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Die Männer, die Fidel Castro für die Rebellion rekrutierte, stammten vor allem aus den Reihen eben dieser „Ortodoxos“. Sie waren, wie er, bereit, mit Waffen gegen die Diktatur vorzugehen. Es waren aber auch einige organisierte Studenten und Kommunisten unter den Männern, zu denen auch Fidel Castros jüngerer Bruder Raúl zählte. Im Gegensatz zu Fidel Castro war Raúl damals bereits ein überzeugter Kommunist mit internationalen Verbindungen. Für den Aufstand in Santiago de Cuba hatte man ihn im letzten Moment21 rekrutiert. Er gehörte zu der Gruppe, die den Justizpalast einnehmen sollte.
Der amateurhafte Versuch vom 26. Juli 1953, die Moncada-Kaserne zu erstürmen, glich einem Himmelfahrtskommando. Doch Fidel Castro sollte sich später vehement gegen die Anschuldigung wehren, mit dieser sinnlosen Aktion die Mehrzahl seiner Männer geopfert zu haben. Auf die Frage, ob der Angriff ein Fehlschlag war, antwortete er:
„Die Moncada-Kaserne hätte eingenommen werden können. Wenn wir sie eingenommen hätten, wäre es das Ende des Batista-Regimes gewesen, keine Diskussion. ... Wenn ich noch einmal einen Angriff auf die Moncada-Kaserne organisieren müsste, würde ich es wieder ganz genauso machen. Das, was dort schiefging, war einzig und allein auf unsere mangelnde Erfahrung im Kampf zurückzuführen. Die haben wir erst später erworben. Der Zufall spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle dabei, dass ein Plan, der in Bezug auf Konzeption, Organisation, Geheimhaltung und andere Faktoren außerordentlich gut war, nur aufgrund eines Details scheiterte, das wir sehr leicht hätten überwinden können.“22
Das „Detail“, an dem sie scheitern sollten, war die Patrouille, mit der sie nicht gerechnet hatten. Anstatt sie links liegen zu lassen, hatte Castro den Wagen an den Bordstein gefahren und war seinen Männern zu Hilfe geeilt. Deswegen hatte sich der Kampf vor der Kaserne abgespielt. Der Plan, die Soldaten im Schlaf, barfuß und in Unterwäsche, zu überraschen, konnte nicht mehr ausgeführt werden. Denn der ohrenbetäubende Lärm der Alarmsirenen und der Schüsse hatte sie geweckt. Zu Hunderten waren sie wie die Hornissen ausgeschwärmt.

Moncada-Kaserne, Eingang und Ecke, an der Fidel Castro auf die Patrouille traf. 26. Juli 1953. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
Auch Raúl Castro war mit seinen Männern zunächst die Flucht gelungen. Erst Tage später wurde er gefangengenommen. Zu seinem Glück war da die Gefahr von Tod und Folter schon deutlich geringer23.“ Es ist ein Geistlicher, dem die beiden Castro-Brüder und noch weitere Rebellen ihr Leben verdanken werden: Enrique Pérez Serantes, der Erzbischof von Santiago de Cuba, der als junger Priester den damals achtjährigen Fidel Castro getauft hatte. Zusammen mit einigen Honoratioren aus Havanna forderte er erfolgreich ein Ende der Gewalt - der Diktator ließ das Morden der Gefangenen durch die eigenmächtige Justiz seiner Soldaten einstellen.
Fidel Castro hatte sich zu der Zeit in den Bergen verschanzt. Er dachte nicht daran sich zu ergeben:
„Ich würde mich nicht ausliefern oder mich ergeben […]- Das hatte keinen Sinn, nicht weil ich getötet worden wäre, sondern weil der Gedanke an Kapitulation nicht in unser Konzept passte.“24
Am 1. August wurden Fidel Castro und zwei seiner ihm verbliebenen Männer in ihrem Versteck aus dem Schlaf gerissen. Auf ihre Brust waren Gewehrläufe gerichtet. Eine Militärpatrouille hatte sie aufgestöbert. In dem erbärmlichen Zustand, in dem Castro sich befand, erkannte keiner der Soldaten, wen er vor sich hatte. Instinktiv gab er vor, ein anderer zu sein. Dennoch hätten die Soldaten ihre Gefangenen in ihrer Wut am liebsten gleich gelyncht, wäre da nicht Oberstleutnant Pedro Manuel Sarría gewesen, der Anführer der Patrouille. „Nicht schießen“, befahl er seiner Truppe, und fuhr mit leiser Stimme fort: „Nicht schießen. Ideen tötet man nicht. Nicht schießen!.“25
Noch zweimal sollte der schwarze Oberstleutnant Fidel Castro an diesem Tag das Leben retten. Das zweite Mal, als er sich weigerte, dem zwar höher gestellten - doch als blutrünstiger Mörder verschrienen - Comandante Pérez Chaumont, seinen Gefangenen auszuliefern. Und ein drittes Mal als er entgegen aller Armeebefehle Fidel Castro nicht zur Moncada Kaserne brachte, sondern in das Stadtgefängnis von Santiago de Cuba. Fidel Castro hielt über seinen leibhaftigen Schutzengel später fest: „Wenn er mich zur Moncada gebracht hätte, hätten sie Hackfleisch aus mir gemacht und kein Stück von mir übrig gelassen.“26
Dennoch machte er sich keinerlei Illusionen über seine Situation: „Ich traute ihnen in jedem beliebigen Moment jede Grausamkeit zu.“27
Kapitel 4
Die Geschichte wird mich freisprechen
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Am 21. September 1953 begann der Prozess im Justizpalast von Santiago de Cuba. Vor knapp zwei Monaten war er noch von den Rebellen besetzt gewesen.

