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Doch als sie zur Tür kam, wollte Kumi nur wissen, wo der Karton mit den Urkunden und Kontoauszügen war. Wo ist der Karton?
Im Hausflur stand eine große Obstschale, in der Kumis verlegte Besitztümer gesammelt wurden: Lesebrille, Armbanduhr, ihr Notfallarmband, eine im Kühlschrank verlegte Haarbürste. Heute war die Schale leer. Kumi hatte einen guten Tag.
Auf dem Karton war noch das rote Klebeband, redete Kumi weiter, machte die Haustür zu und lief ihrer Tochter hinterher ins Haus. Die ganze Dachkammer habe ich in der letzten halben Stunde durchsucht.
Vor einigen Jahren hatte Kumi eines Morgens vor dem Spiegel gestanden und ihr eigenes Gesicht nicht erkannt. Die Diagnose kam schnell: Alzheimer, zweites Stadium. Nachdem sie im April einen Toaster in Brand gesetzt hatte, ließ sie sich endlich überreden, ihr Apartment aufzugeben und bei Grace einzuziehen. In der Dachkammer wurden Kumis alte Kartons aufbewahrt – Milchkisten vollgestopft mit Fotoalben, Überseekoffer mit Aktenordnern, Sachen, die jahrzehntelang aufgehoben und nicht berührt worden waren. Die Mutter hatte die Berge bestimmt nur kurz überblickt und war, als sie das Auto in der Auffahrt hörte, mit streitbar auf die Hüften gepressten Händen nach unten gekommen.
Der Karton muss da oben sein, sagte Grace, bückte sich und hob ein Paar Straßenschuhe von Steve auf, die auf dem Teppich herumlagen.
Und weißt du, was deine Töchter die ganze Zeit getrieben haben? Kumi verfolgte Grace auf Schritt und Tritt. Videospiele!
Die Mädchen saßen auf dem Fußboden, einen knappen Meter vor dem Flachbildschirm an der Wand. Sie starrten nach oben wie Bittsteller zum Altar. Auf dem Bildschirm raste ein zweidimensionaler Mann wild durch die Straßen von New York, während ein Polizist mit der Pistole auf seine Autoreifen zielte. Die Mädchen umklammerten ihre Gamecontroller und trommelten mit den Daumen auf den Knöpfen herum.
Meg riss die linke Schulter hoch. Nein, nein, nein!, kreischte sie. Idiot!
Der Polizist rammte rückwärts in eine Backsteinmauer und flog mitsamt Auto in einem roten Feuerball durch die Luft.
Oh! Brianne schnippte mit dem Zeigefinger in Richtung Bildschirm. Dich hat’s ewischt!
Grace klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Küchentresen. Und das habt ihr beiden den ganzen Tag so getrieben?
Meg antwortete mit einem lässigen Wedeln der Finger. Brianne schnaubte nur. Sie wandten sich nicht um.
Grace sah die Pferdeschwänze der beiden Mädchen und ihre dünnen Halswirbel, die sich wie zwei knubbelig nach unten laufende Linien auf ihren Rücken abzeichneten. Sie hängte ihre Kostümjacke über einen Stuhl. Kommt her und helft mir beim Abendessen, sagte sie.
Brianne beugte sich nach vorn und zog mit dem linken Daumen am Joystick. Nachher, sagte sie.
Was entweder bedeutete: wenn wir mit dem Spiel hier fertig sind, oder: fünf Minuten nach überhaupt nicht.
Die haben nichts Besseres zu tun? Kumi schwirrte wie eine lästige Fliege um Grace herum.
Auf dem Tresen in der Mitte der Küche lag eine Box mit süßem Knabberzeug, daneben eine leere Milchpackung mit offenem Ausguss.
Morgen kommt die Reinigungskraft, rief Grace in Richtung Fernseher, habt ihr euer Zimmer aufgeräumt?
JA!, kreischte Meg.
Toll, sagte Brianne.
Grace schnürte sich eine Schürze um und wischte den Tresen ab. Sie war sich nicht sicher, ob diese beiden Reaktionen die Antwort auf ihre Frage waren.
