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ANGELA Eßer (Hrsg.)
Mords-Töwerland
Kriminalroman

Tatort Töwerland Auf Juist gibt es jede Menge Wind, Meer und Sand. Idylle pur. Weit und breit keine Autos, nur Fahrräder und Pferdekutschen, die gemächlich durch die Straßen der wunderschönen Nordseeinsel fahren. Und hier sollen sich Verbrechen ereignen? Unmöglich! Doch achtzehn Krimiautorinnen und -autoren haben sich auf Töwerland umgesehen und dabei Erstaunliches aufgedeckt. Warum droht ein Mann im »Lütje Teehuus« mit Pistole? Wieso ist der Geschäftsführer der Sparkasse so verzweifelt? Und welche Verbrechen geschehen am Schiffchenteich? Folgen Sie uns auf die andere, die dunkle Seite der Insel und Sie werden feststellen, dass Sie mit den Autorinnen und Autoren etwas gemeinsam haben. Die Liebe zu einer wunderbaren und vollkommen friedlichen Insel – Juist eben.
Mit Beiträgen von Christina Bacher, Nadine Buranaseda, Jürgen Ehlers, Angela Eßer, Anja Feldhorst, Christiane Franke, Peter Godazgar, Carsten S. Henn, Susanne Kliem, Tatjana Kruse, Gunnar Kunz, Sandra Lüpkes, Gisa Pauly, Elke Pistor, Till Raether, Su Turhan, Regula Venske und Jan Zweyer.
Angela Eßer wurde in Krefeld geboren und studierte Theaterwissenschaft in München. Sie ist Autorin, Herausgeberin, Initiatorin von »Bloody Cover« und veranstaltet Krimi-Kochkurse. Zudem ist sie Mitveranstalterin von »SKRIVA – literatur werkstatt köln« und dem »Barcamp Literatur München«. www.angelaesser.de
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Leinemeister / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-6838-4
Vorrede
Juist ist nicht nur wunderschön, sondern auch inspirierend kriminell. Die Geschichten dieser Anthologie sind ein eindeutiger Beweis dafür und für Sie eine spannende kriminelle Unterhaltung.
Die Insel bedankt sich bei den Autorinnen und Autoren und wünscht Ihnen eine kurzweilige Unterhaltung.
Thomas Vodde
Stellvertretender Bürgermeister und Marketingleiter von Juist
Juist sehen und sterben
Su Turhan
In dieser Sturmnacht im Februar flackerte der Vollmond wie ein Filmprojektor. Einem Zelluloidstreifen gleich zogen Wolkenberge und Regenzüge an dem Himmelskörper vorüber. Statt einem Knattern begleiteten Donnerschläge und Blitztiraden den Auswurf fahler Strahlen. Doch das Mondlicht fiel auf keine Filmkulisse. Es beleuchtete ein Schnellboot, das, von wütenden Wellen getragen, den Strand erreichte. Sieben erschöpfte Gestalten in Kampfmontur mitsamt ihrem Anführer sprangen aus dem Boot. Knapp waren sie dem Tod auf hoher See entronnen. Zornig und rau war das Meer mit ihnen umgegangen. Wetter und Seegang standen im Bund mit denen, die ihnen auf den Fersen waren. Wie die Technik. Ein Motorschaden hatte ihren Fluchtplan durchkreuzt. Es war ihnen unmöglich gewesen, die Jacht, die sie nach Holland bringen sollte, zu erreichen.
»Weg mit dem Boot!«, schrie der Anführer gegen den Sturm.
Die Männer mobilisierten die letzten Kräfte und zogen das Boot auf das offene Meer zurück. Zwei rannten mit Gewehren im Anschlag zur Düne, um die Aktion abzusichern. Der Anführer folgte ihnen und warf sich in den Sand. »Macht mir das ab, schnell«, raunzte er die zwei Frauen an.
