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Um sie herum liefen Büroarbeiter, vertieft in ihre Smartphones und Zeitungen. Wie eine Reisegruppe, schoss es Priya durch den Kopf, und Gigovaz ist der Reiseleiter. Prasad bombardierte sie mit Fragen. Wie lange hatte Kanada von dem Schiff gewusst? Warum waren sie ihnen nicht entgegengekommen, warum hatten sie ihnen nicht schneller Hilfe geschickt?
Mahindan und Savitri lösten sich aus der Gruppe und steckten ihre Köpfe zusammen. Mahindan war offensichtlich erregt und bekam seine zitternde Hand nicht unter Kontrolle. Savitri zog nur die Schultern hoch und wandte ratlos die Handflächen nach oben. Was ist mit den beiden?, dachte Priya. Aber sie wusste ja, dass Savitri sich um Mahindans Sohn kümmern sollte. Hatte man inzwischen einen Besuch arrangiert? Priya empfand ein leises Schuldgefühl, hatte sie diese Sache doch nicht weiterverfolgt. Im gleichen Atemzug aber kam auch die Irritation: Sie war nicht als Sozialarbeiterin hier.
Ranga humpelte hinüber, klopfte Savitri leicht auf die Schulter und massierte, während er zu ihr sprach, sein Bein. Er war in einem Dorf in Mannar Obst- und Gemüsehändler gewesen. Eines Nachts war sein Gemüsestand beschossen und total vernichtet worden. Als ich am Morgen dahin kam, war alles weg, hatte er ihnen erzählt, dem Erdboden gleich gemacht. Was konnte ich da tun? Ich war am Ende.
Der will wissen, was Mr. Gigovaz neulich gesagt hat, sagte Charlie. Über ihre Ausweise.
Wir geben ihre Namen nicht an die Regierung von Sri Lanka weiter, sagte Priya schnell. Wenn Sie noch Familienangehörige in Sri Lanka haben, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, dass denen etwas passiert.
Ranga wollte noch etwas sagen, aber Gigovaz sah auf seine Uhr und verkündete, es sei Zeit hineinzugehen. Mr. Mahindan, Sie sind der Erste. Ms. Jones wird den anderen hier draußen Gesellschaft leisten.
Wie erwartet, war der Anhörungsraum ein trüber, fensterloser Kasten mit quadratischen, in die Styropor-Deckenfliesen eingelegten Leuchtkörpern. Vier lange Tische waren zu einem Quadrat zusammengestellt, an jedem Sitzplatz war ein Mikrofon angebracht. Der Raum hatte etwas unterirdisch Beklemmendes an sich, wie eine enge Kellerwohnung.
Als sie eintraten, verdrehte sich eine Herde Reporter die Köpfe nach ihnen. Die Besetzung war komplett: die Reporter, eine Stenotypistin, ein Schnellzeichner und ein weißblonder Mann mit dünnem Schnurrbart, den Gigovaz als den Dolmetscher vorstellte. Er saß neben Mahindan und hatte zwei dicke Wörterbücher, einen Notizblock und einen Schreibstift vor sich liegen, alles im rechten Winkel zur Tischkante.
Auf ihren Gegenpart weisend, sagte Gigovaz: Amarjit Singh von der Grenzschutzagentur.
Der Grenzschutz – die für die Bewachung der äußeren Landesgrenzen verantwortliche Instanz, die offiziellen Rausschmeißer. Priya hatte sich am Abend zuvor hingesetzt und sich die Namen aller Beteiligten eingeprägt.
Eine Uhr tickte träge an der Wand. Sie warteten auf den Entscheider. Es gab acht Entscheider, und wen von ihnen ein Antragsteller an einem gegebenen Tag zugeordnet bekam, entschied das Los.
Wir haben eine Neue, sagte Gigovaz, Grace Nakamura.
Ist das gut oder schlecht?, fragte Priya.
