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»Emma!«, rief sie. »Bei Fuß, lass uns nach Hause gehen!«
Die Hündin reagierte nicht. Sie hatte offenbar ihren Spaß. Die Beamtin lief zu ihr und blieb nach einigen Metern erschrocken stehen. Emma schleckte die Hand eines Mannes ab, der rücklings im Sand lag.
»Emma!«, schrie sie erzürnt. »Aus! Weg da. Bei Fuß.«
Die Hündin gehorchte, wenn auch unwillig und kam gelaufen. Tanja kniete sich zu ihr und streichelte sie. Groß gewachsen war der Mann, der halb im Sand verschüttet lag. Sie dachte an den geflohenen Schwerverbrecher, der irgendwo als Wasserleiche an Land gespült werden sollte. Als sie näher trat, nahe genug war, um das Gesicht zu sehen, starb die Hoffnung, Hannes Dengel vor sich zu haben. Im Sand lag der Barmann aus der »Spelunke«, Jan, der seiner Mutter keine Brötchen gebracht hatte. Die Jacke war auf Höhe des Brustkorbs mit Blut getränkt. Sie sah sich die Leiche genauer an und starrte in eine klaffende Wunde.
»Gut gemacht, Emma«, lobte sie wie unter Schock ihre Hündin.
An Ort und Stelle rief sie nochmals im Polizeikommissariat an und verhaspelte sich bei dem mündlichen Bericht.
»Hab ich richtig verstanden?«, höhnte der Beamte am Telefon. »Du hast einen Toten auf Juist? Gratuliere, damit gehst du in die Geschichtsbücher ein!«
»Ich habe einen Mord auf Juist!«, erwiderte sie entnervt. Im Stress dachte sie erst jetzt daran, ein Handyfoto zu schicken, und erhielt nach einigen Sekunden den Hinweis, sich ruhig zu verhalten.
»Ruhig bin ich«, schrie sie angestrengt. »Aber ich erfriere hier! Was soll ich tun?«
»Vor allem und ganz besonders ruhig bleiben«, wiederholte der Beamte. »In paar Stunden soll der Sturm nachlassen. Sobald es geht, ist die Tatortgruppe unterwegs. Sicher die Fundstelle, vor allem deck den armen Mann zu.«
»Womit denn?«, schrie Tanja leicht hysterisch und besann sich wieder. »Wie es aussieht, ist Jan erstochen worden. Mitten ins Herz. So was macht kein Juister!«
»Worauf willst du hinaus?«
»Was weißt du über die paramilitärische Truppe, die Dengel befreit hat?«, fragte sie.
»Nichts«, erwiderte der Beamte erstaunt. »Warum auch? Die Nordsee hat sie geholt …«
»Und wenn sie doch nicht ertrunken sind?«, unterbrach sie ihn.
»Bei dem Seegang?«, machte er sich lustig. »Du glaubst doch nicht, die schweren Jungs hängen bei dir auf Juist ab! Den Barmann hat Frau, Freundin oder Saufkumpane nach einem Streit niedergestochen.« Er machte eine kurze Pause. »Du bleibst schön ruhig, ja? Wenn der Sturm nachlässt, schicke ich …«
Die Verbindung brach ab. Tanja blickte auf das Display, das vom Regen nass gespritzt wurde. Es war schwarz. Der Akku war leer. Eine Bö peitschte ihr wie eine Ohrfeige Regentropfen vermischt mit Sandkörnern ins Gesicht.
»Komm, Emma«, sagte sie. »Lass uns Jan wenigstens wieder vergraben. Was anderes fällt mir jetzt auch nicht ein.«
Mit beiden Händen schaufelte sie den Leichnam zu und merkte sich die Stelle, wo Jan zur vorläufigen Ruhe gebettet lag.
Erschöpft setzte sie sich einige Meter entfernt in den Sand und starrte aufs Meer. Sie kämpfte damit, ob sie der Mutter gleich Bescheid geben sollte oder nicht. Natürlich hatte Imke das Recht zu erfahren, was mit ihrem Sohn geschehen war. Während sie ihren Gedanken nachhing, merkte sie, wie das Wetter umschlug. Der Wind ließ nach, die Wolken zogen etwas langsamer über die Insel hinweg, und ab und an zeigte sich sogar die Sonne. In vielleicht drei Stunden würde Verstärkung vom Festland kommen, aber der Strand von Menschen besiedelt sein. Sie fasste den Entschluss, im nächstgelegenen Haus zu klingeln und sich aufzuwärmen. Dem Notarzt würde sie Bescheid geben, um offiziell Jans Tod feststellen zu lassen, Männer von der Feuerwehr als Leichenwache abkommandieren, den Bürgermeister informieren.
