jene höchsten Geburten dieser göttlichen Kraft, die in der Welt ist, sie sind wahr, sie sind begehrenswert. Dort regt Er sich, weit-offenbar, im Inneren des Unendlichen, und leuchtet klar, lichtvoll, Erfüllung bringend... Was in Sterblichen unsterblich ist und im Besitz der Wahrheit, ist ein Gott, er wohnt im Inneren als eine Kraft, die sich in unseren göttlichen Mächten auswirkt... Erhebe dich hoch über alles, O Stärke, zerreiße alle Schleier und offenbare in uns die Dinge der Gottheit.
Vamadeva – Rig Veda, IV.1. 7; IV.2.1; IV.4.5
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Das früheste Anliegen im erwachten Denken des Menschen und, wie es scheint, sein unentrinnbares und letztes Anliegen ist auch das höchste, das sein Denken sich vorstellen kann – denn es überlebt die längsten Zeiträume des Skeptizismus und kehrt nach jeder Verbannung wieder zurück. Es offenbart sich in der Ahnung der Gottheit, im Impuls zur Vollkommenheit, im Suchen nach reiner Wahrheit und unvermischter Seligkeit, im Empfinden einer geheimen Unsterblichkeit. Die frühen Morgendämmerungen menschlicher Erkenntnis bezeugen dieses ständige sehnsuchtsvolle Streben. Heute sehen wir, dass sich eine Menschheit anschickt, zu ihren ursprünglichen Sehnsüchten zurückzukehren, gesättigt und doch nicht befriedigt von der sieghaften Analyse des Äußeren der Natur. Die älteste Formulierung der Weisheit verspricht auch ihre letzte zu sein: Gott, Licht, Freiheit, Unsterblichkeit.
Diese unvergänglichen Ideale der Menschheit stehen andererseits im Widerspruch zu ihrer alltäglichen Erfahrung und sind die Bestätigung höherer und tieferer Erfahrungen, die für die Menschheit im allgemeinen ungewöhnlich sind und in ihrer organischen Vollständigkeit nur durch eine revolutionäre individuelle Anstrengung oder durch einen evolutionären allgemeinen Fortschritt erlangt werden können. In einem tierhaften und egoistischen Bewusstsein das göttliche Wesen zu erkennen, zu besitzen und zu sein, unsere zwielichtige oder verfinsterte physische Mentalität in die Fülle supramentaler Erleuchtung zu verwandeln, Frieden und eine aus dem Selbst seiende Seligkeit dort zu erbauen, wo es jetzt nur die Spannung vergänglicher Befriedigungen gibt, die stets bedrängt werden vom physischen Schmerz und Leiden des Gemüts, eine unendliche Freiheit in der Welt zu begründen, die sich uns als ein Komplex mechanischer Notwendigkeiten präsentiert, unsterbliches Leben in einem Körper zu entdecken und zu verwirklichen, der dem Tod und ständiger Veränderung unterworfen ist – das wird uns als die Offenbarung Gottes in der Materie und als das Ziel der Natur in ihrer irdischen Evolution angeboten. Für den gewöhnlichen materiellen Intellekt, der seine gegenwärtige Bewusstseins-Organisation als äußerste Grenze seiner Möglichkeiten ansieht, ist der direkte Widerspruch zwischen den unverwirklichten Idealen und der verwirklichten Tatsächlichkeit ein endgültiges Argument gegen den Wert jener Ideale. Wenn wir aber die Wirkensweisen der Natur gründlicher erforschen, kommt uns diese direkte Widersprüchlichkeit eher vor als Teil der tiefsinnigen Methode der Natur und als das Siegel ihrer vollen Zustimmung.