Die eine, groß und kräftig, mit braunen Haaren, die unter der hochgezogenen Sturmhaube hervorlugten, griff zur Zange in der Seitentasche. Ratsch. Ratsch. Das Plastik der Handfesseln war entzwei. Er rieb sich die geröteten Handgelenke.
»Wie heißt du?«, fragte er sie.
»Wie willst du denn, dass ich heiße?«, entgegnete sie mit holländischem Akzent. Regentropfen massierten ihre vor Kälte gestrafften Wangen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg.
Er überlegte, wie er sie nennen könnte.
Seinen Namen wusste jeder, der mit ihm im Boot beinahe ertrunken wäre. Doch er kannte niemanden von der angeheuerten Crew. Da packte ihn die andere Frau, weniger kräftig, dafür sportlich und drahtig, und zog ihn mit sich.
»Wir sollten hier weg«, sagte sie und blickte dabei auf die Karte auf dem Tablet, das sie aus dem wasserfesten Rucksack geholt hatte. »Ein Stück weiter vorne ist ein Aufgang.«
Die Truppe stampfte los und erreichte den Strandweg, der zu einer asphaltierten Straße führte.
Plötzlich, auf Kommando der Sportlichen, warfen sie sich allesamt auf den nach Salz und Muscheln riechenden Sandstrand. Sie klappte das Nachtsichtgerät herunter, um ein Licht in der Ferne in Augenschein zu nehmen.
»Ein Mann mit Taschenlampe auf neun Uhr! Um die 50, 1,80 etwa. Unbewaffnet, so weit ich das bei dem Scheißwetter sehen kann.« Sie duckte sich tiefer. »Er kommt auf uns zu.« Dann zischte sie: »In Deckung, a cubierto, rápido!«
Die Frauen und Männer kauerten sich zusammen und lauschten dem tosenden Unwetter. Die Wellen waren zornig und uneinsichtig. Ununterbrochen versuchten sie, dem Meeresbecken zu entfliehen.
Der Mann mit Taschenlampe legte eine Pause im Kampf gegen die Naturgewalten ein. Er holte Atem und schob sein Gefährt gegen den Sturm. Zwei Schritte später zog ein schwarzer, großer Fleck, der auf den Wellen tänzelte, seine Aufmerksamkeit auf sich. Vermutlich Strandgut, freute er sich. Er ließ Fahrrad samt Bollerwagen zurück und kämpfte sich gegen den Peitschregen aus flüssigen Pfeilen über den Strandweg. Die tänzelnden Konturen auf dem Meer formten sich zu einem Umriss. Ein schnittiges Motorboot erkannte er und blickte sich um. Da war niemand in der stürmischen Nacht. Niemand, außer der dunklen, menschengroßen Seeschlange, die von der Düne her auf ihn zuschlängelte. Starr vor Schreck vergaß er zu atmen. Der Fluchtinstinkt verweigerte ihm den Dienst. Er bemerkte nicht, wie sich jemand in Kampfmontur von hinten näherte. Spürte nur, wie ihm plötzlich der Mund zugehalten wurde und die Schneide eines Messers seinen Hals berührte.
Unfähig, etwas von sich zu geben, schluckte er und ließ sich zu den kauernden Gestalten in der Düne zerren.
»Worauf wartest du?«, zischte der Anführer. »Mach ihn kalt! Sofort! Keine Zeugen!«
In Todesangst versuchte der Mann, sich zu befreien. Die Sportliche übersetzte im selben gehässigen Tonfall wie der Anführer ins Spanische. Augenblicklich stach der Kämpfer zu. Wie durch ein Stück Walseife drang die Messerscheide durch den Brustkorb des Mannes. Über sein Todesröcheln legte sich der schreiende Sturmwind.
*
»Jetzt brauch ich einen SCHNAPS.«
Die Intonation war Mist.
»JETZT brauch ich einen Schnaps.«
Auch Mist.
»Jetzt brauch ICH einen Schnaps.«
Erst recht Mist.