Sie raffte sich auf. »Emma, bei Fuß.«
Mit ihrer Hündin erreichte sie den Aufgang, der zu den Häusern in der Billstraße führte. Der schwächer werdende Wind trieb Stimmen durch die Luft. Mit Erstaunen vernahm sie eine Sprache, die auf der Insel nicht geläufig war. Männer hörte sie. Wortfetzen. Leise von der Brise zu ihr getragen. Mehr als eine Stimme jubelte »Gol!«.
Verwundert und behutsam näherte sie sich von der Straße her dem »Seeferienheim«. In der von der evangelischen Kirche betriebenen Anlage hatte sie vor einigen Wochen einen Einsatz in einer Jugendgruppe wegen eines gestohlenen Handys. Kurzerhand hatte sie trotz lautstarker Proteste alle Geräte konfisziert. Auf wundersame Weise war das gestohlene darunter gewesen. Nur eines aus der Ansammlung, das funktionierte, hätte sie jetzt gerne gehabt, um jemandem Bescheid zu geben, wo sie gerade war. Sie versteckte sich hinter einer Mülltonne und machte ihre Arbeit. Allein. Wie immer.
Sie beobachtete den Innenhof, wo sich zwischen Verwaltungsgebäude und Gruppenunterkünften Männer tummelten. Sie trugen eng anliegende T-Shirts und schwarze Kampfhosen. Schusswaffen und Messer hingen an ihren Gürteln. Mit Militärrucksäcken war ein Tor auf dem gepflasterten Hof markiert. Wie Schuljungen spielten sie mit einem Plastikball, der im Wind hin- und hergetrieben wurde.
Ruhig bleiben, mahnte sie sich. Sie hatte recht behalten. Die Elitekämpfer waren putzmunter auf Juist gestrandet. Sie zählte vier Männer. Drei fehlten, wenn die Nachrichtenmeldung richtig war.
Sie überlegte fieberhaft, was sie tun könnte. Die Inseljäger fielen ihr ein. Sie hatten Gewehre, mit denen sie Kaninchen jagten. Unversehens tauchte Emma in ihrem Blickfeld auf. Kläffend und bellend beteiligte sich ihre Hündin am Fußballspiel. Die Männer schöpften keinen Verdacht. Sie klatschten Beifall, weil Emma in luftiger Höhe mit ihrer Nase den Ball kickte. Gleich darauf tauchte aus dem Gebäude mit der Aufschrift »Dellert-Haus« eine uniformierte Gestalt auf. Nummer fünf, zählte Tanja.
Fuchsteufelswild schimpfte die drahtige Frau: »Seid ihr verrückt! Wenn euch jemand sieht!« Dann setzte sie auf Spanisch nach und trieb die Fußballspieler ins Haus. Ein Mann mit zu weiter Jacke und einer Schirmkappe erschien neben ihr. Nummer sechs war niemand anderer als Hannes Dengel. Sie erkannte ihn von Fahndungsfotos aus ihrer ehemaligen Polizeistation. Und wo war die siebte Person?, fragte sie sich.
Die Antwort erhielt sie postwendend. Mit voller Wucht jagte die hinter ihr stehende Holländerin einen Gewehrkolben an Tanjas Hinterkopf. Juists einzige Polizeikraft sackte zusammen und blieb auf den Pflastersteinen liegen. Verschwommen sah sie, wie Emma zu ihr lief und mit erhitzter Zunge über ihr bleich gewordenes Gesicht schleckte.
Dengel und Carmen liefen zur Holländerin, die mit dem Kampfstiefel Tanjas Hals niederdrückte.
»Sie hat sicher nach Verstärkung telefoniert«, schrie der geflohene Schwerverbrecher, als er die Polizeibeamtin erkannte.