Kinder brauchen Grenzen, sagte Kumi. Und Verantwortung. Du musst ihnen eine nützliche …
Wozu brauchst du diese alten Kisten?, fragte Grace und machte dabei den Kühlschrank auf.
Die Hauptbücher und die Kontobücher, sagte Kumi. Ich will wissen, wie viel das Geschäft wert war.
Grace wühlte im Gemüsefach. Welches Geschäft?
Was meinst du, welches Geschäft? Das Familiengeschäft! Das Geschäft deiner Großeltern!
Graces Großeltern hatten vor dem Krieg einen Waschsalon gehabt. Als Kind hatte Grace Klavierunterricht von einer Frau in Gastown bekommen. Jedes Mal wenn sie die Powell Street entlangfuhren, hatte Kumi auf ein nichtssagendes Gebäude gezeigt und gesagt: Das hat uns gehört, ehe die Regierung es uns gestohlen hat. Und Aiko, Graces Großmutter, widersprach ihr mit sanfter Stimme: Nein, nein. Wie viel Gutes dieses Land doch für uns getan hat.
Grace hockte vor dem Kühlschrank und sah zu ihrer Mutter hoch, die hinter der Tür halb verdeckt war. Mal ganz langsam, sagte sie. Das Geschäft gibt es nicht mehr, Mom. Schon lange nicht mehr.
Ja, ja, sagte Kumi. Aber die Kontobücher. Die haben wir noch.
Wirklich?
Na klar, sagte Kumi. Dicke Bücher, in denen jede Transaktion verzeichnet ist. Wir hatten immer gute Kunden, und auch nicht nur Japaner. Sie sprach und lief dabei hin und her, und Grace musste in dieser kleinen Küche um sie herumtanzen, um zum Spülbecken zu kommen. Denk doch mal, wie viel das Geschäft wert wäre, wenn wir es heute verkaufen würden, sagte Kumi und legte den Zeigefinger auf den Daumen. Und der Wert des Grundstücks! Das Land hat uns gehört! Wir haben doch den Grundbuchauszug und können das beweisen.
Mom. Grace legte ihrer Mutter die Hände auf die Schultern. Pass auf.
Es war für Kumi nicht ungefährlich, gleichzeitig zu laufen und zu reden. Wenn sie sich über etwas aufregte, vergaß sie oft alle Vorsicht.
Kumi verzog das Gesicht, aber sie blieb stehen. Sie hielt sich am Tresen fest und sagte: Zufrieden?
Danke. Grace ging zur Spüle. Sie fragte sich, woher denn dieses plötzliche Interesse gekommen war. Ihre Großmutter hatte, als sie noch am Leben war, nie über den Krieg gesprochen, auch nicht über ihr Leben davor. Auch ihre Mutter hatte, außer ein paar gelegentlichen Nörgeleien an der Powell Street, nie davon gesprochen.
Grace werkelte unter dem fließenden Wasser und sagte laut: Du machst dir unnötig Gedanken. Das Land gehört jetzt jemand anderem.
An der Powell Street standen jetzt Kleinbrauereien und Kaffeeröstereien, moderne Apartments und bezahlbare Sozialwohnungen. Keine Spur mehr von der japanischen Gemeinde, die einst hier geblüht hatte.
Es geht ums Prinzip, sagte Kumi.
Der Fernseher ging aus und die Mädchen kamen hereingepoltert. Grace wies auf den Geschirrspüler und sagte: Bitte ausräumen. Zu ihrer Mutter sagte sie: Lass das mal. Das bringt nichts.
War es Langeweile?, überlegte sie. Der Alzheimer hatte Kumi alle ihre Lieblingsbeschäftigungen gestohlen – Kreuzworträtsel, Sudoku, Stricken –, und wenn sie las, konnte sie nur noch den anspruchslosen Plots in mittelmäßigen Romanen folgen.
Meg riss den Geschirrspüler auf, der sich mit einer wuchtigen Heißluftwolke entlud. Die Zwillinge waren schon immer sehr klein gewesen, kaum sechs Pfund bei der Geburt, und in der Grundschule immer die Kleinsten. Aber in den letzten sechs Monaten hatten sie sich gestreckt. Sie waren jetzt groß und langgliedrig und hatten ihre zusätzlichen fünfzehn Zentimeter noch nicht richtig unter Kontrolle. Sie schritten aufreizend langsam zwischen Geschirrspüler und Küchenschränken hin und her, immer nur mit einem Teller, und leerten die beiden Spülkörbe so umständlich wie nur möglich.