Justizpalast, Santiago de Cuba. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
Fidel Castro ergriff bereits bei der Beweisaufnahme das Wort und pochte als Anwalt auf sein Recht zur Selbstverteidigung. Was weder Batista noch seine Polizeispitzel so recht glauben mochten, bekräftigte er wagemutig und ohne Furcht vor Konsequenzen: Er und seine Gruppe hatten alleine gehandelt. Geld, Waffen, Munition, die Uniformen, Autos, alles hatten sie sich selbst beschafft. Auch den Ort, Santiago de Cuba, hatten sie bewusst gewählt: Gut 900 Kilometer von der Hauptstadt Havanna entfernt, wähnten sie sich weit genug entfernt von Batistas Truppen und spekulierten zudem auf die Trunkenheit der Soldaten während des Karnevals.

Fahndungsfoto Fidel Castros von 1953. Interessant ist ein Detail rechts am Bildrand: Das Geburtsdatum wurde nachträglich von 1927 auf 1926 ausgebessert. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
„Die Regierung sagt, dass der Angriff mit solcher Präzision und Perfektion durchgeführt wurde, dass dies die Anwesenheit von Militärexperten bei der Erarbeitung des Plans beweise. Nichts könnte absurder sein! Der Plan wurde von einer Gruppe junger Leute entworfen, von denen niemand militärische Erfahrung hatte.“28
Was allerdings dann geschah, hätten die Machthaber am liebsten hermetisch abgeriegelt hinter den dicken Mauern des Justizpalastes gelassen. Doch zum Auftakt des Prozesses waren Zivilisten, Soldaten und Vertreter der Presse zugelassen. Journalisten unterstanden zwar der Zensur, aber längst hatten sie gelernt, wie auch leise geflüsterte Enthüllungen glaubwürdig ihre Empfänger erreichen konnten.