Antje widersprach. »Ich habe sie beobachtet, als sie mit dem Hund vom Strand hochgekommen ist. Sie hat nicht telefoniert und …«
»Mir scheißegal, erschieß sie!«, drängte Dengel aufgeregt. »Keine Zeugen! Ist das so schwer zu verstehen?«
Emma bellte, als Carmen die Waffe aus der Gürteltasche holte und sie ihrem Frauchen an den Kopf hielt. Aus dem Augenwinkel sah Tanja, wie Dengel mit einem brutalen Tritt dafür sorgte, dass sich ihre Hündin trollte. »Worauf wartest du? Schieß!«
»Sie ist Polizistin«, gab Carmen zu bedenken. »Gibt schlechtes Karma, und sie jagen doppelt so viele Bullen hinter uns her.«
Dengel spürte sanften Wind über sein Gesicht streicheln und änderte mit Blick in den klarer werdenden Himmel seine Meinung. »Ok, Planänderung. Sie verständigt den Notruf für den Hubschrauber, dann stellt niemand dumme Fragen. Sperrt sie weg.«
Im selben Augenblick schreckten klackende Hufe die Flüchtigen auf. Hastig zogen sie die Beamtin hinter die Mülltonne.
Dengels Gesicht strahlte beim Anblick der Plankutsche, die auf sie zusteuerte. »Das Schicksal meint es gut mit uns, Mädels. Genau damit fahren wir zum Landeplatz.« Er griff Carmens Hand und kontrollierte die Zeit auf ihrer Armbanduhr. »In einer halben Stunde Abmarsch. Lasst alles zurück, was nicht gebraucht wird. Wir dürfen nicht zu schwer sein.«
Der Kutscher mit Zigarette im Mund hatte die Personen beim Seeferienheim nicht bemerkt. Als aus dem Nichts ein Plastikball zwischen die Hinterbeine der Lastpferde schoss, ahnte er nicht, was ihn erwarten würde. Die Tiere bäumten sich erschrocken auf und wieherten. Mit Peitsche und guten Worten brachte er das Gespann zur Ruhe. Doch statt die Fahrt fortzusetzen, hob er die Arme, denn zwei maskierte Gestalten mit Gewehren bedeuteten ihm, vom Bock abzusteigen.
Tanja Krüger fand sich in einem Schlafraum mit Etagenbetten wieder. Der Kopf brummte ihr vom Schlag, den ihr die siebte Person verpasst hatte. Sie schleppte sich zum vergitterten Fenster. Das Stück Himmel, das sie sehen konnte, war trüb und grau, aber kein Sturm tobte mehr über die Insel. Am anderen Ende des Hofes entdeckte sie ihre Hündin. Emma lag bewegungslos in einer Blutlache. Sie haben Emma getötet, dachte sie, genauso, wie sie Jan getötet haben. Tränen rannen ihr über die Wange. Voller Wut eilte sie zur Tür, die plötzlich vor ihr aufgerissen wurde. Die spanisch sprechende Frau betrat mit übergezogener Sturmhaube den Raum. Sie reichte Tanja das ausgefallene Diensthandy, das in ihrer Jacke gesteckt hatte.
»Akku ist geladen«, sagte Carmen knapp. »Dreh dich um.«
Durch das Fenster sah Tanja, wie zwei Kämpfer einen übel zugerichteten Mann durch den Hof schleiften.
»Wer ist das?«, fragte sie entsetzt.
»Ein hübscher Kerl, dem die Gäule durchgegangen sind und ihn halb tot getrampelt haben«, bekam sie zur Antwort. »Du wählst jetzt die 112, sagst, wer du bist, und forderst einen Rettungshubschrauber an. Sonst stirbt der Kutscher.«
Unter vorgehaltener Waffe tätigte die Beamtin den Notruf. Die Einsatzzentrale erkundigte sich nach der Verletzung, beruhigte sie, dass der Rettungsdienst die Erstversorgung übernehme, und schickte den Hubschrauber los. In zehn Minuten würde er auf der Wiese beim Hafen eintreffen. Zufrieden nahm Carmen der Polizistin das Handy weg und öffnete die Tür. Zwei Männer kamen herein, warfen den Kutscher vor Tanjas Füße und verschwanden. Aus der Nase tropfte Blut, mehr an Verletzungen entdeckte sie bei ihm nicht. »Geht’s?«, vergewisserte sie sich.
Der Kutscher nickte und deutete zum Fenster. Nun hörte auch Tanja, wie sich der Planwagen in Bewegung setzte. Sie sprang zur verschlossenen Tür und rüttelte. Eine Zeit lang sah der Verletzte ihr dabei zu und wischte sich das Gesicht mit einem herumliegenden Bettlaken ab. Dann rappelte er sich auf, öffnete die Fensterladen und stieß von innen das Gitter auf.