Wie war euer Tag heute?, fragte Grace.
Schön.
Habt ihr irgendwas gemacht? Und nicht nur vor dem Fernseher gehockt?
Wir waren draußen, sagte Brianne.
Wo wart ihr?
Weiß nich’, sagte Brianne. Im Park. Um den Block rum. Einfach rausgegangen.
Habt ihr heute nichts anderes gemacht?
Nichts, sagte Megan.
Die Unterhaltung versandete und Grace wünschte, sie hätte die Mädchen einfach bei ihren Videospielen gelassen. Das war ihre Rache dafür, dass sie sie gezwungen hatte, ihr zu helfen.
Steht mal gerade, sagte Grace.
Die Mädchen beugten sich immer nach vorn. Über den Computer, über das Videospiel, über ihre eigene Brust, als wollten sie sie schützen.
Wollt ihr denn aussehen wie zwei bucklige Hexen?, fragte Grace.
Die Mädchen machten noch größere Buckel und alberten der Mutter erst recht was vor. Sie schlugen mit den Armen um sich, gingen tierisch grunzend aufeinander los, sprangen mit wild ausschlagenden Beinen in der kleinen Küche herum.
Schluss jetzt mit diesem Unsinn!, schnauzte Grace sie an. Oder wir kriegen nie was zu essen.
Is’ mir doch egal. Meg richtete sich auf und warf ihr Haar zurück.
Brianne knallte die Schranktür zu, Grace zuckte erschrocken zusammen.
Kumi war aus der kleinen Küche verjagt worden und lief jetzt mit großen Schritten am Esstisch auf und ab, wobei sie mit einer Hand über die Stuhllehnen fuhr.
Alles wurde im Stillen gemacht, sagte Kumi. Die meinten, sie würden uns schützen.
Können wir uns später darüber unterhalten?, fragte Grace.
Kumi hielt mitten im Schritt inne. Später? Es gibt kein Später. Jetzt ist es Zeit aufzurechnen, was die uns angetan haben.
Bei den Worten was die uns angetan haben zuckte Grace erneut zusammen.
Denk doch an Obaachan, sagte Grace. Der Gedanke an die Großmutter würde hier vielleicht helfen. Die hätte das nicht gewollt.
Die haben uns alles weggenommen. Unsere Häuser, unsere Arbeit, unsere Würde. Kumi zog einen Stuhl heran und setzte sich mit hängenden Schultern seitlich darauf. Unsere Kindheit.
Wer hat alles weggenommen?, fragte Meg.
Ganz richtig. Ihr Mädchen solltet euch auch daran beteiligen.
Ich denke nicht …
Woran beteiligen?, fragte Brianne und machte den Geschirrspüler zu.
Kommt, Mädchen, sagte Kumi. Ihr könnt mir in der Dachkammer helfen.
NEBENVORSTELLUNG
Priya und Gigovaz wurden an der Rezeption der Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von einer jungen Frau begrüßt. Das war Charlika Jones, die Dolmetscherin vom Tamilischen Bund, die sie vor einer Woche in Esquimalt kennengelernt hatten. Sie trug schulterlanges Haar und ein goldenes Nasenpiercing. Mollig kompakt und geradeheraus in ihrer Art, sagte sie ihnen sofort, dass sie sie Charlie nennen sollten, sie habe den Namen ihres Ex behalten. Zu mehr hätte er nicht getaugt.
Priya schätzte, dass sie ungefähr gleichaltrig waren. Charlie sprach sowohl fließend Kanadisch als auch authentisch Tamil. Sie gehörte zu der Generation der dritten Kultur, die ihre Identität problemlos wechseln konnte wie ein Paar Schuhe. Wenn Charlie nach Sri Lanka fährt, dachte Priya, reden die Leute sie nicht auf Englisch an, wie sie das bei mir tun.