Fidel Castro während des Verhörs nach dem Angriff auf die Moncada-Kaserne 1953. Bildquelle: AKG
Mit seinem Auftritt verwandelte Fidel Castro die Anklagebank in eine Bühne für sich. Auf die gegen ihn vorgebrachten Anklagepunkte ging er erst gar nicht ein. Stattdessen klagte er an: „Als Anwalt befragte ich alle Zeugen und alle Mörder. Das war Wahnsinn. Sie konnten es nicht ertragen […] ich habe alles angeklagt.“29
Seine Richter waren dem wortgewaltigen Juristen nicht gewachsen. Bereits mit den ersten Worten riss er das Verfahren an sich.
„Meine Herren Richter,
nie hat ein Verteidiger sein Amt unter derart schwierigen Bedingungen ausüben müssen: niemals hat ein Angeklagter sich einer solchen Menge quälender Ordnungswidrigkeiten ausgesetzt gesehen. […] Als Anwalt hat diese Person nicht einmal die Prozessakten einsehen dürfen, als Angeklagter war sie bis zum heutigen Datum unter Umgehung aller Gebote der Rechtsordnung und der Humanität 76 Tage in einer Einzelzelle ohne jegliche Verbindung zur Außenwelt eingesperrt […]“30
Die Folter und die Ermordung der Gefangenen brachte er zur Anklage, ersparte den Zuschauern und Richtern keines der grausigen Details. Und trotz der traumatischen Umstände ihres Todes, beklagte er seine Kampfgefährten nicht als Opfer des Batista-Systems, sondern erklärte sie zu Märtyrern, denen er Standhaftigkeit, Todesmut und Mannhaftigkeit bescheinigte: „Selbst als man ihnen ihre männlichen Organe genommen hatte, waren sie noch tausendmal mehr Mann als alle ihre Folterknechte zusammen.“31
Die anwesenden Soldaten fest im Blick, forderte er eine gemeinsame, sinnstiftende Verpflichtung zum Kampf – als das Vermächtnis der ermordeten Kameraden. Die moralische Schwäche des Systems anprangernd, reklamierte er das Recht auf Widerstand gegen eine unrechtmäßige Regierung, die „anstelle von Fortschritt und Ordnung den Staat barbarisch und mit brutaler Gewalt“32 regiere.
„Zunächst einmal ist die Diktatur, die die Nation unterdrückt, keine verfassungsmäßige, sondern eine verfassungswidrige Macht; sie wurde gegen die Verfassung, über die Verfassung hinweg eingeführt, sie ist eine Vergewaltigung der legitimen Verfassung der Republik. Eine legitime Verfassung ist die, die direkt vom souveränen Volk ausgeht.“33
Er lieferte eine gnadenlose Analyse der Missstände, wies auf die Situation der verarmten Bevölkerung hin und zeichnete ein genaues Bild der krassen Gegensätze zwischen dem Heer der Arbeitslosen, dem Elend der verarmten Bauern und dem Prunk und der Verschwendungssucht der Reichen. Unverhohlen forderte er in seinem Plädoyer die Rückkehr zur Demokratie und die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1940.
Als geistigen Urheber des Angriffs vom 26. Juli 1953 nannte er den Nationalhelden José Martí, den „Meister“, dessen Worte er verinnerlicht hatte. Zudem berief er sich auf politische Denker und Geistesgrößen wie Martin Luther, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und John Milton, in deren Tradition er sich sah. Seinen Kampf für Freiheit stellte er in den Kontext der englischen „Glorious Revolution“ von 1688, der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und der französischen Revolution von 1789. Bemerkenswert ist, dass ihm während der Haft kein einziges Nachschlagewerk zur Verfügung gestellt wurde. Es zeigte sich die Brillanz eines Kopfes, der in seiner Verteidigungsrede ganze Passagen aus philosophischen Werken und Gesetzestexten auswendig zitieren konnte. Damit hatte er schon seine Lehrer in der Schule verblüfft – Fidel Castro verfügt über ein nahezu perfektes visuelles Gedächtnis.
„Ich trage die Lehren des Meisters im Herzen, und im Kopf die edlen Gedanken aller Menschen, die die Freiheit der Völker verteidigt haben.“34
Sein Schlussplädoyer unterstrich die historische Bedeutung seiner Person und des Handelns der Rebellen: „Es bleibt dem Gericht noch das größte Problem zu lösen: die Straftat der siebzig Morde, das heißt des größten Massakers, das uns bekannt geworden ist. Die Schuldigen befinden sich auf freiem Fuß, bewaffnet, und stellen eine dauerhafte Bedrohung für das Leben unserer Bürger dar, wenn auf sie nicht das gesamte Gewicht des Gesetzes fällt, […] ich beklage den beispiellosen Makel, der auf unsere Rechtsprechung fallen wird! Was mich selbst anbelangt, so weiß ich, dass das Gefängnis hart sein wird wie nie zuvor für einen Menschen, verschärft von Drohungen, voll niederträchtiger und feiger Wut, aber ich fürchte es nicht, ebenso wenig wie ich die Wut des elenden Tyrannen fürchte, der siebzig meiner Brüder das Leben raubte. Verurteilt mich, es bedeutet nichts, die Geschichte wird mich freisprechen.“35
Er hatte diese über zweistündige Rede frei gehalten36. Erst später wurde sie rekonstruiert und in einer Streichholzschachtel aus dem Gefängnis geschmuggelt, um sie in einer Auflage von vermutlich 10.000 Stück heimlich unter das Volk zu bringen. Seine Verteidigungsrede wurde die Gründungsurkunde der kubanischen Revolution.
Mochte der Angriff auf die Moncada Kaserne militärisch eine Niederlage gewesen sein, politisch wurde er zu einem Fanal, zu einem richtungsweisenden Zeichen. Alle waren mitgerissen von der Rede Fidel Castros, die Richter schwiegen betroffen. Die Brillanz der Rede und seine gebieterische Anklage appellierten an ihre Ehre, an die Pflicht eines jeden Kubaners, sich selbst treu zu bleiben.
Das Urteil lautete: 15 Jahre Haft für Fidel Castro, 13 Jahre für seinen Bruder Raúl und die übrigen Gefährten, sieben Monate für die beiden Frauen. Alle wurden auf die Gefängnisinsel Isla de Pinos, die Pinieninsel, die heutige Isla de la Juventud, südlich von Havanna gebracht.

