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Moni ist noch ziemlich verschlafen, als sie die Tür öffnet. Und als sie hört, dass Herbert tot im Schiffchenteich gefunden worden ist, fängt sie gleich an zu schreien und zu weinen.
»Das kann doch nicht wahr sein!«
Das stöhnt sie immer wieder, und ich will schon aufstehen und ihr zur Seite springen. Aber da sagt sie mit einem Mal: »Wo ist überhaupt Walli?«
Die Polizisten gucken sich fragend an und bitten darum, eingelassen zu werden. Die Tür fällt hinter ihnen ins Schloss, und ich sitze im Strandkorb wie gelähmt. Wieso hat Moni gleich nach mir gefragt? Will sie mich etwa verdächtigen?
Ich schleiche ums Haus herum und stelle fest, dass die Terrassentür nicht ganz geschlossen ist. Ich kann hören, wie einer der Polizisten sagt: »Kann sein, dass er über irgendwas gestolpert und dann in den Schiffchenteich gefallen ist. Möglich, dass er sich dabei den Kopf aufgeschlagen hat, ohnmächtig geworden und ertrunken ist. Kann aber auch sein, dass er gestoßen wurde. Jedenfalls hat er eine klaffende Stirnwunde.«
Gestolpert? So ein Blödsinn! Natürlich wurde er niedergeschlagen, brutal gestoßen. Und ich weiß auch, von wem. Von dieser Thea, die es nicht verwinden konnte, dass Herbert ihr hohes C mit dem Alarm einer alten Lokomotive verglichen hat.
»Hatte er Feinde?«
Oh ja, die hatte er. Oder besser … eine Feindin. Thea mit den lila Haaren.
»Nein«, antwortet Moni. »Herbert war ein lieber Mensch. Den mochten alle.«
Klar, sie war heute Nachmittag ja nicht dabei. Kurkonzerte mag sie nicht. Da lässt sie uns immer allein hingehen.
»Wir haben bereits sein Ferienapartment gesichtet und dabei einige interessante Entdeckungen gemacht«, höre ich jetzt. »Sie hatten Schulden bei Herbert Faber. Und zwar beträchtliche.«
»Na und?«, fängt Moni an zu kreischen. »Deswegen bringe ich ihn doch nicht um.«
»Es sind schon Menschen wegen weniger Geld ermordet worden. 20.000 sind kein Pappenstiel. Wollte er das Geld zurück? Und Sie konnten es ihm nicht geben?«
20.000! Davon hatte ich keine Ahnung. Das ist ja ungeheuerlich.
»Außerdem sollen Sie sehr eifersüchtig sein«, ergänzt der andere Polizist.
»Wer sagt das?«, fragt Moni mit zitternder Stimme. Und als sie keine Antwort bekommt, heult sie los: »Herbert hat mich geliebt. Ich hatte keinen Grund zur Eifersucht.«
Geliebt? Nun bin ich aber ziemlich konsterniert. Mich hat Herbert geliebt, nur mich! Was redet Moni denn da?
Als die Polizisten gehen, liegt mir nichts mehr daran, mich zu Moni zu flüchten und mich von ihr trösten zu lassen. Die Sache ist mir zu heikel. Dass sie Schulden bei Herbert hatte, wusste ich nicht. Und dass sie glaubte, er habe sie mehr geliebt als mich, habe ich auch nicht für möglich gehalten. Mein Gott, ich glaube, ich habe mich noch nie in einem Menschen so getäuscht. Moni! Hast du meinen Herbert auf dem Gewissen? Ein schrecklicher Gedanke! Andererseits … der Verdacht, den die Polizisten geäußert haben, kann nicht schwerwiegend sein, sonst hätten sie Moni mitgenommen. Aber sicherlich sind sie schon längst auf der Suche nach Beweisen. Und sobald die gefunden sind, wird Moni verhaftet. Es sei denn, meine ursprüngliche Vermutung stimmt und Thea mit den lila Haaren steckt hinter Herberts gewaltsamem Tod.
Nur – die Beweislage könnte schwierig sein. Diese Thea wird natürlich alles abstreiten, ihre Freundinnen werden sich vermutlich auf ihre Seite stellen. Und dann? Dann wird die Polizei von Verleumdung reden und sich nicht weiter um die Dame kümmern. Nein, ich brauche hieb- und stichfeste Beweise. Allermindestens schwerwiegende Indizien. Nur … wo kriege ich sie her? Ich muss mir was einfallen lassen.