Denn alle Probleme des Daseins sind im wesentlichen Probleme der Harmonie. Sie entstehen aus der Wahrnehmung einer ungelösten Uneinigkeit und dem unbewussten Verlangen nach einer unentdeckten Übereinstimmung oder Einheit. Die praktischen und mehr animalischen Schichten im Menschen bringen es fertig, sich mit einer ungelösten Uneinigkeit zufriedenzugeben. Das ist aber für sein voll erwachtes Mental unmöglich, und für gewöhnlich gehen selbst seine praktischen Seiten der allgemeinen Notwendigkeit einer Lösung nur dadurch aus dem Wege, dass sie entweder das Problem ausklammern oder einen faulen, utilitaristischen und unerleuchteten Kompromiss eingehen. Denn die gesamte Natur sucht wesenhaft nach Harmonie: das Leben und die Materie in ihrem eigenen Bereich ebenso wie das Mental durch die Ordnung seiner Wahrnehmungen. Je größer die scheinbare Unordnung der dargebotenen Materialien ist oder die scheinbare Verschiedenheit, selbst bis zur unvereinbaren Gegensätzlichkeit der Elemente, die verwendet werden müssen, umso stärker der Ansporn zur Harmonie. Er drängt nach einer feineren und machtvolleren Ordnung, als sie normalerweise durch ein weniger schweres Bemühen zustande kommen kann. Das aktive Leben in Einklang zu bringen mit einem zu formenden Material, in dem Trägheit die Grundlage der Aktivität zu sein scheint, ist ein Problem des Entgegengesetzten, das die Natur gelöst hat und in immer umfassenderer Vielfalt zu lösen sucht. Seine vollkommene Lösung wäre die materielle Unsterblichkeit eines völlig durchorganisierten, das Mental unterstützenden Tierkörpers. Ein anderes Problem des Entgegengesetzten, bei dem die Natur erstaunliche Ergebnisse zustande gebracht hat und nach immer neuen höheren Wundern strebt, ist der Einklang zwischen bewusstem Mental und bewusstem Willen mit einer Gestalt und einem Leben, die an sich nicht offenkundig ihres Selbstes bewusst sind und bestenfalls einen mechanischen oder unterbewussten Willen aufbringen können. Ihr höchstes Wunder wäre hier das Bewusstsein eines Tierwesens, das nach der Wahrheit und dem Licht nicht mehr nur sucht, sondern beide zugleich mit der praktischen Allmacht besitzt, die aus dem Besitz eines unmittelbaren, vervollkommneten Wissens herrührt. So ist also dieser Aufwärtsdrang im Menschen nach Harmonisierung immer umfassenderer Gegensätze nicht nur an sich vernunftgemäß, sondern einzig mögliche Erfüllung eines Gesetzes und Bemühens, wie sie einer grundlegenden Methode der Natur und dem wahren Sinn ihres universalen Ringens zu entsprechen scheinen.
Wir sprechen von der Evolution des Lebens in der Materie, von der Evolution des Mentals in der Materie. Evolution ist aber ein Wort, das eigentlich nur das Phänomen feststellt, ohne es zu erklären. Denn es scheint keinen Grund zu geben, warum sich Leben aus materiellen Elementen oder Mental aus lebendigen Formen durch Evolution entfalten sollte, wenn wir nicht die vedantische Lösung annehmen, dass Leben schon in Materie und Mental schon im Leben involviert ist, weil ihrem Wesen nach Materie eine Form verhüllten Lebens und Leben eine Form verhüllten Bewusstseins ist. Dann dürfte nur wenig gegen einen weiteren Schritt in der Reihe und gegen die Zustimmung dazu eingewendet werden können, dass mentales Bewusstsein selbst nur eine Form und eine Verhüllung höherer Zustände