»Danke«, sagte Tanja perplex. »Bleib hier, ich schicke Hilfe, ja?«
Mit einem Sprung war sie draußen auf dem Hof. Doch Emma lag nicht mehr dort, wo sie sie gesehen hatte. Sie starrte sekundenlang auf die Blutlache auf dem Asphalt, wieder rannen Tränen über ihre Wangen. Was sollte sie bloß tun? Die Verbrecher hatten einen Vorsprung, der Hubschrauber landete in wenigen Minuten. Weit und breit keine Inseljäger, geschweige denn Verstärkung. Schweren Herzens rannte sie los und stolperte über den Militärrucksack, der als Tormarkierung hergehalten hatte. Rasch öffnete sie ihn und staunte. »Perfekt!«, machte sie sich Mut und erinnerte sich, wie sie bei der Polizeiausbildung mit einem G3 Schnellfeuergewehr Trainingseinheiten absolviert hatte.
Gleich darauf schlug sie das Fenster des Gebäudes mit der Aufschrift »Büro und Kiosk« ein. Sie fand ein vorsintflutliches Scheibentelefon und alarmierte die Feuerwehr. »Rückt sofort zum Hafen aus«, befahl sie. »Ich bin auf dem Weg.«
Sie war bereits davongeeilt, als der Kutscher in den Hof trat.
*
Die Plankutsche erreichte den Hafen zusammen mit den Löschzügen und den Rettungswagen. Das Sirenengeheul des Großeinsatzes trieb Juister und Touristen hinaus zum Hafengelände. Menschenmassen wie zur Hochsaison fanden sich zusammen, ohne zu wissen, was vor sich ging. Der Kolumbianer auf dem Bock trieb unbeeindruckt die Pferde voran. Unsichtbar unter der Plane saß Dengel mit der bewaffneten Mannschaft.
Mit dem gesicherten Gewehr im Bollerwagen eines konfiszierten Fahrrads näherte sich die Inselpolizistin dem Hafen. Der Hubschrauber landete gerade auf der Wiese neben dem Leuchtturm. Im Rotorwind sprangen Notarzt und Sanitäter heraus und blickten sich nach dem Schwerverletzten um. In dem Moment wurde die Kutschenplane weggezogen. Dengel und die bewaffneten Kämpfer sprangen heraus und verscheuchten die zwei zu Tode erschrockenen Helfer. Die Zuschauer, die augenblicklich die Gefahr erkannten, riefen und winkten sie zu sich, bis Dengel eine Salve in die Luft abfeuerte. In Todesangst suchten die Schaulustigen Schutz in den umliegenden Gebäuden. Nachdem der Rettungspilot vom Sitz gezerrt war, sprangen die Verbrecher in den Hubschrauber.
Tanja Krüger erreichte den Einsatzort. Sie stieß das Fahrrad von sich, schnappte das Gewehr und lief auf den aufsteigenden Helikopter zu. Sie schrie. Doch die Lautstärke des Propellerwirbels machte ihre Worte nutzlos. Niemand verstand auch nur eine Silbe von dem, was sie in die Luft brüllte. Dennoch rief sie: »Halt, Polizei! Landen Sie sofort! Oder ich schieße.«
Trotz Sichtkontakt zur Beamtin mit G3 im Anschlag hob die Maschine unter ohrenbetäubendem Geratter ab. Tanja spürte, wie in dem infernalischen Lärm sich absolute Ruhe in ihr breitmachte. Der Hubschrauber stieg beständig in die Luft. In etwa 50 Meter Höhe lenkte der Pilot die Maschine um die eigene Achse. Da erschien Hannes Dengel in ihrem Blickfeld. Direkt im Lauf des Gewehrs. Er grinste durch die Scheibe wie der Teufel auf dem Flug zur Hölle. Er war schuld, dass drei Polizeibeamte im Sterben lagen. Jan lag tot im Sand vergraben, Emma hatte er zu Tode getreten. Sie allein war der Arm der Gerechtigkeit. Jetzt und hier auf Juist. Sie zielte auf den Rotorkopf und gab mehrere Feuerstöße ab. Als die von Einschlägen getroffene Mechanik beschädigt wurde, geriet der Hubschrauber ins Trudeln und stürzte in Sekundenschnelle herab. Knapp neben dem Leuchtturm krachte die Maschine zu Boden und kippte auf die Seite. Die Rotorblätter schlugen tiefe Furchen in die Wiese, ehe sie in Stücke zerbrachen und durch die Luft jagten. Tanja Krüger duckte sich rechtzeitig und ließ sich fallen. Sie reagierte als Erste, als der donnergleiche Knall des Aufpralles verebbt war. »Los!«, schrie sie den Rettungskräften zu. »Seht nach ihnen!«
Feuerwehrleute und Sanitäter stürmten zu dem millionenteuren Wrack. Mit schwerem Werkzeug gelang es ihnen, die verkeilten Türen aufzubrechen. Ein silbern schimmerndes Metallstück ragte aus Dengels Kopf. Über seinen leblosen Augen war die Schirmmütze mit dem Sinnspruch »Juist sehen und sterben« lesbar geblieben. Auch keiner der anderen Insassen hatte den Abschuss überlebt.