Das Wichtigste wird sein, mich unauffällig zu verhalten. Die Polizei hat sicherlich meinen Namen notiert, aber ob man mich suchen wird? Ich weiß es nicht. Könnte natürlich sein. Dass ich verschwunden bin, spricht unter Umständen gegen mich. Wer abhaut, ist immer verdächtig. Andererseits … sobald ich die Beweise gegen Thea zusammen habe, wird niemand mehr auf die Idee kommen, mir etwas anzuhängen. Ich habe ja auch überhaupt kein Motiv. Ich habe Herbert geliebt! Und er mich auch! Allerdings … wenn Moni dabei bleibt, dass ihr der erste Platz in Herberts Herzen gehört hat, könnte den Polizisten die Idee kommen, dass ich es bin, die aus Eifersucht gemordet hat. Nein, nein, besser, ich halte mich zurück. Anscheinend werde ich noch gar nicht vermisst. Nur von Moni. Und solange niemand nach mir sucht, kann ich mich umhören, ohne aufzufallen.
Ich ziehe mich an den Strandaufgang am Strandhotel zurück. Da ist immer viel los, ich werde nicht weiter auffallen. Auch wenn man schon nach mir suchen sollte. Das Problem ist nur: Ich habe Hunger. Durst habe ich auch. Aber kein Geld, um mir etwas zu besorgen. Was mache ich nur? Wenn mir vor lauter Hunger die Beine zittern, wie soll ich dann Herberts Tod aufklären?
Strandaufgänge sind in solch einem Fall immer das Beste. Taschen werden zum Strand oder zurück geschleppt, oft abgesetzt, um zu verschnaufen oder einem Kind die Nase zu putzen, da muss man nur schnell und entschlossen sein. Sich einen Leckerbissen schnappen und dann nichts wie weg. Niemand wird gern zum Dieb, aber was soll ich machen? Normalerweise hätte ich mich bei Moni eingefunden, aber auf die kann ich mich ja nicht mehr verlassen.
Der kleine Junge hat eine große Packung mit Zwiebäcken in sein Plastikauto geladen. Er hat genug damit zu tun, es durch den tiefen Sand zu ziehen. Dass seine Zwiebäcke verschwunden sind, als er mit seinen Eltern und seiner großen Schwester endlich an der Wasserkante ankommt, wird sich keiner von denen erklären können. Das ist super gelaufen. Wer will schon gern als Dieb erkannt oder gar verfolgt werden? Es wäre mir ganz schön peinlich gewesen, wenn man mit Fingern auf mich gezeigt und gerufen hätte: »Haltet den Dieb!«
Als ich sämtliche Zwiebäcke verputzt habe, geht es mir schon wesentlich besser. Ich fühle mich stark genug für meine Aufgabe. Wasser habe ich auch getrunken, es gibt ja einige Zapfstellen in der Nähe des Strandaufgangs, also bin ich jetzt ziemlich gut drauf. Rein körperlich gesehen. Wie es in meinem Herzen und meiner Seele aussieht … na, das kann sich wohl jeder denken. Darum werde ich mich später kümmern, wenn Herberts Mörderin hinter Schloss und Riegel sitzt. Jetzt will ich mich erst mal in der Sonne ausstrecken und darauf warten, dass das Kurkonzert beginnt. Da wird Thea mit den lila Haaren garantiert auftauchen, und dann werden wir mal sehen, wie ich sie überführe. Vielleicht macht sie einen Fehler. Und dann …
Als die Musiker noch ihre Instrumente auspacken und stimmen, kommen schon die ersten Konzertbesucher. Viele bleiben erst mal am Schiffchenteich stehen und betrachten gruselnd das Wasser, wundern sich vielleicht sogar, dass es nicht rot gefärbt ist von Herberts Blut.