Die Frau in Jeans und Wolljacke warf das Textbuch auf den Wohnzimmertisch. Gleich darauf nahm sie es wieder an sich. Nervös überflogen die braunen Augen die markierten Stellen, die sie auswendig zu lernen hatte. Mist, alles Mist, der viele Dialog und überhaupt alles. In zwei Wochen war Premiere der Laientheatergruppe »Antjemöh« und sie stand zum ersten Mal in ihrem Leben auf der Bühne.
»Schnaps«, seufzte sie. »Ich brauch jetzt wirklich was.«
Tanja Krüger holte eine Flasche aus dem Schrank und stellte sich ans Fenster in ihrer Dienstwohnung. Draußen tobte ein Unwetter, wie sie es auf Juist noch nicht erlebt hat. Am Nachmittag hatte die Sonne noch freundlich auf die Insel geschienen, und sie beim Streifengang durch das Dorf den Reißverschluss der Dienstjacke geöffnet. Und jetzt herrschte draußen Weltuntergangsstimmung.
Der erste Februarmonat als Dienststellenleiterin hatte die einzige Polizeibeamtin auf Juist auf Trab gehalten. Die Dienstzeiten waren ziemlich klar geregelt. 24 Stunden täglich – mehr oder weniger. Schlägerei unter Frauen in der Dienstags-Yogagruppe. Ein Kutscher hatte Juists Straßen mit einer Formel-1-Rennstrecke verwechselt. Zugestellte Pakete hatten sich in Luft aufgelöst. Und da war ein Inselschüler, der im Supermarkt von einem Kumpel gefilmt wurde, wie er Zigaretten und Bierdosen klaute. Das dazugehörige Schulungsvideo für Kaufhausdiebe hatte sie auf YouTube vor dem Einschlafen im Bett entdeckt.
Sie hob die Flasche mit dem Wacholderbrand an die Lippen, merkte, wie ihr übel wurde, und verzichtete auf das Hochprozentige. Ein Blitzschlag ließ sie zusammenzucken.
Mittlerweile war es schon nach Mitternacht geworden. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen, entschied sie und fuhr ihrem Border Collie Emma durch das schwarz-weiße Fell. Die junge, verspielte Hündin folgte ihr bis zu den Treppen und jaulte beleidigt, als sie zurück ins Körbchen geschickt wurde.
*
Die sieben Gestrandeten waren am menschenleeren Strand unterwegs. Schwarze Kampfmaschinen, bewaffnet bis an die Zähne. Das unbrauchbare Motorboot trieb auf dem offenen Meer. Irgendwann und irgendwo würde es gefunden werden und die Welt sie für tot halten.
Flankiert von den beiden Frauen trabte der Anführer an der Spitze. Die Holländerin studierte auf dem Tablet die Umgebungskarte. Die einzige Daseinsberechtigung für das Schmuckstück von Nordseeinsel schienen die Vögel zu sein, die hier brüteten und unter Artenschutz standen. Sie hob die Hand, woraufhin die Männer dahinter stoppten. Alle waren durchfroren und hungrig, alle wollten aus den durchnässten Klamotten und Stiefeln und sehnten sich nach einem Bier und ein paar Stunden Schlaf.
Der Anführer blickte mit auf die Karte. In der Nähe befand sich das »Seeferienheim«, das aus mehreren Backsteingebäuden bestand und einer Kaserne ähnelte. Er wandte sich der Sportlichen zu: »Nimm zwei mit und spähe das Areal aus.«
Die Dreiergruppe trabte zum Strandweg vor. Der frei zugängliche Grund lag im Dunkeln, aus keinem der Fenster schien Licht.
In dem Ferienheim, las der Anführer auf dem Tablet, machten Schulklassen und Erwachsenengruppen Urlaub. 17 Kilometer Sandstrand, eine verdammte Naturidylle mit Meer drum herum, auf der sie gestrandet waren, fluchte er. Was ihn besonders störte, war der stolz vorgetragene Hinweis, dass die Insel autofrei sei. Er liebte motorisierte Fahrzeuge in jedweder Form.