So ruhig Tanja noch vor ein paar Minuten gewesen war, so sehr zitterte sie jetzt am ganzen Körper. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und auf das, was eigentlich im Moment so überflüssig wie nur sonst was war. Aber unumgänglich. Den notwendigen Bericht an das Polizeikommissariat in Norden. Doch als sie plötzlich den Kutscher entdeckte, der Emma im Arm hielt, war ihr vollkommen egal, wie viele Berichte sie zu schreiben hatte. Sie rannte einfach nur zu ihm und starrte glücklich auf ihre Hündin.
»Ich dachte, Emma sei tot«, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor.
Der freundlich lächelnde Retter reichte ihr die Hündin. Wortkarg wie das Juister Seezeichen, das in den aufkommenden Sonnenstrahlen glänzte, streichelte er das Tier.
»Jetzt brauche ich einen Schnaps«, hörte sie sich sagen. Sie war überrascht über die gelungene Intonation. »Du auch?«
Der Mörder vom Schiffchenteich
Gisa Pauly
Juist ist in der Nacht verdammt dunkel. Und ich bin ganz allein. Weit und breit kein Mensch. Wenn ich ehrlich bin, fürchte ich mich ein bisschen im Dunkeln auf der Insel. Außerdem ist es viel zu spät, um irgendwo um Hilfe zu bitten. Die Restaurants sind geschlossen, sogar in der »Spelunke« ist schon alles dunkel. Und die schließt immer als Letzte. Es muss also schon weit nach Mitternacht sein. Irgendwie habe ich total mein Zeitgefühl verloren. Das passiert mir oft, wenn um mich herum etwas Aufwühlendes geschieht. Herbert bäuchlings im Schiffchenteich! Mein Herbert! Wenn das nicht aufwühlend ist! Mit dem Gesicht im Wasser! Und er rührt sich nicht mehr. So was von aufwühlend!
Mein geliebter Herbert! Wie konnte das passieren? Was soll ich nur ohne ihn machen? Und wie soll ich in die Ferienwohnung kommen? Den Schlüssel hat er garantiert in der Hosentasche, aber da gehe ich nicht ran. Ums Verrecken nicht. Eigentlich müsste ich wohl die Polizei verständigen. Gibt’s auf Juist überhaupt eine Polizeistation? Mein Gott, ich bin total durcheinander. Doch, halt – als wir das letzte Mal auf Juist waren, hat Herbert seine Geldbörse verloren. Da waren wir gemeinsam auf dem Revier. Das war gar nicht weit von hier. Aber ich bin viel zu aufgeregt, um jetzt im Dunkeln den Weg zu finden. Und wahrscheinlich ist da auch keiner mehr wach. Auf Juist schläft doch alles. Hätte ich mich bloß nicht verleiten lassen, die alte Frau Sönksen zu besuchen. Aber die ist ja immer so allein, die freut sich über Gesellschaft. In ihrer Keksdose hat sie immer dieses herrliche Schwarz-Weiß-Gebäck, das ich so gerne mag. Und Herbert konnte ja wirklich mal zwei, drei Stunden ohne mich zurechtkommen, oder?