Ehrlich gesagt, ich wundere mich auch. Dass jemand so umsichtig war und das Wasser gewechselt hat, habe ich nicht erwartet. Bravo! Es gibt auch auf Juist Menschen, die mitdenken. Vermutlich der Besitzer des Spielzeugladens, der die Schiffchen verkauft, die die Kinder hier so gerne schwimmen lassen. Er schreibt immer liebevoll den Namen des Kindes auf das Segel, ehe das Boot über die Ladentheke geht. Der weiß natürlich, dass er kein einziges Schiffchen loswird, wenn das Wasser im Schiffchenteich nicht klar, sondern rot gefärbt ist.
»Es hilft ja nichts«, höre ich jemanden sagen. »Das Leben muss weitergehen.«
Eine Freundin von Thea! Wo die ist, wird auch Thea nicht mehr weit sein.
Da! Ich erkenne sie schon von Weitem. Ihre lila Haare sind ja nicht zu übersehen. Sie kommt in der Begleitung ihrer Freundinnen, das habe ich ja erwartet. Ich setze mich auf den Rasen, wie es viele tun, die nicht nur die Musik hören, sondern währenddessen auch für frische Bräune sorgen wollen, tue gelangweilt, habe aber in Wirklichkeit Thea und ihre Freundinnen fest im Blick.
»Da drinnen ist er gefunden worden«, sagt eine mit viel Pathos in der Stimme. »Schrecklich!«
Thea hat tatsächlich die Stirn, dies zu bestätigen. »Ja, ganz fürchterlich. Obwohl … ein sympathischer Mensch war das nicht. So was gönnt man ja seinem ärgsten Feind nicht.«
Diese Heuchlerin!
»Wo mag er jetzt sein?«, fragt eine andere mit Gänsehaut auf der Stimme, als wollte sie hören, dass mein Herbert im Kühlhaus des Kurhauses gelandet sei. »Auf Juist gibt’s doch keine Pathologie.«
»Er wird dort sein, wo auch die toten Juister hinkommen, die eines natürlichen Todes sterben. Auf der Insel werden die Menschen ja auch mal krank und müssen irgendwann den Löffel abgeben. Trotz des guten Klimas.« Theas Freundin kommt sich sehr schlau vor mit diesem Satz. »Und beerdigt werden sie hier auch.«
Aber Thea weiß es besser. »Ein Mordopfer wird erst beerdigt, wenn der Mord aufgeklärt und der Mörder gefunden ist.«
»Ehrlich?« All ihre Freundinnen sind entgeistert. »Und wenn das Wochen dauert?«
»Er muss nur gut gekühlt werden.«
Ich kann mir das nicht anhören. Die Vorstellung, dass mein Herbert irgendwo gekühlt wird wie ein Brathähnchen, das spätestens in drei Tagen verzehrt werden muss, macht mir schwer zu schaffen. Herbert war immer so stark, so klug, hat mich beschützt, stand immer an meiner Seite und war stets loyal. Das hat man ja gesehen, als die lilafarbene Thea mich beim Kurkonzert beleidigt hat.
Während am Schiffchenteich darüber gerätselt wird, wer Herbert auf dem Gewissen haben könnte, und Thea so tut, als könne sie es sich nicht erklären, wird mir übel. Gut, dass ich noch nichts Vernünftiges gegessen habe, sonst hätte ich womöglich dem Dirigenten des Kurorchesters vor die Füße gekotzt, der gerade die Bühne betritt.
Zum Glück werde ich jedoch abgelenkt. Wen sehe ich da auf den Schiffchenteich zukommen? Die alte Frau Sönksen! Was für eine Freude! Obwohl sie ja gewissermaßen schuld an Herberts Tod ist. Nein, sie ist nicht schuldig, höchstens mitschuldig. Wenn sie nicht dieses wahnsinnig leckere Schwarz-Weiß-Gebäck produzierte, dann wäre das alles nicht passiert, das muss mal ganz klar gesagt werden.
Ich hätte Thea daran hindern können, meinen Herbert in den Schiffchenteich zu stoßen. Okay, okay, ich habe noch immer keine Beweise, aber Theas Verhalten zeigt doch, dass sie schuldig ist. Wie harmlos sie tut! Wie mitfühlend sie sich gibt! Dahinter erkennt man doch gleich ihr schlechtes Gewissen.