Noch heute sind die Einschusslöcher vom 26. Juli 1953 an der Außenfassade der Moncada gut sichtbar. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
Wer war dieser Mann, der es wagte, noch im Angesicht möglicher Folter und Todesstrafe einen Diktator derart herauszufordern und zu diskreditieren? Woher kam dieser begnadete Redner Fidel Castro?
Kapitel 5
Der Sohn der Köchin
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Fidel Alejandro Castro Ruz wurde am 13. August des Jahres 1926 geboren – oder war es 1927?37 In Nachschlagewerken steht 1927, Castro behauptet 1926, schließlich ist die 26 für ihn symbolträchtig.
„Ich bin 1926 geboren. Ich war 26 Jahre alt, als ich den bewaffneten Kampf aufnahm. Und ich bin an einem 13. geboren. Das ist die Hälfte von 26.“38
Auch der Sturm auf die Moncada-Kaserne sollte an einem 26. stattfinden, dem 26. Juli 1953. Und die Rebellen mieteten 26 Limousinen, mit denen sie die Moncada-Kaserne stürmen wollten.
Fidel Castros Vater, Ángel Castro y Argiz, war spanischer Abstammung. Er wurde 1875 in Galizien geboren, damals eine der ärmsten Regionen der Iberischen Halbinsel.

Fidel und Raúl Castros Vater, Ángel Castro y Argiz als junger Mann. Foto aus Biran, Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
Als Sohn armer Bauern war er schon im Alter von sechzehn oder siebzehn Jahren zum Militärdienst eingezogen worden39. Als 1895 der zweite kubanische Unabhängigkeitskrieg ausbrach und Spanien um den Erhalt seiner letzten kolonialen Besitzungen kämpfte, wurde Ángel Castro nach Kuba geschickt. Er war einer von vielen hunderttausend Soldaten, die gegen vierzigtausend kubanische Rebellen zu kämpfen hatten. Es war der Krieg, in dem José Martí – ewiges Vorbild Fidel Castros – an einem der ersten Kriegstage im Kampf gegen die Spanier gefallen war.
1898 war der Sieg für die Kubaner bereits zum Greifen nah, als in Havanna das US-Schlachtschiff Maine explodierte: 266 Mann starben. Die Nordamerikaner hatten es nach Kuba entsandt, mit dem Vorwand, US-Bürger zu beschützen. Die Amerikaner gaben den Spaniern die Schuld, die Spanier behaupteten, es sei ein Unfall gewesen. Die wahre Ursache ließ sich nie aufklären. Jedoch war der Untergang der Maine der Anlass für die militärische Intervention der USA. Der hochgerüsteten, modernen Flotte und den Landstreitkräften der Amerikaner hatten die Spanier nichts entgegen zu setzen.

Winslow Homer (1886-1910), Gemälde 1901, Öl auf Leinwand. Metropolitan Museum New York. Schlacht von Santiago de Cuba 1898. Suchscheinwerfer am Castillo de San Pedro de la Roca, genannt El Morro, während des zweiten kubanischen Unabhängigkeitskrieges 1898. Homer hielt in seinem Bild die Blockade der spanischen Flotte mittels eines elektrisch betriebenen Suchscheinwerfers fest, um damit die Überlegenheit der technisch modern ausgerüsteten Amerikaner gegenüber den Spaniern zu demonstrieren. Bildquelle: Elke Bader
Es war der spätere US-Präsident Theodore Roosevelt, der in einer Kavallerieattacke seiner Rough Riders40, seiner „rauen Reiter“, auf den Hügel von San Juan bei Santiago de Cuba die Wende des Krieges zu Gunsten der Amerikaner entschied.