ist, die jenseits des Mentals liegen. In diesem Fall erweist sich der unbesiegbare Drang des Menschen zu Gott, Licht, Seligkeit, Freiheit, Unsterblichkeit wohl an seinem richtigen Platz in der Kette einfach als der zwingende Impuls, durch den die Natur die Evolution über das Mental hinaus sucht, und er erscheint ebenso natürlich, wahr und richtig zu sein wie der Impuls zum Leben, den sie in gewisse Formen der Materie einpflanzte, und wie der Impuls zum Mental, den sie gewissen Formen von Leben eingab. Wie dort, so existiert dieser Impuls hier mehr oder minder dunkel in ihren verschiedenen Gefäßen mit einer immer höher ansteigenden Reihe in der Macht seines Willens-zum-Sein. Wie dort, so entwickelt er sich hier in Stufen und muss die notwendigen Organe und Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen. So wie der Impuls zum Mental von den empfindsameren Reaktionen des Lebens in Metall und Pflanze bis zu seiner vollen Organisation im Menschen emporreicht, so gibt es auch im Menschen die gleiche emporsteigende Reihe, die Vorbereitung, wenn nicht noch mehr, eines höheren göttlichen Lebens. Das Tier ist ein lebendiges Laboratorium, in dem die Natur sozusagen den Menschen erarbeitet hat. Der Mensch mag sehr wohl ein denkendes und lebendiges Laboratorium sein, in dem sie mit seiner bewussten Mitwirkung den Übermenschen, den Gott erarbeiten will. Oder sollten wir nicht besser sagen: Gott offenbaren will? Denn wenn die Evolution die fortschreitende Offenbarung seitens der Natur von dem ist, was in ihr schlief oder involviert in ihr wirkte, ist die Natur auch die offenbare Realisation von dem, was sie insgeheim ist. Wir dürfen sie also nicht auf einer gewissen Stufe ihrer Evolution bitten, innezuhalten, und wir haben auch nicht das Recht, mit den Vertretern der Religion als verkehrt und anmaßend oder, mit den Vertretern des Rationalismus, als Krankheit oder Halluzination ihre etwaige Absicht oder ihr Bemühen zu verurteilen, über die jetzige Stufe hinauszugehen. Wenn es wahr ist, dass Geist in Materie involviert und die sichtbare Natur insgeheim Gott ist, dann ist es für den Menschen auf Erden das erhabenste und legitime Ziel, in sich selbst das Göttliche zu offenbaren und Gott im Inneren und nach außen hin zu verwirklichen.
So rechtfertigt sich vor der überlegenden Vernunft wie vor dem drängenden Instinkt oder der Intuition der Menschheit das ewige Paradoxon und die ewige Wahrheit eines göttlichen Lebens in einem Tierkörper, die einem sterblichen Gehäuse innewohnende unsterbliche Aspiration oder Wirklichkeit eines sich in begrenzten Mentalwesen und getrennten Egos repräsentierenden einzigen und universalen Bewusstseins, eines transzendenten, unbegrenzbaren, zeitlosen und raumlosen Wesens, das allein Zeit, Raum und Kosmos möglich und in diesen allen die höhere Wahrheit durch den niedrigeren Begriff realisierbar macht. Man hat manchmal den Versuch unternommen, Fragen, die schon so oft vom logischen Denken für unlösbar erklärt wurden, endgültig loszuwerden und die Menschen zu überreden, ihre mentale Betätigung auf die praktischen und unmittelbaren Probleme ihrer materiellen Existenz im Universum zu beschränken. Solche Fluchtversuche hatten aber nie dauerhafte Wirkung. Die Menschheit kehrt von ihnen mit nur noch heftigerem Drang zum Forschen und noch