»Walli!«
Nun hat Frau Sönksen mich auch gesehen. Mich hält jetzt nichts mehr. Aufgeregt laufe ich zu ihr, um sie zu begrüßen. Meine liebe Frau Sönksen! Herbert mochte sie genauso gern wie ich. Er ließ mich immer allein zu ihr laufen, der Weg war ja nicht weit, und er vertraute mir. So wie gestern Abend. Wie oft hat er gesagt: »Meinetwegen mach einen Besuch bei Frau Sönksen …« Gestern Abend allerdings nicht. Da habe ich den Entschluss gefasst, ohne auf Herberts Aufforderung zu warten. Wäre er doch nur mit mir in den »Friesenhof« gegangen! Dann hätte mich der Hunger nicht zu Frau Sönksen getrieben.
Ich setze an zu einem großen Sprung, will Frau Sönksen auf den Schoß hüpfen, aber mit einem Mal werde ich zurückgerissen, jemand hält mich, etwas hält mich, irgendwas …
»Vorsicht! Die Leine!«, höre ich jemanden schreien.
In diesem Moment komme ich keinen Schritt weiter. Straff gespannt ist sie, meine Leine, irgendwo fest verhakt. Sie zerrt an mir, zieht mich zurück … da höre ich einen weiteren Schrei. Dann einen riesigen Platsch, das Wasser spritzt bis auf meinen Rücken. Und schließlich dieses ausgesprochen hässliche Geräusch, wenn ein Knochen knirscht und zerbirst.
Ich reiße mit aller Kraft, und zum Glück gibt die Leine endlich nach. Es wäre mir durchaus recht gewesen, wenn sie sich vom Halsband gelöst hätte. Sie ist mir den ganzen Tag schon sehr lästig. Es wäre besser gewesen, Herbert hätte sie mir abgenommen, bevor ich zu Frau Sönksen gelaufen bin. Das wollte er eigentlich auch, weil ja auf den Straßen nichts mehr los war und ich keinem Pferdefuhrwerk in die Quere kommen konnte. Er hat sich zu mir hinabgebeugt, aber ich war viel zu aufgeregt, weil ich an Frau Sönksens Schwarz-Weiß-Gebäck dachte, wollte nicht warten, bin einfach losgerannt, so wie gerade eben … Dann habe ich etwas Ähnliches gehört. Auch da hat sich meine Leine verfangen, hat sich ruckartig gespannt, und es hat ein Platschen gegeben, Wasser ist aufgespritzt, aber ich hatte nur das Schwarz-Weiß-Gebäck von Frau Sönksen im Kopf und habe mich nicht weiter darum gekümmert. Auch jetzt hält sie es in der Hand, die gute Frau Sönksen. Wie lieb von ihr, dass sie daran gedacht hat.
Brav setze ich mich vor sie hin, mache Männchen, bereit zuzuschnappen, wenn mir ein Gebäckstück vor die Schnauze gehalten wird. Aber Frau Sönksen scheint mich plötzlich nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Irgendwas hat sie erschüttert. So gewaltig, dass ihr nun die Tüte mit dem Gebäck aus der Hand fällt. Nun gut, das ist mir recht. Noch lieber fresse ich natürlich alles auf einmal auf, als für jedes Gebäckstück Männchen zu machen.
Erst als das ganze Schwarz-Weiß-Gebäck verputzt ist, kümmere ich mich um das Theater, das am Schiffchenteich herrscht.
»Polizei!«
Schon wieder? Warum? Ich dränge mich durch die vielen Beine, die um den Schiffchenteich herum stehen, und da sehe ich die Bescherung. Thea mit den lila Haaren liegt im Wasser. So wie Herbert. Bäuchlings! Es dauert verdammt lange, bis endlich ein Mann ins Wasser steigt und sie umdreht. Ihre Freundinnen kreischen, der Mann drückt mal hier und mal da, horcht an ihrer Brust und schüttelt dann den Kopf. »Ich nehme an, Schädelbasisbruch«, sagt er, als verstünde er etwas davon. Ich habe keine Ahnung, was damit gemeint ist.
»So muss auch der Mann gestern zu Tode gekommen sein!«, höre ich eine Stimme und habe mit einem Mal das Gefühl, das es besser ist, mich zu verdrücken. Am besten ziemlich schnell, ehe jemand auf meine Leine tritt und mich stoppt, so wie das stachelige Gebüsch am Schiffchenteich.