Charles Schreyvogel (1861-1912), My Bunkie, 1899, Öl auf Leinwand. Metropolitan Museum New York. Das Gemälde ist eine Hommage an Theodore Roosevelts Rough Riders, die im Juli 1898 in der Schlacht von Santiago de Cuba auf dem Hügel San Juan die entscheidende Wendung im Spanisch-Amerikanischen Krieg herbeiführten. Bildquelle: Elke Bader
1899 zogen die Spanier ab. Doch nicht die kubanische Flagge wehte von nun an über Kuba, sondern das US-amerikanische Sternenbanner. Künftig unterstanden die Kubaner wirtschaftlich, politisch und militärisch den USA41. Damals wurde auch Guantánamo, jener berüchtigte Militärstützpunkt der US Navy, errichtet. Auf dem über einhundert Quadratkilometer großen Gebiet, das die USA sich bis heute, in einer Art Coup völkerrechtswidrig angeeignet haben42, wird auch jenes umstrittene Gefangenenlager aufrecht erhalten, das Präsident Obama bei seinem Amtsantritt 2009 eigentlich hatte schließen wollen.
Das Problem bis heute ist nur, dass weder die USA noch andere Länder Bereitschaft zeigten, aufgrund des Sicherheitsrisikos auch die schwierigen Fälle bei sich aufzunehmen.43
Mit den geschlagenen Spaniern musste damals auch Ángel Castro zurückkehren in seine Heimat, wo ihn außer Elend nichts erwartete. Darum wollte er, wie viele seiner Kameraden, zurück nach Kuba. Auch wenn Kuba durch den Krieg schwer gelitten hatte, die Toten in die Tausende gingen und große Landstriche der Insel verwüstet und abgebrannt waren: Diese grüne Antilleninsel mit ihrer Wärme, ihrer Lebensfreude, den tropischen Wäldern, dem türkisfarbenen Meer war allemal verlockender als das windumtoste, feuchtkalte Galicien mit seiner rauen Landschaft und den verfallenden Dörfern. Auf Kuba sprossen riesige amerikanische Plantagen wie Pilze aus dem Boden. Die Insel versprach eine einträgliche Zukunft, Spanien dagegen hatte ihm keine zu bieten. Darum kehrte der Kavallerie-Quartiermeister a.D. zurück nach Havanna, sobald er als Tagelöhner das Geld für die teure Seereise zusammengekratzt hatte.
Der Analphabet Ángel Castro, der sich später Lesen und Schreiben selbst beibrachte, war ein Mann von starker Willenskraft, Disziplin, „enormem Tatendrang und er war ein geborenes Organisationstalent“44, wie sein Sohn Fidel ihn später beschrieb. Den Verlockungen Havannas widerstand er bald und zog weiter in Kubas wilden Osten, die Provinz Oriente. Sie galt als rückständig, aber nun legten U.S.-amerikanische Investoren riesige Plantagen an und holzten ganze Regenwälder ab, um das Tropenholz als Brennstoff in ihren Zuckerfabriken zu verheizen. Bald fand er Arbeit, erst in einer Nickelmine, dann bei der berüchtigten United Fruit Company – heute besser bekannt unter dem Namen „Chiquita“ - jenem Bostoner Riesenkonzern, der sich wie eine Krake über Lateinamerika ausdehnte und ganze Landstriche rodete, um Zuckerraffinerien, Eisenbahnstrecken und Straßen zu bauen. Erfüllungsgehilfe der multinationalen Interessen war der U.S.-amerikanische Staat45. Noch heute rumpeln, quietschen und pfeifen Dampfeisenbahnen quer durch das Land. Vor allem in der Zeit der Zuckerrohrernte, zwischen Januar und Juni, haben diese von Technikern sorgfältig gewarteten stählernen Veteranen Hochbetrieb.