Er runzelte die Stirn und knurrte: Von der Regierung eingesetzt, handverlesen von Blair.
Die Reporter hatten ihre Smartphones in einer Box neben dem Wachtposten ablegen müssen. Ihre Augen hielten sie fixiert auf Mahindan und kritzelten gelegentlich etwas in ihre Notizblöcke. Die Namen der Antragsteller durften nicht veröffentlicht werden. Die Reporter mussten ihre Beiträge mit größter Umsicht formulieren. In der von der Haftanstalt bereitgestellten Kleidung, einem grünen Pullover und einer grauen Jogginghose, saß der Migrant mit auf dem Schoß geballter Faust am Anhörungstisch.
Am anderen Ende des Raumes ging eine Tür auf, und die erwartete Person trat ein. Sie trug einen schneidigen Hosenanzug und hatte ihr Haar straff zu einem Knoten gesteckt. Ein Wachtposten folgte ihr, schloss die Tür und stellte sich, die Hände in den Hosentaschen, davor auf.
Nakamura hatte den besten Platz im Haus – einen Sessel mit hoher Rückenlehne und gepolsterten Armlehnen. Sie war klein von Statur, aber sie beherrschte den Raum mit der Präsenz einer weit größeren Person. Auch ohne erhöhten Sitz, ohne Robe oder Hammer, strahlte sie richterliche Strenge aus. Aber sie ist keine Richterin, und das ist kein Gericht, sagte sich Priya. Dies ist eine Anhörung der Verwaltung, allerdings in der zwielichtigen Grauzone zwischen Bürokratie und Gesetz.
Nakamura sprach in ihr Mikrofon: Die Sitzung wurde einberufen zur Haftüberprüfung für Mr. … Sie schaute in ihre Papiere und kämpfte sich konzentriert, mit leicht gerunzelter Stirn, durch den Namen, Mr. Poom…am…ba…lam Ma…hindan. Zuerst aber die Aufnahme der Anwesenheit, sagte sie dann.
Der Dolmetscher hieß Nigel Blacker. Nakamura bat ihn und Mahindan zu bestätigen, dass sie sich verständigen konnten, worauf die beiden ein paar Worte wechselten. Priya fiel auf, wie eigenartig es doch war, so ein perfektes Tamil ungezwungen und natürlich aus dem Mund eines blonden Mannes zu hören. Was er und Mahindan sich sagten, verstand sie nicht.
Als sie noch bei Elliot, McFadden, and Lo war, hatte Joyce Lau die Fusion von Henley und SunEx abgewickelt. Anderthalb Wochen davor hatte Priya die Checkliste für die erforderlichen Genehmigungen abgehakt. Warum war sie jetzt hier? Charlie hatte ein viel größeres Recht darauf, in diesem Raum zu sitzen als sie.
Nakamura sagte: Wir beginnen mit Ms. Singh von der kanadischen Grenzschutzagentur.
Singh lehnte sich nach vorn und drückte auf den roten Knopf ihres Mikrofons. Der Minister für öffentliche Sicherheit ist der Meinung, dass die Identität des Antragstellers nicht etabliert ist.
Gigovaz wartete, bis Blacker das übersetzt hatte, und sagte dann: Mein Klient hat umfassenden Nachweis seiner Identität vorgelegt …
Singh schnitt ihm das Wort ab und richtete sich an Nakamura: Außerdem befürchtet der Minister, dass dieser Migrant versuchen wird, das ordentliche Aufnahmeverfahren durch Untertauchen zu umgehen.
Aus welchem Grund?, fragte Gigovaz.
Es gibt Indizien dafür, dass das Schiff Teil einer Schlepperaktion war. Wenn das der Fall ist, läuft jeder von Bord Gefahr, dass er gezwungen wird, sich weiteren Anhörungen zu entziehen.