Doch da sieht man’s mal wieder: Wenn ich nicht auf ihn aufpasse, passiert etwas. Ausgerutscht und unglücklich gestürzt? Dachte ich auch zuerst, aber nun hatte ich Zeit, mir das gründlich zu überlegen. Nein, nein, das glaube ich einfach nicht. Nicht nach dem Ärger heute Nachmittag. Das kann kein Zufall sein …
Ich liebe Kurkonzerte. Noch mehr als Herbert. Eigentlich geht er nur mir zuliebe hin, das weiß ich. Und das habe ich ihm immer hoch angerechnet. Mir gefällt die Musik, die auf Kurkonzerten zu Gehör gebracht wird. Nicht diese schnellen Rhythmen mit den lauten Bässen, sondern zarte Weisen mit vielen Geigen. Am besten sind die Walzermelodien. Herrlich! Ich singe dann auch sehr gerne mit. Ganz leise nur, ziemlich zurückhaltend. Und es macht mich traurig, wenn Herbert sagt, mein Gejaule sei kaum zu ertragen. Das tut mir weh, obwohl er dabei lächelt. Aber wenn dann diese Schunkelmelodien erklingen, kann ich einfach nicht anders. Nein, ich schunkele nicht, das mag ich nicht, aber ich singe gern mit. Der Dirigent hatte sogar ausdrücklich dazu aufgefordert. Also habe ich nicht nur leise, sondern auch ein bisschen lauter gesungen. Aber was passiert? Herbert und ich werden angemacht. Auf ganz hässliche und gemeine Weise. Das wäre ja nicht anzuhören. Ich träfe keinen Ton. Und dieses schreckliche Gejaule … Ja, die Leute haben meinen Gesang tatsächlich auch so genannt. So wie Herbert! So was von herzlos!
Aber auf meinen Herbert kann ich mich verlassen, er ist immer loyal. Obwohl ich weiß, dass er meinen Gesang nicht schätzt, stand er felsenfest an meiner Seite. »Ich liebe es, wenn Walli singt«, hat er gesagt und eine alte Frau mit lila gefärbten Haaren bitterböse angesehen. »Glauben Sie wirklich, dass Ihr schriller Altfrauensopran schöner klingt?«
Jetzt hatte Herbert aber was gesagt. Ein Riesentumult brach aus. Die alte Frau mit den lila gefärbten Haaren verteidigte ihren Sopran mit aller Kraft. Und davon hatte sie noch eine Menge auf Lager, das muss man sagen. Meine Güte, ist die auf uns losgegangen!
»Unverschämtheit! Dreistigkeit! Diese Jugend von heute!« Was sie noch alles gesagt hat oder besser gekreischt hat, das weiß ich gar nicht mehr so genau. Auf jeden Fall musste das Kurkonzert abgebrochen werden.
Das Lager der Besucher spaltete sich daraufhin. Einige schlugen sich auf die Seite dieser schrecklichen Frau, nicht wenige aber waren der Meinung, dass ich nicht schlechter singe als sie. Der Dirigent wollte nicht in den Streit hineingezogen werden und verschwand mit seinem Ensemble derart eilig, dass der Cellist über sein Instrument stolperte und in die Kesselpauke fiel. Eine an sich bestürzende Tatsache, die aber große Heiterkeit erzeugte und von den Streitigkeiten vorübergehend ablenkte.
Herbert war danach sogar richtig gut drauf. Ich glaube, er hatte das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben. Jedenfalls holte er sich von dem Stand, der hinter dem Konzertpavillon aufgebaut worden war, ein weiteres Bier und sah mit dem Glas in der Hand zu, wie die Konzertbesucher in alle Richtungen davonströmten.
Und nun liegt mein Herbert im Schiffchenteich und rührt sich nicht mehr. Dass ich in der Stunde seines Todes nicht bei ihm war, macht mir schwer zu schaffen. Ach, Herbert …
Was jetzt? Warten, bis die Sonne aufgeht? Irgendwann wird hier jemand auftauchen, der die nötigen Schritte einleitet, klar. Will ich dann überhaupt noch hier sein? Natürlich müsste ich die alte Frau beschuldigen, die von ihren Freundinnen Thea genannt wurde. Sie hat meinen Herbert auf dem Gewissen, keine Frage. Wahrscheinlich hat sie auch schon ihren Ehemann abgemurkst, als er es wagte, ihr zu widersprechen. Wer ihr Kurkonzert stört und noch dazu ihren Sopran kritisiert, den schickt sie ins Jenseits. So eine ist das! Anders kann das gar nicht gewesen sein.