stärkerem Hunger nach unmittelbarer Lösung zurück. Aus diesem Hunger zieht der Mystizismus seinen Nutzen, und neue Religionen entstehen, um die alten zu ersetzen, die man zerstörte oder ihrer Bedeutung beraubte durch einen Skeptizismus, der selbst nicht befriedigte, da das Forschen zwar sein Beruf, er aber nie willens war, gründlich genug zu ermitteln. Eine Wahrheit ableugnen oder ersticken zu wollen, weil sie in ihrem äußeren Wirken noch unerleuchtet ist und nur zu oft durch finsteren Aberglauben oder eine rohe Glaubensform dargestellt wird, ist selbst eine Art von Obskurantismus. Schließlich erweist sich, dass der Wille, sich einer kosmischen Notwendigkeit deshalb zu entziehen, weil es mühevoll und schwierig ist, sie durch leicht greifbare Ergebnisse zu rechtfertigen, und weil es lange dauert, ihre Abläufe unter Kontrolle zu bringen, keine Anerkennung der Wahrheit der Natur, sondern eine Revolte gegen den geheimen mächtigeren Willen der großen Mutter ist. Es ist besser und vernünftiger, wir nehmen das, was sie uns als Menschheit zu verwerfen verbietet, an und erheben es aus dem Bereich blinden Instinkts, unerleuchteter Intuition und ziellosen Strebens empor in das Licht der Vernunft und in einen aufgeklärten und bewusst vom Selbst gelenkten Willen. Wenn es dann ein höheres Licht erleuchteter Intuition oder sich selbst enthüllender Wahrheit gibt, die jetzt im Menschen blockiert oder unwirksam ist oder nur zeitweise wie durch einen Schleier aufblitzt oder nur gelegentlich aufleuchtet wie das Nordlicht an unserem materiellen Himmel, auch dann sollen wir uns nicht fürchten, weiter zu streben. Denn wahrscheinlich wird das der nächsthöhere Zustand eines Bewusstseins sein, demgegenüber das Mental nur eine Vorform und Verschleierung darstellt. Der Pfad unserer fortschreitenden Selbst-Ausweitung in jenen höchsten Zustand, der am Ende der Ruheplatz der Menschheit ist, mag durch die Herrlichkeiten dieses Lichtes hindurchführen.
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Kapitel 2
Der Mensch und die Evolution
Die eine Gottheit, in allen Wesen verborgen, alles-durchdringend, das innere Selbst aller, über allem Wirken waltend, der Zeuge, der bewusste Wissende und Absolute..., der Eine, die Vielen überwachend, die der Natur gegenüber passiv sind, gestaltet den einen Samen in vielerlei Weisen.
Swetaswatara Upanishad, VI. 11, 12
Die Gottheit bewegt sich in diesem Feld und gestaltet jedes Gewebe der Dinge gesondert auf viele Weisen... Der Eine, er waltet über allen Mutterleibern und Arten; er selbst ist der Mutterleib aller. Er ist das, was die Art des Wesens zur Reife bringt. Er gibt allen, die reifen sollen, die Frucht ihrer Entwicklung und verleiht ihrem Wirken alle Eigenschaften.
Swetaswatara Upanishad, V. 3-5
Er gestaltet die eine Form der Dinge aus auf vielerlei Weise.
Katha Upanishad, V. 12.
Wer hat diese verborgene Wahrheit erkannt, dass das Kind den Müttern ihr Wesen durch die Wirkensweisen seiner Natur gibt? Ein Sprössling aus dem Schoß von vielen Wassern, tritt es aus diesen hervor, ein Seher, Besitzer des ganzen Gesetzes seiner Natur. Geoffenbart, wächst es im Schoß ihrer Verworfenheiten und wird groß, schön und herrlich.
Rig Veda, I. 95. 4, 5
Aus dem Nicht-Sein zum wahren Sein, aus der Finsternis zum Licht, aus dem Tod zur Unsterblichkeit.