Die Späher zeigten sich. Die Luft war rein. Die Truppe marschierte weiter. Als der Anführer zur Sportlichen aufschloss, informierte sie ihn, dass der Hausmeister sie entdeckt habe.
»So eine Scheiße!«, krakelte er. »Wehe, du hast das Problem nicht beseitigt!«
»Dafür werde ich doch bezahlt, oder?«, antwortete sie seelenruhig.
Er grinste zufrieden. »Weißt du was? Ich nenne dich Carmen, das passt zu dir«, sagte er und entschied: »Wir verbringen die Nacht dort.«
*
Am nächsten Morgen wütete das Unwetter unverändert weiter. Tanja Krüger saß vor einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Die ersten dienstlichen Telefonate hatte sie hinter sich. Die Seenot berichtete, Thomas Koch, der das Monopol auf Buchhandlungen auf Juist innehatte, schlafend über einen Krimi in seinem Motorboot vor dem aufziehenden Sturm gerettet zu haben. Fährverbindungen waren bis auf Weiteres abgesagt. Der Flugverkehr war zum Erliegen gekommen. Die Handvoll Touristen, die sich in der Vorsaison auf der Insel aufhielt, waren dazu verdammt zu bleiben. Dieses Schicksal teilten sie jetzt mit den Insulanern.
Tanja war freiwillig gekommen. Nachdem sie sich auf der Insel umgesehen hatte, entschloss sie sich, in der Mitte ihres Lebens eine Weiche zu stellen. Seit einem halben Jahr war die Oberkommissarin der Arm der Gerechtigkeit auf Juist. Sie allein sorgte für Recht und Ordnung. Zwischen ihrem Hoheitsgebiet und dem Festland lag die unberechenbare Nordsee. Dass vom Festland und den umliegenden Inseln keine schnelle Hilfe zu erwarten war, sollte sich ein Vorfall ereignen, den sie nicht selbst regeln konnte, hatte sie inzwischen gelernt. Allen voran das Missgeschick verwirrter Kontinentalplatten namens Norderney.
Bei der zweiten Tasse Kaffee läutete das Telefon. An dem Samstag hatte sie offiziell keinen Dienst. Aber was hieß das schon. Rufbereitschaft nannte sich das, wenn sie keinen Dienst schob, aber arbeiten sollte. Imke Jacobs, eine aufgeregte ältere Insulanerin, war am Apparat. Tanja kannte sie von Abenden im Heimatverein und hörte sich ihr Anliegen an. Die Dame bemühte sich trotz ihrer Aufgeregtheit um ein verständliches Hochdeutsch.
»Jan?«, fragte Tanja nach. »Der Barmann aus der ›Spelunke‹?«
»Ja, genau, mein Sohn«, verfiel die ältere Dame ins Plattdeutsch. »Ich habe geläutet, er macht nicht auf.«
»Warst du denn im Haus?«
»Natürlich«, antwortete sie. »Ich weiß doch, wo der Schlüssel liegt. Aber oben war ich nicht, Treppen schaffe ich mit dem Rollator nicht.«
»Ist Jan vielleicht unterwegs?«, fragte sie aufs Geratewohl.
»Bei dem Sturm? Wo soll er da hin?«, erwiderte Imke. »Jan bringt mir freitags Brötchen. Immer. Jeden Freitag.« Die Dame überlegte. »Seit 23 Jahren.«
Tanja redete beruhigend auf die besorgte Mutter ein und versprach, bei Jan im Loog nach dem Rechten zu sehen.
Mit Thermounterwäsche und Wetterzeug bestieg sie das Dienstfahrrad. Auf der Billstraße nach Westen trieb sie Rückenwind an. Die Augen tränten. Den zwei Menschen, die ihr auf dem Dammweg entgegen kamen, schenkte sie in der Eile keine Beachtung.