Mahindan verfolgte mit angespannt hin und her schnellenden Augen den Wortwechsel zwischen Singh und Gigovaz. Dann hörte er aufmerksam der Übersetzung von Blacker zu. Dabei wechselte seine Miene abrupt zwischen erschrocken, gespannt, hoffnungsvoll und hilflos.
Priya hätte sich gern zu ihm gebeugt und ihn beruhigend an den Arm gefasst, wie Charlie es mit Hema getan hatte, aber sie wagte es nicht. Stattdessen beobachtete sie fasziniert den Dolmetscher. Blacker nahm die Haltung der Person an, die gerade gesprochen hatte, und gab dann seine Übersetzung im Ton und mit der Gestik dieser Person wieder. Was war seine Story? Was steckte hinter diesem Wikinger mit seinem akzentfreien Tamil, seinen perfekt vibrierenden R’s?
Gigovaz sagte: Ich fordere den Minister auf, Beweise zu erbringen. Ohne diese bleibt es ein Gerücht.
Uns sind an Bord aufgenommene Fotos zugekommen, sagte Singh. Daraus ist ersichtlich, dass an dem Schiff extensive Renovierungen vorgenommen wurden. Es war zum Beispiel nachgerüstet mit Sanitäranlagen für eine lange Seereise. Das alles legt nahe, dass es sich um eine breit angelegte kriminelle Unternehmung handelte.
Priya hatte die Fotos im Beweismaterial gesehen. Sie hatte die verrostete Toilette gesehen: einen etwas erhöht montierten Aluminiumtrichter mit beidseits angebrachter Trittfläche – ein primitives Gestell, umrandet von orangebraunem Rost und notdürftig in ein winziges Gehäuse eingebaut.
Nakamura erhob ihre Stimme. Fünfhundert Menschen auf einem nachgerüsteten Frachtschiff. Wer hat das alles organisiert, wenn nicht ein Ring von Schmugglern?
Mit Verlaub, sagte Gigovaz, das sind alles nur Indizien. Wir müssen uns an die Regel der primären Beweismittel halten.
Nakamura runzelte ärgerlich die Stirn und Priya presste die Finger zusammen. Was Gigovaz gesagt hatte, war richtig. Singh hätte keine Mutmaßungen in den Prozess einbringen dürfen. Dieser ganzen Sitzung haftete etwas Informelles und Ungehöriges an.
Gigovaz räusperte sich und machte einen zweiten Anlauf. Anstatt herumzurätseln, was sein könnte, sollten wir uns mit dem konkret vorliegenden Beweis befassen. Mr. Mahindan hat seine Geburtsurkunde vorgelegt, seinen Personalausweis aus Sri Lanka, Schulzeugnisse, Heiratsurkunde und auch die Sterbeurkunde seiner verstorbenen Ehefrau. Er kooperiert bereitwillig beim Nachweis seiner Identität.
Mit wiedergewonnener Fassung wandte Nakamura sich Singh zu. Sind die Dokumente der Migranten verifiziert worden?
Das juristische Hin und Her kam unendlich langsam voran. Jeder sprach immer nur ein oder zwei Sätze, um auf die Übersetzung zu warten. Während Blacker übersetzte, wurde rundum geflüstert. Die Reporter kritzelten eifrig in ihre Notizblöcke. Wie sie von einer Seite des Raumes her geschlossen den Prozess verfolgten, kamen sie Priya vor wie eine Jury.
Die Luft im Raum war trocken, im Hintergrund summte die Klimaanlage. Priya sah, wie Mahindan schluckte. Er machte, ohne zu sprechen, den Mund auf und zu. Sie schrieb etwas auf ihren Block und schob ihn Gigovaz zu. H2O? Gigovaz schrieb zurück: Wasserspender, Lobby.
Wie läuft’s?, fragte Charlie, als sie Priya herauskommen sah.