Eine der Dampfeisenbahnen, die für die Zuckerrohrernte eingesetzt wurde. Heute ein Museumsstück in Havanna. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
Ángel Castro arbeitete hart. Die politischen Hintergründe tangierten ihn wenig. Er musste Geld verdienen. Neben seiner Arbeit als Angestellter der Eisenbahngesellschaft, die zur United Fruit Company gehörte, verkaufte er als fliegender Händler Getränke und unterhielt einen kleinen Laden. Schließlich hatte er so viel Geld gespart, dass er von seinem Arbeitgeber ein kleines Stück Wald kaufen konnte. Wald und Gestrüpp rodete er eigenhändig und baute seine Farm auf, die „Hacienda Mañacas“. Nach und nach pachtete und erwarb er mehr Land, bis die Farm schließlich auf stolze 800 Hektar eigenes und 10.000 Hektar gepachtetes Land angewachsen war, für die er zur Erntezeit des Zuckerrohrs bis zu 1000 Landarbeiter aus der Region beschäftigte46. „Endlos und eintönig“47 erstreckten sich die Zuckerrohrfelder über den Horizont hinaus.
Die Farm lag in der Nähe des Dorfes Birán, dreißig Kilometer landeinwärts von der nördlichen Küste Kubas, hundert Kilometer entfernt von Santiago de Cuba.

Das Elternhaus der Castros in Birán. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
Das Wohnhaus war auf für Galicien typischen, hohen Holzpfählen errichtet worden. Unter ihm tummelten sich Kühe, Hühner, Schafe, Enten und Truthähne.
„Ich wurde auf einem Gutshof geboren. Im nördlichen Zentrum der alten Provinz Oriente, nicht weit entfernt von der Nipe-Bucht, nahe der Zuckerfabrik von Marcané. Der Ort hieß Birán. Es war kein Dorf, nicht einmal ein kleines Dorf, nur ein paar vereinzelte Häuser standen dort. Das Haus meiner Familie lag am Rand des alten Camino Real. So nannten sie den Pfad aus Schlamm und Erde, der vom Hauptort der Gemeinde in den Süden führte“48, erinnert sich Fidel Castro.

Das Wohnzimmer der Castros in Birán. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
In unmittelbarer Nähe des Wohnhauses entstand auch eine Poststation, ein Laden, eine Molkerei, ein Schlachthof, eine Bäckerei, ja sogar ein Hahnenkampfplatz. Dies alles gehörte Ángel Castro. Er hatte es zu beachtlichem Reichtum gebracht.

Der Hahnenkampfplatz der Familie Castro in Birán. Fidel Castro verbot später Hahnenkämpfe. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader

Die Castros besitzen eine eigene Begräbnisstätte in Birán. In der Mitte sind die Urnen der Eltern, links Ángel Castro Ruz, rechts Lina Ruz González, beigesetzt, im Hintergrund, die der Großeltern und Geschwister. Wer noch nicht verstorben ist, hat dennoch bereits seinen Platz. Für Raúl und Fidel Castro jedoch ist im Familiengrab kein Platz vorgesehen. Bildquelle: Christa Schmalzried, Elke Bader
„Wenn Sie alles zusammennehmen, die eigenen und die gepachteten Flächen, dann hatte mein Vater nicht weniger als 11000 Hektar Land. ..... Ich gehörte unter diesen Umständen zu einer Familie, die mehr als nur leicht vermögend war. Sie war nach damaligen Maßstäben ziemlich reich.“49
Ángel Castro herrschte wie ein Häuptling über seine Angestellten. Der kräftige und baumlange Mann war die unumstößliche Autorität des Hauses, ein stattlicher galicischer Patron. Fidel Castro erbte nicht nur seine Statur, sondern auch seinen Jähzorn, seine gefürchteten Wutanfälle und seine Reizbarkeit. Doch auch dessen zähe Willenskraft, seine Durchsetzungsfähigkeit und Unbeirrbarkeit. 1911 hatte der Patron die einundzwanzigjährige kubanische Grundschullehrerin María Luisa Argota Reyes geheiratet und fünf Kinder mit ihr gezeugt. Nur zwei davon überlebten, Pedro Emilio und Lidia.
Eine Schwachstelle in Ángel Castros Gefühlsleben war wohl seine Vorliebe für jenes junge, schöne Mädchen, das eines Tages für eine Arbeitsstelle auf der Finca anheuerte. Sie war mit ihrer Familie vor einigen Jahren aus dem Westen Kubas gekommen, aus der Provinz Pinar del Río, in der Hoffnung, das Leben ließe sich im Osten leichter bewerkstelligen.