Der Anführer und die Holländerin, die er auf den Namen Antje getauft hatte, waren zum Dorf unterwegs. Er fühlte sich pudelwohl in den Klamotten. Die Schirmmütze mit »Juist sehen und sterben«-Schriftzug war eine Zumutung, aber wichtig, um nicht erkannt zu werden. Die Jacke war etwas weit, die Ärmel etwas zu lang, aber alles in allem hatte er einen guten Fang gemacht. Antje hatte weniger Glück beim Durchstöbern der Kleidungsstücke, die von Urlaubern im Seeferienheim zurückgelassen oder vergessen wurden. Mit der zu engen Windjacke und den Jeanshosen kam sie sich sonderbar deutsch vor. Waffe und Messer lagen griffbereit in der Gürteltasche.
»Ich halte mich zurück, du redest«, wies er sie an. »Nicht, dass mich einer der Inselaffen erkennt.«
*
Die Polizistin hatte Jans Häuschen erreicht und läutete. Sie kannte ihn als flinken, trinkfreudigen, höflichen Barmann aus der »Spelunke«. Wie die verstörte Mutter gesagt hatte, war er nicht daheim. Sie ging um das Häuschen, sah im Garten nach und griff den Schlüssel unter dem einzigen Blumentopf auf der Terrasse. Es musste einen Grund geben, eine 23-jährige Tradition zu unterbrechen. Beim Eintreten machte sie sich bemerkbar und schritt durch die Räume. Jan schlief nirgends einen Rausch aus. Nichts Ungewöhnliches fiel ihr auch im oberen Stockwerk auf, sodass sie das Haus verließ und das Dienstrad wieder bestieg.
Zurück ins Dorf strampelte sie gegen den Wind und traute ihren Augen nicht, als sie Imke entdeckte. Sie versuchte, mit dem Rollator über den Strandaufgang zum Meer zu gelangen. Tanja bremste mit quietschenden Reifen und wischte das Gesicht ab. Der Rollator mitsamt der alten Dame schwankte im Sturm gefährlich hin und her. »Imke! Warte!«, rief sie.
Aber die Dame reagierte nicht. Innerlich fluchend stellte sie das Dienstrad ab und lief zu ihr. »Wo willst du denn hin?«, fragte Tanja sie.
»Hier gehen wir immer spazieren, Jan und ich«, erwiderte sie verwirrt.
»Weißt du was«, schlug Tanja vor. »Ich bringe dich heim, dann sehe ich am Strand nach.«
Die Polizistin war sich nicht sicher, ob die alte Frau sie verstanden hatte. Deshalb hakte sie sich bei Imke Jacobs energisch unter und brachte sie nach Hause. Goss ihr noch einen Tee auf und machte sich auf den Weg zum Strand.
Was sie dort aber vor sich sah, bedeutete noch mehr Arbeit. Sie rief Peter von der Freiwilligen Feuerwehr an, um ihm ein gestrandetes Motorboot zu melden.
Im heulenden Sturm hatte das falsche Touristenpaar den Hafen erreicht. Die Leuchtanzeige der Fährgesellschaft war ausgefallen. Die Geschäftsstelle und das Hafenrestaurant waren geschlossen.
»Zum Flugplatz?«, fragte Antje.
»Schwachsinn!«, fluchte der Anführer. »Willst du etwa direkt in die Hölle fliegen bei dem Sturm?« Beide sahen, wie im Eiltempo Wolkengebilde über ihnen vorbeizogen, und gingen weiter.
»Wir fragen bei der Touristeninformation nach«, beschloss der Anführer.