Die Lobby dieses Regierungsgebäudes war eine extravagante Art-déco-Show mit geschliffenen Glastüren, Marmorwänden und mehrfarbigen Terrazzo-Fliesen mit Sonnenmotiv. Das war die Art von Bauwerk, bei dem das Budget zugunsten des ersten Eindrucks weit überzogen worden war. Die Räume, in denen die Haftüberprüfungen abgehalten wurden, waren garantiert schmucklos und bedrückend.
Es war viertel vor zehn, und ihre Klienten sollten zu ihrem ersten Termin erscheinen. Der Tamilische Bund hatte Gigovaz in Esquimalt neun Namen gegeben: fünf Erwachsene und vier angehörige Minderjährige. Neun willkürlich ihnen zugeordnete Menschen. Neun von 503 Asylsuchenden, die das Pech hatten, in ein Land zu kommen, das gerade schlecht gelaunt war. Priya hatte beim Frühstück die Nachrichten gehört. Kanada ist ein souveräner Staat, hatte Minister Blair gesagt. Wir werden unsere Grenzen vor Gangstern und ausländischen Kriminellen schützen, und vor denen, die es darauf abgesehen haben, unsere Großzügigkeit zu missbrauchen.
Sie warteten auf den Bus des Justizvollzugs, der mit ihren Mandanten auf dem Weg hierher war. Gigovaz hielt sich seine Zeitung, die Globe and Mail, vors Gesicht, Charlie hatte sich einen Einwegbecher mit Kaffee geholt. Priya hatte nichts zur Hand und versuchte krampfhaft, beim unumgänglichen Small Talk die Finger stillzuhalten.
Schönes Wochenende gehabt?, sagte sie.
Wir hatten am Samstag unsere Jahresvollversammlung. Charlie verdrehte die Augen. Ein Haufen Sri-Lanker, die fünf Stunden lang hin und her quatschen mussten. Aber danach haben wir anständig einen gehoben.
Arbeitest du in Vollzeit für den Tamilischen Bund?
Nein, nein, ich bin freischaffend. Für die mache ich Jobs, wenn sie mich brauchen, manchmal für Geld, meistens ohne. Meine Kosten bestreite ich mit meiner ASL-Arbeit.
Zeichensprache?
Du weißt doch, Simultandolmetscher auf Konferenzen? Charlie nickte stolz, was heißen sollte: Ja, das bin ich! Dann fügte sie hinzu: Der Tamilische Bund ist ein guter Verein. Du solltest mal zu den Partys kommen.
Priya zögerte ein wenig. Vielleicht. Im Augenblick hält mich die Arbeit hier auf Trab.
In Priyas Familie herrschte das unausgesprochene Gebot, geselligen Umgang mit anderen Sri-Lankern zu vermeiden. Als Priya einmal beiläufig den Tamilischen Studentenverein erwähnte, sagte ihr Vater: Lass dich bloß nicht auf das alles ein.
Auf was alles?, fragte sie.
Politik, sagte er düster. Wir sind jetzt hier. Halte dich da raus.
Wenn die Familie ab und zu mal den Tempel besuchte, dann gingen sie nach der Puja sofort weg, blieben nie bis zum Potluck. Priyas Mutter meinte, die Sri-Lanker seien ein engstirniges Volk. Alles ist bei denen gleich Konkurrenz, regte sich Ma immer wieder auf. Welcher Ehemann macht mehr Geld, meiner oder deiner? Welcher Sohn ist Doktor, meiner oder deiner? Und wenn du happy bist – was geht mich das an.
Ihre Eltern hatten sich stattdessen mit anderen Einwanderern befreundet – mit den Nowaks, den Dhaliwals und den Wangs nebenan. Und bei Priya hatte das ein vages Misstrauen gegen andere Sri- Lanker hinterlassen. Jahrelang hatten sie extra dafür bezahlt, ihre Privatnummer aus dem Telefonbuch herauszuhalten. Die mysteriöse Erklärung ihres Vaters war: Ich will keinen Ärger.
Priya und Charlie hielten den Haupteingang im Auge, wo eine Sicherheitsbeamtin Ausweise prüfte und die Taschen durchwühlte. Sie sah ein bekanntes Gesicht, einen Reporter von einem lokalen Nachrichtensender. Er war kleiner als sie.