Ich renne los, so schnell ich kann.
Zu Moni!
Jetzt ist es mir egal, dass sie behauptet hat, Herbert habe sie mehr geliebt als mich. Moni war immer gut zu mir, dass sie Herbert auf dem Gewissen hat, kann ich nicht mehr glauben. Und Thea mit den lila Haaren? So zu Tode gekommen wie Herbert? Das verstehe, wer will.
Ich jage die Straße hinab, die Leine flattert hinter mir her. Jetzt aber so schnell es geht zu Moni! Da Frau Sönksens Schwarz-Weiß-Gebäck verzehrt ist, wird es mir bei Moni am besten gehen. Sie wird mir hoffentlich die Leine vom Halsband lösen.
Sonst passiert am Ende noch ein Unglück …
Rietwurm*
von Till Raether
Aktennotiz: Kriminalakte Jansen, Jutta, geb. 27.09.1941 auf Juist, Anlage 23/2 zu Aktenzeichen 23-456-19.01: Handschriftliche Einlassung der Beschuldigten, Beweismittel im Rahmen des kriminalpolizeilichen Ermittlungsverfahrens zum Tötungsdelikt gegen Kleinhans, Theo, geb. 12.03.2009 in Norden, und andere.
Fundort: Nordseeinsel Memmert, D-26571 Juist
Aufnehmender Beamter: PHK Behler, Jürgen, LKA Niedersachsen, Dienstnr. B78 293-56
Nun will ich also Bericht ablegen über meine Kindheit, um zu verstehen, was mit dem kleinen Theo geschah. Rennautos hat er gemocht und Gummibärchen und sein T-Shirt, wo drauf stand: »Brummi wünscht gute Fahrt«, mit einem Lastwagen in Menschengestalt.
Aber ich bin alt geworden bis fast zum Tode, und vielleicht bin ich allein deshalb bereit, an meine Kindheit zu denken und von ihr zu berichten: Weil sie mir, je älter ich werde, immer näher kommt. Alle sind tot, meine Mutter schon seit vielen Jahren. Mein Mann ist gegangen, weil er die Eckenwesen nicht mehr ertragen konnte, im März sind es zehn Jahre, tot ist er inzwischen auch.
Eckenwesen, das Wort ist von meiner Mutter. Ich war ihr ganzer Stolz. Weil ich fast alles war, was sie hatte. Sie hatte nur mich und die Eckenwesen. Und den Kiosk an der Strandpromenade, darum waren die Winter uns lang. Als sie starb, sagte der Pfarrer der Inselkirche: Sie war eine einfache Frau. Womit er wohl meinte: Sie war eine von uns. Aber was ich darin hörte, war etwas anderes, ich hörte: dass sie ungebildet war, keine Rücklagen und nichts aus ihrem Leben gemacht hatte.
Aber einfach? Nein. Sie war der schwierigste Mensch von allen.
Für sie gab es keinen Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit, darum sagte sie, wenn ich in meinem kratzenden Kleid am weißen Küchentisch saß und nach meinem Vater fragte: »Deinen Vater habe ich im Traum gekannt, von ihm nie wieder ein Wort.«
Ich denke, sie meinte: Er kam mit der Fähre und er ging mit der Fähre.
Doch wenn ich dann fragte, woher ich käme, wenn sie ihn doch nur im Traum gekannt hatte, dann schlug sie mich mit der Faust. Als ich auf die Schule am Schoolpad kam, hörte ich, dass andere Eltern mit der flachen Hand schlugen und die Lehrer auch. Meine Mutter nahm immer die Faust. Aber sie liebte mich sehr. Manchmal öffnete sie danach die Faust und zeigte mir, während sie mich in den Arm nahm, dass eine Leckmuschel darin war für mich zum Trost.
Wenn ich mich versteckte vor ihrer Faust, zerrte sie mich aus dem hintersten Winkel und zwang mich in die Küchenbank.
»Allein«, sagte sie, »bist du nur auf der Vogelinsel.«
Memmert, und wenn sie es sagte, klang es wie Memme, und als meinte sie mich damit. Die Vogelinsel wurde bei ihr zum geflügelten Wort: Wenn du allein sein willst, geh zur Vogelinsel.