Im Dorfkern begegneten sie niemandem in der Bahnhofstraße, wo sie vergeblich nach einem Bahnhof Ausschau hielten. Am Kurplatz herrschte auf den Parkbänken gähnende Leere. Sie passierten geschlossene Geschäfte. Hoffnung keimte beim Anführer auf, als er die Abbildung einer Currywurst in der Fensterscheibe von »Frankies Grillrestaurant« erspähte. Doch auch der Laden hatte an dem Samstagmorgen geschlossen. Direkt gegenüber trat aus dem »Friesenhof« gerade ein distinguierter Herr in perfekt sitzendem Anzug unter dem Mantel. Höflich stellte er sich ihnen als Herr Peters vor. Sie erkundigten sich nach dem Touristeninformationscenter, während der Wind sie durchrüttelte. Mit stoischem Lächeln, unbeeindruckt vom Sturm, deutete Peters mit ausgestrecktem Arm zum Rathaus auf der anderen Straßenseite.
»Moin, die Töwercard schon bezahlt?«, grüßte die Angestellte des Informationscenters hinter der Theke.
Antje brachte mit gespielter Aufregung ihr Anliegen vor. Sie fabulierte von ihrem Vater, der im Sterben liege, sodass sie dringend auf das Festland müsse.
Die Angestellte bedauerte, ihr bei dem Unwetter nicht helfen zu können. »Aber andersherum wäre es kein Problem«, erklärte sie der vermeintlichen Touristin. »Bei einem Notfall ist in zehn Minuten der Rettungshubschrauber auf Juist. Einfach die 112 wählen. Das Wetter müsste nur etwas besser sein.«
Antje bedankte sich für die Auskunft, versprach, die Bezahlung des Gästebeitrages nicht zu vergessen, und trat zurück auf die Straße. Der Anführer erwartete sie unter dem Dach einer Ladenpassage auf der anderen Seite.
»Ich weiß, wie wir von der Drecksinsel kommen«, unterrichtete sie ihn. »Wenn der Wetterbericht stimmt, sind wir am Nachmittag in Holland.«
Erleichtert über die Aussicht betraten sie eine Bäckerei und kauften für das Frühstück ein. Die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, nahm der Anführer von der appetitlich lächelnden Polin die Tüten entgegen. Auf dem Rückweg über den Kurplatz beobachteten sie eine Frau auf einem Fahrrad mit beachtlichem Tempo in die Wilhelmstraße einbiegen. Reflektierende Buchstaben prangten auf der Dienstjacke. Die beiden drehten sich ab. Der Anführer grinste Antje dreckig an. »Sag bloß, die haben Bullen auf der Insel? Ist doch ein Witz, oder?«
Mit durchgeschwitzter Thermounterwäsche parkte die Polizeibeamtin das Fahrrad vor der Dienststelle. Im Flur knuddelte sie Emma und lief, ohne weiter Zeit zu verlieren, mit dem Spurensicherungskoffer zum Feuerwehrhaus. Peter und zwei seiner Kameraden erwarteten sie bereits. Peter saß am Steuer und brachte das Martinshorn zum Heulen. »Mach den Lärm aus«, sagte sie außer Puste. »Das Boot steht doch nicht in Flammen!«
Als Stille einkehrte, hörten sie ein Kläffen und Bellen. Tanja ahnte, wer aus dem Haus gebüxt war und Einlass verlangte.
Mit Emma auf ihrem Schoß rückte der Feuerwehrtransporter aus. Peter schaltete das Radio ein, sanfte Klänge eines Popsongs erfüllten den Fahrerraum, ehe der Sprecher für eine Sondermeldung das Programm unterbrach. »Nach Aufhebung der Nachrichtensperre wird jetzt öffentlich, dass Hannes Dengel, bekannt als deutsche Faust des kolumbianischen Drogenkartells, eine spektakuläre Flucht gelungen ist. Eine schwer bewaffnete paramilitärische Einheit von sechs Kämpfern hat am gestrigen Freitag den Justizwagen auf dem Weg von der JVA Celle zur Gerichtsverhandlung in Bremerhaven mit Waffengewalt gestoppt. Drei Justizvollzugsbeamte schweben nach dem Schusswechsel in Lebensgefahr. Mit einem Schnellboot gelang Dengel die Flucht über die Nordsee. Doch mit dem Aufkommen eines Sturms hatten die Gewalttäter nicht gerechnet. Die sieben Flüchtigen, inklusive des Schwerverbrechers, sind aller Wahrscheinlichkeit nach auf hoher See ertrunken. Wo das Boot und die Leichen ans Ufer gespült werden, kann bei der Wetterlage nicht vorhergesagt werden. Die Polizei bittet die Bevölkerung …«
Mit nachdenklichem Gesicht schaltete Tanja das Radio aus.