Charlie war ungehalten: Die Skandalpresse, die darf rein, und wenn ein wohltätiger Bürgerverein kommt, der keinen Profit daraus schlägt, der darf ihnen nicht in die Karten gucken.
Die Haftüberprüfungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Charlie musste in der Lobby warten, als Priya und Gigovaz ihre Mandanten, einen nach dem andern, hereinholten. Für die Anhörungen hatten sie einen anderen Dolmetscher, einen neutralen Dritten, der von der Einwanderungsbehörde eingesetzt worden war.
Ist das normal?, fragte Charlie. Dass man Flüchtlinge festnimmt?
Priya erwartete, dass Gigovaz diese Frage beantworten würde. Das war sein Ressort; sie selber war ja nur sein Trabant. Aber er sagte nichts. Er gab vor, nichts gehört zu haben. Da musste sie selber antworten: Das liegt eigentlich nicht in meinem Fachbereich, aber soweit ich die Sache richtig verstehe, ist eine Festnahme nicht die Norm.
Was wird denn dann hier gespielt?, fragte Charlie. Diese Leute sind aus einem Gefangenenlager geflohen, um hierher zu kommen. Die Männer, na ja, okay, die werden separat in einem Gefängnis untergebracht, aber die Frauen und die Kinder mit richtigen Kriminellen zusammen einzusperren! Das ist unmenschlich! Wie schnell könnt ihr die da rauskriegen?
Gigovaz hielt sich immer zurück, wenn er Zeitspannen angeben sollte. Sie müssen schon Geduld haben, hatte er seinen Klienten vor einer Woche gesagt. Und zu Priya: Meine Fälle sind gewöhnlich in ein paar Monaten abgewickelt. Aber wenn so viele Leute auf einmal kommen? Und wenn der politische Wille gegen sie ist?
Wie lange dann?, wollte Priya wissen.
Jahre, räumte er ein. Es könnten Jahre werden. Woraufhin sie erleichtert spekulierte, dass er wohl nicht von ihr erwarten würde, bis zum Ende ihres Praktikums hier mitzumachen. Wenn ihre Klienten aus der Verwahrung entlassen werden, glaubte sie, würde auch sie wieder frei sein.
Jetzt sagte sie zu Charlie: Wenn diese Anhörungen heute zu unseren Gunsten ausgehen, könnten sie Ende nächster Woche raus sein.
Nicht zu früh jubeln, warf Gigovaz düster ein, faltete die Zeitung zusammen und schlug sich damit auf den Oberschenkel.
Priya verzog das Gesicht, noch ehe sie gewahr wurde, dass Charlie sie beobachtete. Es war typisch für Gigovaz, ihr erst das Reden zu überlassen und sie dann bloßzustellen, wenn sie sich vertan hatte.
Das Verfahren verläuft typischerweise so, erklärte er Charlie und kehrte Priya den Rücken zu: Sagen wir mal, Sie kommen als Flüchtling am Flughafen an. Als Erstes brauchen Sie eine Genehmigung, Asyl zu beantragen. Das nennt man Zulassungsfähigkeit, und die wird gewöhnlich routinemäßig abgestempelt. Gewöhnlich. Wenn Sie kein bekannter Krimineller sind, oder nicht schon einmal abgeschoben wurden, dann entscheidet jemand an der Grenze – Einwanderungsbehörde oder Grenzschutz –, dass Sie Asyl beantragen können. Das dauert ein paar Stunden, in einigen Fällen ein paar Wochen. Während dieser Zeit wird Ihre Zulassungsfähigkeit überprüft und Sie sind, gewöhnlich, auf freiem Fuß.
Die richtige Hürde, sagte Gigovaz, kommt Monate später bei den Anhörungen durch die Flüchtlingskommission. Zwei oder drei Entscheider quetschen die Antragsteller nach jedem, auch dem geringsten Detail ihrer Story aus. Dieses Gremium trifft die letzte Entscheidung.
Über den unbefristeten Aufenthaltstitel, sagte Charlie und nickte verständnisvoll.