Brihadaranyaka Upanishad, I. 3. 28
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Eine spirituelle Evolution, eine Evolution des Bewusstseins in der Materie in einer ständigen, sich entfaltenden Selbst-Gestaltung, bis die Form den innewohnenden Geist offenbaren kann, ist also der Grundton, das zentrale bedeutungsvolle Motiv der irdischen Existenz. Diese Bedeutung wird zu Beginn durch die Involution des Geistes, der Göttlichen Wirklichkeit, in eine dichte materielle Unbewusstheit verborgen; ein Schleier von Unbewusstheit, ein Schleier von Empfindungslosigkeit der Materie verbirgt die universale Bewusstseins-Kraft, die im Innern wirkt, so dass die Energie, die erste Form, die die Kraft der Schöpfung im physischen Universum annimmt, selbst unbewusst zu sein scheint und dennoch die Werke einer umfassenden verborgenen Intelligenz tut. Die dunkle geheimnisvolle Schöpferin entbindet schließlich das verborgene Bewusstsein aus seinem dichten, finsteren Gefängnis; sie bringt es aber nur langsam hervor, nur wenig auf einmal, in unendlich kleinen Tropfen, in dünnen Strahlen, in kleinen vibrierenden Gebilden von Energie und Stoff, von Leben, von Mental, als sei das alles, was sie durch den enormen Widerstand und das dumpfe widerspenstige Medium eines unbewussten Stoffes des Daseins hindurchzwingen könnte. Sie nimmt ihre Wohnung zuerst in scheinbar völlig unbewussten Gestaltungen von Materie, ringt sich dann durch zu einer Mentalität innerhalb der Dunkelheit von lebender Materie und erlangt diese schließlich unvollkommen im bewussten Tier. Dieses Bewusstsein ist zuerst rudimentär, zumeist ein Halb-Bewusstsein oder nur ein bewusster Instinkt. Es entwickelt sich langsam weiter, bis es in besser durchorganisierten Formen von lebender Materie seine nächste Stufe von Intelligenz erreicht und im Menschen, dem denkenden Tierwesen, über sich hinauskommt und sich in das vernunftbegabte mentale Wesen entwickelt. Der mentale Mensch trägt aber, selbst auf seiner höchsten Stufe, noch die Prägung der ursprünglichen Tiernatur an sich, den Ballast des Unterbewussten des Körpers, die zur ursprünglichen Trägheit und Nichtbewusstheit niederziehende Schwerkraft, die Herrschaft einer unbewussten materiellen Natur über seine bewusste Entwicklung, deren Macht zur Begrenzung, ihr Gesetz einer schwierigen Entwicklung und ihre ungeheure Kraft, jeden Fortschritt zu verzögern und zu vereiteln. Diese Herrschaft der ursprünglichen Unbewusstheit über das aus ihr hervortretende Bewusstsein nimmt die allgemeine Form einer Mentalität an, die um Wissen ringt, aber selbst Unwissenheit ist in dem, was ihre fundamentale Art zu sein scheint. Trotz dieser Gehemmtheit und Belastung muss der mentale Mensch aus sich heraus das voll bewusste Wesen entwickeln, ein göttliches Menschsein oder ein spirituelles oder supramentales Übermenschentum, das das nächste Erzeugnis der Evolution sein soll. Dieser Übergang wird das Voranschreiten aus der Evolution in der Unwissenheit zu einer größeren Evolution im Wissen kennzeichnen, begründet und fortschreitend im Licht des Überbewussten und nicht mehr in der Finsternis der Unwissenheit und Unbewusstheit.
Dieses irdische evolutionäre Wirken der Natur von der Materie zum Mental und über dieses hinaus nimmt einen doppelten Verlauf: Es gibt einen äußerlich sichtbaren Prozess der physischen Evolution mit der Geburt als Mechanismus – denn durch die Vererbung wird jede entwickelte Körperform, die ihre eigene entfaltete Bewusstseins-Macht in sich birgt, ständig im Dasein erhalten. Zugleich gibt es aber auch einen unsichtbaren Prozess von Seelen-Evolution mit dem Mechanismus der Wiedergeburt in aufsteigenden Stufen von Gestalt und Bewusstsein. Der erste Vorgang würde an sich nur eine kosmische Evolution bedeuten; denn der Einzelne wäre nur ein rasch zugrunde gehendes Werkzeug, und die Rasse als dauerhafte kollektive Formulierung wäre der wirkliche Schritt in der fortschreitenden Manifestation des kosmischen Einwohners, des universalen Geistes: Wiedergeburt ist eine unentbehrliche Voraussetzung für jegliche Dauer und Entwicklung des individuellen Wesens im Erden-Dasein. Jede Stufe der kosmischen Manifestation, jeder Gestalt-Typus, der den innewohnenden Geist beherbergen kann, wird durch die Wiedergeburt für die individuelle Seele, das seelische Wesen, zu einem Mittel, immer mehr von dem in ihm verborgenen Bewusstsein zu offenbaren. Jedes einzelne Leben wird zu einer Stufe für den Sieg über die Materie durch ein mächtigeres fortschreitendes Sich-Entfalten von Bewusstsein in ihm, wodurch schließlich die Materie selbst zu einem Mittel für die völlige Offenbarung des Geistes wird.