Kurz darauf fuhr Peter vorsichtig den Strandaufgang vor und parkte den Transporter. Emma sprang heraus und rannte los. Glücklich schnüffelte sie den Boden ab, während Tanja und die Feuerwehrleute rot-weiße Absperrgitter um das Motorboot stellten. Mit einem daran befestigten polizeilichen Absperrband war die Fundstelle ordentlich gesichert. Das Plastik flatterte und pfiff im Sturm, als sie das Polizeikommissariat Norden über den Fund informierte und per Handy Fotos schickte. Wie Tanja schon vermutete, der Rückruf eines diensthöheren Beamten ließ auf sich warten. Als die Kameraden von der Feuerwehr mit der Arbeit fertig waren, wäre sie am liebsten mit ihnen zurückgefahren. Doch Emma war wie vom Erdboden verschluckt. Weit und breit konnte sie die Hündin nicht entdecken. Wohl oder übel musste Tanja den Sicherungskoffer an Peter und seine Leute weitergeben. Sie verabschiedete die Helfer, wartete, bis der Motorenlärm verebbt war, und rief im Rauschen des Sturmes nach ihrem Border Collie.
Die Hundedame war in den Dünen beschäftigt. Aufgeregt buddelte sie mit den Pfoten im Sand. Der Geruch, den sie wahrnahm, beflügelte sie. Wie von Sinnen grub und grub sie, weit weg von Frauchen, die nach ihr suchte. Keine Menschenseele spazierte am Strand, der in der Hochsaison Scharen von Touristen und Juistliebhabern anlockte. Unwirtlich zeigte sich der Polizeibeamtin die Heimat, die sie sich ausgesucht hatte. Die Hände in die Jacke vergraben, suchte und rief sie weiter nach Emma. Alles gäbe sie dafür, jetzt im Warmen zu sein, zu Hause einen ostfriesischen Tee zu trinken. Selbst für den Preis, das ganze Textbuch zu lernen.
*
Die vier Männer in der Gemeinschaftsdusche schnatterten in ihrer Muttersprache, bewunderten gegenseitig ihre Tattoos und teilten sich eine zurückgelassene Shampooflasche.
Am Flur vor der Dusche hielt Carmen Wache. »Beeilt euch«, schrie sie auf Spanisch. »Wir sind nicht auf einer Ferienfahrt!«
Dengel und Antje kehrten mit Frühstück und einem genialen Fluchtplan zurück. Beim Frühstück saßen alle sieben in einem der Säle an einem langen Tisch zusammen und gingen den Plan durch.
»Ist mir zu unsicher«, sagte Carmen. »Boote gibt es genug, mit denen wir rüberkommen.«
»Und uns abschießen lassen von der Marine?«, zischte Dengel mit vollem Mund. »Also, welcher von den Jungs sollte uns nach Rotterdam fliegen?«
Carmen nickte zu einem der Männer, der keine Ahnung hatte, worüber gestritten wurde. Dengel grinste ihn an. »Guter Junge! Wenn der Sturm nachlässt, fliegst du uns mit dem Hubschrauber von dem Scheiß Inselkaff.«
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Der Polizeibeamtin wurde leicht ums Herz, als sie ihre Hündin in der Düne endlich entdeckte. Sie war froh, dass niemand mitbekommen hatte, wie sie den Collie verbotenerweise ohne Leine am Strand laufen gelassen hatte.