Der unbefristete Aufenthaltstitel. Gigovaz streckte einen Arm nach oben und griff in die Luft. Der hängt da oben.
Bist du hier geboren?, fragte Charlie. Priya nickte und Charlie fuhr fort: Wir sind gekommen, als ich drei war. Als Einwanderer. Wir hatten Glück. Sie wandte sich Gigovaz zu: Sie sagen immer gewöhnlich.
Gigovaz zog sich am Ohr und ließ langsam die Luft ab. Mehr als fünfhundert Antragsteller, und die Regierung drängt auf Abschiebung. Wir müssen Argumente für die Zulassungsfähigkeit beibringen, was nicht die Norm ist, nein gar nicht. Und bei so vielen Fällen, wie wir sie heute durchboxen müssen, um die Leute allererst aus der Sicherungshaft zu holen, wird es Monate dauern, bis wir Termine für die Anhörungen zur Zulassungsfähigkeit bekommen.
Ihr erstes Ziel ist es, die Leute aus dem Knast herauszubekommen?, fragte Charlie.
Nicht unbedingt, sagte Gigovaz. Die können immer noch in Sicherungshaft sein, wenn die Zulassungsanhörungen anfangen. Das ist schon passiert.
Sondierung der Häftlinge, Überprüfung der jeweiligen Zulassungsfähigkeit, dann die eigentlichen Zulassungsanhörungen bei der Flüchtlingskommission: eine lange Reihe von Entscheidungen, und jede davon mit dem Potenzial für Absage und Abschiebung. Priya hatte Charlies Worte noch im Ohr: Wir hatten Glück. In einem Anflug von Hoffnungslosigkeit, und für den Bruchteil einer Sekunde, tat auch Gigovaz ihr leid, dass es sein Beruf war, durch diesen juristischen Morast waten zu müssen.
Gigovaz deutete auf die Zeitung, die er gelesen hatte – Priya sah in der Überschrift die Wörter illegal und Schiff – und sagte: Achten Sie darauf, was die Presse daraus macht. Souveränität? Blair hat den Grenzschutz instruiert, uns im Namen der öffentlichen Sicherheit mit allen möglichen Scheinargumenten zu traktieren.
Gigovaz hatte Priya beauftragt, die relevanten Artikel aus den Zeitungen auszuschneiden. Sie hasste diese Arbeit. Reporter, die keine Ahnung von den Gesetzen hatten, und schlimmer noch das Online-Getwitter. Allein beim Anblick von Fred Blair – wie er die Augen verdrehte und finster stierte, wenn er verkündete: Irgendwo muss die Grenze gezogen werden – ballte sie die Faust. Zwanzig Jahre Zollhausinspektor, und jetzt hält er sich für den obersten Hüter der öffentlichen Sicherheit.
Aber die Einwanderungsbehörde ist ein unabhängiges Amt. Es ist nicht die Regierung. Es handelt im Rahmen des Gesetzes, und seine Beamten treffen die Entscheidungen. Priya konnte Gigovaz’ Zynismus nicht teilen.
Diese ganze Angelegenheit ist zur Nebenvorstellung geworden, sagte Gigovaz. Blair zieht das alles so lange wie nur möglich hinaus.
Wissen die denn nicht, sagte Charlie, wie traumatisch Gefängnishaft ist? Posttraumatisches Belastungssyndrom, Depression …
Wir werden die psychologischen Gutachten als mildernde Faktoren beibringen, sagte Gigovaz. Aber ob Mitgefühl beim Urteil der Entscheider eine Rolle spielt, das bleibt dahingestellt.
Wo werden sie nach ihrer Entlassung unterkommen?, fragte Priya.
Einige haben Verwandte hier, meistens in Toronto, sagte Charlie, die immer noch finster dreinschaute. Wir versuchen, sie in Pensionen unterzubringen. Und es gibt Leute, die ihnen separate Zimmer in ihren Kellerwohnungen zur Verfügung stellen. Außerdem haben Flüchtlinge auch Anspruch auf finanzielle Unterstützung, aber die reicht nicht aus, um einigermaßen durchzukommen, nicht in Vancouver.