Bedeuten sollte es: Hier bist du nie allein. Das verstand ich noch nicht. Aber ich wusste, die Vogelinsel war unerreichbar, sichtbar zwar, aber zwei Stunden mit dem flachen Boot durch Sandbänke, Schlickflächen und Wasserläufe, entlang an den Pricken, die den tückischen Fahrweg markieren.
Wie sehr meine Mutter mich liebte, wurde mir klar, als die Eckenwesen zu mir kamen. Ich hatte den Freischwimmer, eine Puppe, die ich im Sommer abends am Strand gefunden hatte, als die Kurgäste in ihren Hotelzimmern waren, und einen dicken Zopf hatte ich, und ich liebte Leckmuscheln und Waldmeister-Brausepulver. Eines Nachts wachte ich auf und spürte, dass jemand in meinem Zimmer war.
»Wenn du in die Schule kommst«, hatte meine Mutter gesagt, »bekommst du dein eigenes Zimmer. Dann bist du ein großes Mädchen. Und ich schlafe im Wohnzimmer, wir bitten Onkel Heini um Geld für ein Schrankbett.«
Ich war stolz, weil ich nun ein großes Mädchen war, aber ich glaube, meine Mutter gab mir das Zimmer, in dem wir all die Jahre zusammen geschlafen hatten, weil sie mich den Eckenwesen überlassen wollte oder umgekehrt, mir die Eckenwesen.
Jemand war also in diesem Zimmer, oder etwas. In der Ecke, die am dunkelsten und von meinem Bett am weitesten entfernt war. Ich lag unter der Decke und dachte nicht daran, mich zu rühren. Damals, in jenem Moment, lernte ich, auf die einzige Art zu atmen, auf die ich heute noch atmen kann. Flacher als flach, sodass man noch lautlos Sauerstoff ziehen kann aus dem kleinsten Rest Luft. Damit einen niemand hört, damit niemand aufmerksam wird darauf, dass es einen gibt.
Aber ich war ja ein Kind. Wer Kinder gesehen hat, weiß, dass sie sich bewegen müssen. Lange stillhalten konnte ich nie. Rietwurm, hat meine Mutter mich genannt, weil ich immer hibbelig war. Jetzt, als die Anwesenheit in der Ecke war, versuchte ich, meinen Atem ganz flach zu machen und mich nicht zu rühren, damit das, was da war, mich nicht bemerkte. Aber ich war eben der Rietwurm, ich musste mich bewegen.
Aber es ging. Ich konnte atmen und die Augäpfel bewegen in ihren Höhlen, zur Dunkelheit, die nichts verriet, in der Zimmerecke, aber es war mir unmöglich, meinem Rumpf, den Armen und den Beinen eine Bewegung abzuringen. Aufspringen und wegrennen, zu meiner Mutter, ohne Rücksicht auf die Faust: Nichts wünschte ich mir sehnlicher in diesem endlosen Moment, aber ich konnte nur atmen und liegen, starr.
Mein Körper war ein Fleischgefängnis. Auch das Wort habe ich später gelernt von meiner Mutter. Es kommt auch aus der Kirche. Gefangen im Fleischgefängnis. Gelähmt durch diese Anwesenheit. Noch konnte ich sie nicht erkennen, nur spüren.
Versuchte ich zu schreien? Irgendwann schon. Es dauert. Man schreit nie gleich. Und wenn man es dann versucht, kommt nichts, es geht nicht. Doodstill. Kein Laut dringt aus dem Fleischgefängnis.
Nun fühle ich mich aufgefordert, Auskunft zu geben über meine Kindheit, aber gezögert habe ich damit lange, vielleicht auch, weil ich keine genauen Erinnerungen habe an exakte Daten und Orte, und ich hasse Ungenauigkeit.
Wann also diese Anwesenheit sich zum ersten Mal gezeigt hat mit Gesicht, vermag ich nicht zu sagen. Viele Male spürte ich sie, sie zeigte sich mir erst später. Und als sie es tat, kam es mir vor, als hätte ich sie schon immer gekannt und schon immer von ihr gewusst.
Eine alte Frau, die bei einem in der Ecke sitzt oder steht. Oder, in den Worten der vielfältigen Literatur darüber aus den vergangenen Jahrhunderten: ein altes Weib. In schwarzen Kleidern, bei denen ich den Übergang von Rock oder Kleid zu Umhang und Kopftuch nicht erkennen konnte im dunklen Zimmer.