Diese Darstellung von Verlauf und Bedeutung der irdischen Schöpfung ist aber allseits einem Widerspruch im Mental des Menschen selbst ausgesetzt, denn die Evolution hat erst die Hälfte ihres Weges zurückgelegt. Sie verläuft noch in der Unwissenheit und sucht im Mental eines erst halb-entwickelten Menschseins nach ihrem eigenen Sinn und Zweck. Man kann die Theorie der Evolution mit der Begründung infrage stellen, sie sei ungenügend unterbaut und als Erklärung des Verlaufs des irdischen Daseins überflüssig. Selbst wenn man die Evolution zugebe, könne man bezweifeln, ob der Mensch die Fähigkeit habe, sich in ein höheres evolutionäres Wesen zu entwickeln. Ebenso sei zweifelhaft, ob die Entwicklung noch über das hinausgehe, was sie bisher erreicht hat, ob eine supramentale Entwicklung, das Erscheinen höchsten Wahrheits-Bewusstseins, eines Wesens von Wissen in der zugrundeliegenden Unwissenheit der irdischen Natur, überhaupt wahrscheinlich ist. Man könne das Wirken des Geistes in der Offenbarung hier auf Erden auch durch eine andere weder teleologische noch evolutionäre Theorie erklären. Bevor wir weitergehen, mag es darum zweckmäßig sein, in Kürze jene Denklinie genau darzustellen, die eine solche Konstruktion möglich macht.
Man gibt zu, die Schöpfung sei eine Manifestation des Zeitlos-Ewigen in der Zeit-Ewigkeit; es gebe die sieben Stufen des Bewusstseins und die materielle Unbewusstheit sei dem Wiederaufstieg des Geistes zugrunde gelegt; die Wiedergeburt sei eine Tatsache, ein Teil der irdischen Ordnung. Dennoch sei die spirituelle Evolution des individuellen Wesens nicht unausweichlich Folge aus einem oder allen diesen Zugeständnissen. Eine andere Betrachtung der spirituellen Bedeutung und des inneren Prozesses des irdischen Daseins sei möglich. Wenn jedes Geschöpf eine Gestalt der manifestierten Göttlichen Existenz sei, sei jedes durch die spirituelle Gegenwart in seinem Innern an sich göttlich, gleich welches seine Erscheinung, seine Gestalt oder sein Charakter in der Natur ist. An jeder Form der Manifestation finde das Göttliche seine Seins-Seligkeit; es bestehe in ihr keine Notwendigkeit zur Wandlung oder zur Weiterentwicklung. Für alles, was die Natur des Unendlichen Wesens an geordneter Entfaltung oder Hierarchie verwirklichter Möglichkeiten brauche, sei ausreichend durch die unermessliche Mannigfaltigkeit, die wimmelnde Menge der Formen, Bewusstseins-Typen und Naturen gesorgt, die wir überall um uns sehen. Es gebe keine zielstrebende Absicht in der Schöpfung und könne sie auch nicht geben, da in dem Unendlichen alles vorhanden ist: Für das Göttliche existiere nichts, was es gewinnen müsse, nichts, das es nicht habe. Gibt es eine Schöpfung und Offenbarung, so allein um der Wonne an der Schöpfung, an der Manifestation willen, sonst zu keinem anderen Zweck. Es gebe also keinen Grund für eine evolutionäre Bewegung, um einen höchsten Gipfel zu erreichen, ein Ziel auszuarbeiten und zu bewirken, oder einen Drang nach einer letzten Vollkommenheit.