Sie und die anderen hatten Sitzplätze in einem kleinen Warteraum gefunden und unterhielten sich vertraulich auf Tamil. Priya war überrascht, sie so entspannt, fast fröhlich zu sehen. In der Nähe stand ein gelangweilter Gefängniswärter. Ich weiß nicht, sagte Priya. Langsam.
Wenn sie die Verhandlungen opponierender Anwälte verfolgte, hatte Priya ein gutes Gespür dafür, wer die Oberhand hatte. Aber für eine quasi-gerichtliche Sitzung wie diese hier fehlte ihr das Barometer, um den Stand der Dinge abzulesen. Ich kenne mich in Fusionen und Aufkäufen aus, dachte sie. Aber von dem hier verstehe ich überhaupt nichts.
Es war kurz vor elf. Joyce führt jetzt ihre CEOs in den Konferenzraum, dachte sie. Dort standen Glaskrüge mit kaltem Wasser, Kaffee wurde hereingebracht und serviert. Priya wäre jetzt auch dort, wenn sie damals bei dieser blöden Sitzung Gigovaz nicht so angestarrt hätte. Sie würde jetzt die Broschüren austeilen, dann mit überschlagenen Beinen auf ihrer Stuhlkante sitzen und sich Notizen machen, während Joyce den Vorsitz über die Vermählung der beiden größten pharmazeutischen Konzerne des Landes führte.
Sitzen viele Richter da drin?, wollte Prasad wissen.
Nur ein Entscheider, sagte Priya. Das ist kein richtiger Gerichtssaal, die sitzen alle nur in einer Art von Viereck. Nicht ganz so einschüchternd.
Charlie gab das Gehörte weiter an ihre Schützlinge, während Priya sich über den Wasserspender beugte, zwei Pappbecher füllte und diese im Vorbeigehen hochhob. Ich bringe Wasser rein, sagte sie. Es ist richtig trocken da drin.
Als sie wieder in den Raum kam, sprach Singh gerade: Wir untersuchen hunderte von Fällen. Natürlich geht da die Identitätsüberprüfung langsamer voran als gewöhnlich.
Priya stellte die beiden Becher vor Mahindan ab. Sie zog ihren Stuhl so lautlos wie möglich zurück.
Mr. Mahindan sitzt unter Freiheitsentzug im Gefängnis, sagte Gigovaz; sein sechsjähriger Sohn lebt bei ihm völlig fremden Frauen. Wir dürfen die psychologischen Folgen der Inhaftierung und der Trennung nicht außer Acht lassen, besonders im Falle des Kindes.
Der Antragsteller ist Staatsangehöriger eines Landes, wo in den letzten drei Jahrzehnten bekannte Terroristen Bürgerkriege angezettelt haben, sagte Singh. Der Minister drängt darauf, dass wir mit aller gebotenen Sorgfalt und Umsicht vorgehen, um die Souveränität unserer Nation zu schützen.
Souveränität. Wieder dieses Wort. In hohen Tönen, wie aus einer Hundepfeife.
Nakamura erhob eine Hand. Sehr gut, meine Entscheidung ist getroffen. Mr. Gigovaz, ich halte Ihre Bedenken für voreilig. Dieser Mann und seine Gruppe sind erst letzte Woche hier angekommen. Verzögerungen sind zu erwarten. Der Migrant wird in der Haft bleiben, wir werden seinen Fall nächste Woche noch einmal überprüfen. Bringen Sie bitte den nächsten Antragsteller herein.
RAMAS LIED
November 2002
Chithra und Ruksala legten ihren Ultraschalltest auf denselben Termin, so dass sie sich alle den Vormittag freinehmen und zusammen bei Mahindan und Chithra Mittag essen konnten: übrig gebliebene String Hoppers mit Eiercurry und extra scharfem Pol Sambol. Sie aßen mit den Fingern, und der Deckenventilator blies ihnen das Haar durcheinander.