Ein altes Weib, das von da an jede Nacht bei mir im Zimmer war, in der Ecke des Kinderzimmers des kleinen Schulmädchens, das ich war. Bis das alte Weib zu mir ans Bett kam.
Aber das war später.
Noch einmal möchte ich an dieser Stelle meine Enttäuschung über die Ungenauigkeit festhalten, niemand leidet darunter mehr als ich.
Das alte Weib also, in einem schwarzen, groben Kleid wie seit unsterblicher Zeit. Die Haare verborgen unter einem ebenso dunklen Kopftuch, eng gewickelt, das Antlitz im Dunkeln des Zimmers reduziert auf das Allernötigste: den Abhang des Kinns, den Vorsprung der Nase, die Fläche der Stirn ins Dunkel des Kopftuchs und von den Zügen des Gesichts nur Falten zum Erahnen. Lange Ärmel, Strumpfhosen wie aus Drillich.
Zu deutlich? Für etwas, von dem ihr sagt, das gibt es nicht?
Nun, ich fühlte die alte Frau mehr, als dass ich sie sah, später, als sie auf mir saß und mich niederdrückte in die Kissen und Decken mit den knochigen Fingern und der dem Tode geweihten Endkraft der wirklich Alten. Ihr Atmen, der roch wie die Dunkelheit der Welt selbst, wie etwas, das von innen stirbt. Und ich, das Kind, unter ihr, unfähig, mich zu rühren, mich zu wehren, ihr zu entkommen.
Kinder, heißt es immer, ich habe es später oft gelesen und gehört, Kinder sind robust, stärker als man denkt. Ihr Geheimnis ist, dass sie sich an alles gewöhnen.
Jede Nacht. Was sollte ich tun, als mich zu gewöhnen, wenn das alte Weib jede Nacht zu mir kam.
Nun wagte ich nicht mehr zu schlafen in meinem Bett und in der Nacht. Ich schlief in der Schule, im Sonnenlicht hinter dem Netzschuppen in Onkel Heinis Garten. Beim Abendessen weinte ich in Erwartung meines Bettes und des alten Weibes und der mir bevorstehenden Nacht im Fleischgefängnis. Tränen mochte meine Mutter nie, darum dann wieder die Faust. Bis ich ihr erzählte in der Sprache, die ich aus der Schule kannte und von den anderen Mädchen, die einander Freundinnen nannten: de sware Drööm. Albträume. Wie schlecht ich träumte, jede Nacht. Und von der alten Frau.
Meine Mutter umfing mich zärtlich, als wäre ich gerade zum zweiten oder in Wahrheit überhaupt zum ersten Mal geboren worden, endlich zur Welt gekommen.
Zu ihrer Welt.
Viel später habe ich eine undeutliche Vorstellung davon bekommen, wie andere Eltern reagiert hätten auf ein Kind meines Alters, das mit diesen Bildern zu ihm kam. Sie hätten gesagt: Es ist nur ein Traum. Du hast schlecht geträumt. Ein böser Traum. Aber jetzt ist alles wieder gut. Alles wird gut. Mama ist ja da. Papa ist ja da. Du hast nur geträumt, min Deern.
Die Worte aber, die meine Mutter an mich richtete, waren mir vertraut, bevor sie sie aussprach. Ja, während ich sie hörte, wurden sie ein Teil von mir, und kaum waren sie verklungen, fühlte ich mich, als wären sie ein Teil von mir. Wenn du Kind bist, besteht deine Welt aus den Worten und den Taten deiner Eltern.
Meine Mutter sagte: »Oh, du hast sie getroffen, du hast sie getroffen. Ich bin so froh, dass sie zu dir gekommen ist.« Sie nahm mich in den Arm, ohne Faust, dabei hätte ich, wie ich jetzt zugeben kann, so gern eine Leckmuschel gehabt. »Du hast eine alte Frau gesehen?«, fragte meine Mutter, als sollte ich eine Landschaft beschreiben, die sie auch schon bereist hatte, die ihr aber durch meine Beschreibung noch einmal lebendiger wurde, wie bei ihrem ersten Male. »Und was hast du noch gesehen?«