Vermutlich hat sie uns lange aufgelauert, bis es zu dunkeln begann, bis niemand mehr auf der Straße zu sehen war. Das geht schnell auf Juist. Vor allem in der Nebensaison, wenn auf der Insel fast nur alte Leute Urlaub machen. Herbert und ich gehen dann gerne spazieren, wenn die Dunkelheit vom Meer herüberkommt und sich über die Insel stülpt, wenn es still wird, wenn auch das Hufgeklapper nicht mehr zu hören ist, wenn die Urlauber in ihren Hotels und Pensionen oder in den Ferienwohnungen sitzen und zu Abend essen. Leider konnte Herbert sich heute nicht entschließen, wo wir essen wollten. Mir ist ja am liebsten, wenn wir zu Moni gehen, bei ihr schmeckt es mir immer. Aber Herbert hat mir erklärt, dass ein Bratkartoffelverhältnis nicht unbedingt etwas damit zu tun hat, dass dort täglich Bratkartoffeln serviert werden. Überhaupt geht Herbert lieber in den »Friesenhof« oder ins »Hafenrestaurant« als zu Moni. Jedenfalls, wenn er Hunger hat. Dass er aber auch immer so lange braucht, um sich zu entscheiden! Hätte er einen schnellen Entschluss gefasst, dann wäre diese schreckliche Sache vermutlich gar nicht passiert. Aber Herbert hatte zunächst keinen rechten Appetit und überlegte dann so lange hin und her, bis es in keinem Restaurant mehr einen freien Tisch gab. Und dann war ich es leid. Ich hatte keine Lust, bis zum Schlafengehen mit Herbert zu überlegen, wo wir essen gehen wollen. Ich habe mich dann einfach verdrückt. Umgedreht und abgehauen! Zu Frau Sönksen. Von dem Schrei, den Herbert mir nachschickte, habe ich mich nicht zurückholen lassen. Manchmal muss man einem Mann eben zeigen, dass man sich nicht alles bieten lässt.
Ich gehe zum Hafen, aber da ist nichts zu sehen und zu hören, schaue im Strandhotel nach, wo es nie ganz dunkel ist. Doch ich brauche mir nur den Nachtportier anzusehen, der vor seinem Monitor döst … Nein, von dem habe ich keine Hilfe zu erwarten. Kann ich auch verstehen. Was hat der mit meinem toten Herbert zu tun?
Also doch das Polizeirevier! Aber Pustekuchen! Da ist es genauso dunkel wie überall, nur das Schild, auf dem »Polizei« steht, ist beleuchtet. Die Tür ist zu, hinter den Fenstern brennt kein Licht. Verdammt, ich will in mein Bett. Wenn ich Herbert nicht mehr helfen kann, gibt es keinen Grund, am Schiffchenteich sitzen zu bleiben. Am besten, ich gehe zu Moni. Dass sie mir Herbert abspenstig machen wollte, muss ich dann allerdings vergessen. Kann ich das? Eifersucht ist ein Gefühl, das sehr wehtut. Und immer, wenn Moni meinen Herbert angesehen hat, habe ich unter diesem Schmerz gelitten. Tief in mir drin. Ausgehalten habe ich das nur, weil ich Moni trotz allem mag. Und weil sie immer nett zu mir ist.
Der Weg zu ihr ist nicht weit. Ein paar Hundert Meter Richtung Loog, dann das kleine Haus auf der rechten Seite. Klar, da ist auch alles dunkel. Aber der Strandkorb steht noch im Vorgarten, und darin liegt eine Decke. Dort werde ich es den Rest der Nacht aushalten.
Dass ich so tief und fest geschlafen habe, kann nur daran liegen, dass ich von den Geschehnissen des vergangenen Tages fix und fertig war. Der eine kommt nach solch schrecklichen Ereignissen nicht in Schlaf, bei mir ist es anders, ich falle glatt ins Koma. Also … gewissermaßen. Ich komme erst zu mir, als die Gartenpforte knirscht und Schritte zu hören sind. Himmel, ich weiß zunächst gar nicht, wo ich bin. Als ich endlich klar denken kann, haben die beiden Polizeibeamten schon den Vorgarten durchquert und an Monis Tür geschellt. Mich haben sie im Strandkorb gar nicht gesehen. Und ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt erst mal abwarte. Besonders freundlich gucken die beiden nicht. Denen traue ich zu, dass sie denjenigen, der Herbert am nächsten gestanden hat, am ehesten verdächtigen. Und das wäre natürlich ich.