Priya fühlte sich von all dem zutiefst beschämt, von dem guten Willen und der Solidarität so vieler Menschen, die bereit waren, Fremde aufzunehmen, und das aus einem Gefühl der, was … ethnischen Zusammengehörigkeit? … der Diaspora?
Charlie zeigte auf die Drehtür. Da kommen sie.
Voran die beiden Frauen in identischem Outfit und nummerierten Sportschuhen. Priya hatte sie vor einer Woche im Gefängnis in Burnaby gesehen.
Savitri Kumuran war einunddreißig Jahre alt, eine Witwe und Mutter von zwei toten Kindern in Sri Lanka und einem sechsjährigen Sohn, der bei ihr war. Bei ihrem Interview mit Gigovaz war sie ruhig geblieben, hatte klare Antworten gegeben. Sie und ihr Mann hatten einen Juwelierladen in Sri Lanka. Zu Hause, sagte sie verträumt. Damals zu Hause.
Aber danach hatte Gigovaz Priya erklärt: Diese Frau ist depressiv. Wenn wir sie nicht bald hier herausbekommen, ist sie am Ende.
Heute war ihr dichtes Haar im Nacken zu einem langen Zopf zusammengeflochten, der in schweren Wellen den Rücken herunterhing. Ihre Haut war für eine Tamilin überraschend hell, und mit den hohen Wangenknochen und dem Grübchen im Kinn war sie eine natürliche Schönheit. Sie hielt eine Hand ausgebreitet am unteren Rand des Halses. Priya betrachtete ihren leeren, gequälten Gesichtsausdruck und dachte: Diese Frau ist zwei Jahre älter als ich.
Die zweite Frau war Hema Sokolingham. Sie war achtunddreißig und ebenfalls Witwe. Nervös und verängstigt hatte sie während ihrer ersten Befragung Gigovaz’ Augen gemieden und ihre Antworten an Priya und Charlie gerichtet. Sie war mit ihren zwei Töchtern nach Kanada gekommen. Diese beiden, wie auch die anderen Minderjährigen, blieben von den Befragungen und Anhörungen verschont.
Wie steht es mit Hema?, hatte Priya gefragt. Wie sind ihre Aussichten?
Aber Gigovaz sagte nur achselzuckend: Da ist etwas, was sie uns nicht sagen will.
Charlie beugte sich vor und flüsterte: Siehst du das? Die sind angekettet wie Sklaven.
Sind die Fesseln nötig?, fragte Gigovaz den Wachtposten.
Als ihr die Handschellen abgenommen wurden, massierte Hema sich die Gelenke. Thank you, sagte sie sehr leise auf Englisch. Ihr Haar hing in einem langen Zopf den Rücken herunter; sie hatte schiefe Zähne.
Charlie strich Hema über den Arm und fragte auf Tamil: Nalamaa? Wie geht’s?
Dann kamen die Männer: Prasad, Mahindan und Ranga, alle – auf Gigovaz’ Geheiß – glattrasiert. Ein dunkelhäutiger Mann mit Bart, der um Asyl bettelt? Nicht unter meiner Regie.
Das Aussehen der fünf Flüchtlinge hatte sich seit der ersten Begegnung vor einer Woche merklich verändert. Sie erschienen frisch und ausgeruht, die Augen waren klar, die Fingernägel geschnitten und sauber. Priya fragte sich, ob das richtig war. Würden die Entscheider diese Flüchtlinge nicht mit mehr Mitgefühl behandeln, wenn sie sie so sähen, wie sie selber sie gesehen hatte, als sie dreckig und zerschlagen in Esquimalt vom Schiff geführt wurden?
Prasad schüttelte ihnen kräftig die Hand und sprach sie auf Englisch an. Good morning, good morning. Very nice to see you.
Die anderen blieben etwas weiter zurück, reckten die Hälse nach der gigantisch hohen Decke und schlurften mit den Schuhsohlen über die Fliesen, als wollten sie deren Qualität testen.
Prasad war der Einzige, der von dem umgebenden Luxus unbeeindruckt blieb. Schließlich hatte er als studierter Journalist in Colombo gearbeitet und sprach fließend Englisch. Gigovaz hatte gleich zu Priya gesagt: Das ist unser bester Kandidat. Unser Mustermigrant.