Die LTTE hat jetzt genug von der Regierung, sagte Ruksala und fischte ein Ei aus dem Currytopf.
Der Waffenstillstand war aufgehoben worden. Die Tigers hatten die Verhandlungen abgebrochen, und selbst Ruksala glaubte, dass das nun endgültig war. Ihr Cousin Shangham hatte seine Uniform wieder angezogen und war kampfbereit zurückgegangen, aber Prabhakaran, der Führer der LTTE, sagte, dass das nicht genug sei. Sie brauchten mehr Kämpfer. Jede patriotisch gesonnene Familie müsse wenigstens einen schicken.
Da braut sich was zusammen, sagte Rama.
Was?, fragte Chithra mit hochgehaltener Sambol-Schale.
Aber Mahindan schüttelte kaum merklich den Kopf, und Rama gab keine Antwort. Stattdessen machte er sich Luft über die Vertretungslehrer in der Schule. Unausgebildete Kasper, die kaum addieren können und sich mühselig durch eine Algebrastunde schlagen, sagte Rama und pochte mit den zusammengefügten Fingerspitzen auf seinen leeren Teller.
Ruksala beugte sich zu ihm und warf einen String Hopper – ein Bällchen aus Reismehlnudeln – auf seinen Teller. Was können die Tigers schon mit Schulen anfangen, sagte sie. Je eher die Jungs und Mädels da raus sind, desto eher können sie mitkämpfen. Eine Sünde, nicht?
Die Hälfte der Unterrichtsmaterialien für Physik und Chemie ist kaputt und nicht mehr zu reparieren, sagte Rama.
Als Vergeltungsmaßnahme für den Rückzug der Tigers vom Verhandlungstisch hatte die Regierung den LTTE-kontrollierten Gebieten Embargos auferlegt. In den Häfen wurden die Schiffe festgehalten, an den Straßenkontrollpunkten die Fahrzeuge, um jede Kiste und jeden Kofferraum zu durchsuchen. Das führte dazu, dass in diesen Regionen kaum noch etwas zu bekommen war, sei es Milch oder eine Verlängerungsschnur.
Ich kriege für die Werkstatt fast gar nichts mehr, sagte Mahindan und wandte die leicht geballte linke Hand nach oben. Bremsflüssigkeit, Motorenöl … fast unmöglich!
Allerdings war das Dieselembargo von Vorteil für Mahindan. Der Preis hatte sich über Nacht verdoppelt, und alle wollten ihre Motoren auf Kerosin umbauen lassen. Die Fahrer bliesen dann mit einem Rohr ein paar Tropfen Benzin hinein, und wenn die Motoren angesprungen waren, liefen sie auch mit dem billigeren Treibstoff. Das war eine übelriechende Arbeit für Mahindan, aber sie brauchten das Geld, ganz besonders jetzt, wo das Baby bald kam.
Und seht doch mal, was in den Krankenhäusern los ist, sagte Ruksala finster. Ich werde mir wahrscheinlich eine Hebamme nach Hause holen.
Chithra schlug sich an die Stirn. Bloß das nicht! Denk doch mal nach, was da alles passieren kann.
Mahindan dachte für sich, dass das gar keine schlechte Idee sei. Ihr Krankenhausbesuch am Vormittag war nicht sehr ermutigend gewesen. Patienten lagen auf Tragen in den Korridoren, die Entbindungsstation war zur Hälfte mit Plastikplanken abgesperrt. Die Renovierungen, die von der UNICEF finanziert wurden und während des Waffenstillstands begonnen hatten, waren auf ungewisse Zeit eingestellt worden. Das Embargo hatte den Preis für einen Sack Zement von 600 auf 6 000 Rupien hochgetrieben.
Sie hatten zwei Stunden warten müssen, und dann war kein Arzt gekommen, sondern eine Krankenschwester in Ausbildung. Letzten Monat sind gleich zwei Ärzte gegangen, erklärte sie ihnen, während sie mit dem Zeigefinger die Gewichte an der Personenwaage zurechtschob. Ein großer Teil des Krankenhauspersonals – allen voran die Ärzte, die ihr Geld von der Regierung bekamen – war nach Trincomalee und Batticaloa abgewandert: in mehrheitlich tamilische Regionen, in denen die LTTE keinen festen Fuß gefasst hatte und die deshalb auch nicht von den MiGs der Armee überflogen wurden.
Selbst als sie es endlich in den Untersuchungsraum geschafft hatten, mussten sie warten, bis das Ultraschallgerät gebracht wurde. Chithra saß zitternd vor Kälte in ihrem Papierumhang, und Mahindan hatte die halbleeren Medikamentenschränke hinter ihr gesehen.
Wie viele Frauen haben jetzt schon ihr Baby zu Hause bekommen?, fragte Ruksala, riss einen String Hopper auf und tränkte ihn mit Currysoße. Ich denke ernsthaft darüber nach.
Mahindan zog die Augenbrauen hoch und blickte zu Rama, der nur die Achseln zuckte. Er sagte: Zwanzig Ärzte für eine Bevölkerung von wie vielen? Hundertfünfzigtausend? Das reicht nicht.
Man kann’s ihnen nicht verübeln, dass sie weggehen, sagte Chithra und fischte ein paar Kardamomkapseln aus ihrem Curry. Manchmal will ich auch hier weg.
Wohin?, fragte Ruksala, ehe sie sich den nächsten Happen in den Mund steckte.
Keine Ahnung, sagte Chithra. Sie strich sich abwesend mit der freien Hand über den Bauch. Kaum drei Monate schwanger, und diese Geste war ihr schon zur Gewohnheit geworden, wenn sie über schwierige Dinge sprach. Mit dem Baby … Ich weiß nicht … Wenn es nur irgendwo Sicherheit gäbe.
Indien?, sagte Rama. Da bleibst du nur in so einem Lager hängen.
Mahindan drückte Chithras Schulter. Sie hatte angefangen, vom Weggehen zu reden, als sie erfuhren, dass sie schwanger war.
Es macht keinen Sinn, irgendwohin zu gehen, sagte Mahindan. Wir haben hier unser Haus und unsere Arbeit und unsere Eltern.
Wir nehmen unsere Eltern mit, sagte Chithra. Sie legte ihre Hand auf den Tellerrand und lehnte sich zurück.
Mahindan streckte die Finger nach einem kleinen Happen String Hopper und Curry aus. Dann geht es uns wie allen Vertriebenen und wir ziehen ohne ein festes Zuhause hierhin und dorthin. Willst du das deinem Baby antun?
Trinco und Batti. Das sind noch tamilische Gebiete, sagte Chithra.
Ruksala nahm den Deckel vom Wasserkrug, hielt den Krug am schmalen Hals und füllte ihre Metallbecher mit Wasser auf. Embargos und Bombardierungen, sagte sie. Das haben wir alles schon einmal überlebt.
Mit dem Unterschied, dass jetzt Kinder dazukommen, sagte Chithra. Als das Feuer eingestellt wurde, habe ich mir was vorgemacht und geglaubt … aber jetzt …
Jetzt sind wir wie unsere Eltern geworden, sagte Ruksala. Und in zwanzig Jahren, wer weiß? Unsere Kinder werden wahrscheinlich genau dieselben Gespräche führen.
Das darfst du nicht so sagen! Chithra schlug auf den Tisch. Mit bebenden Lippen legte sie eine Hand über die Augen.
Die Hormone, dachte Mahindan. Die Schwangerschaft hatte Chithra, die sonst immer so stark war, reizbar und weinerlich gemacht.
So schlimm ist das ja gar nicht, sagte Rama beruhigend. Nur eine Bombe, und niemand wurde verletzt.
Wir haben uns daran gewöhnt, nicht?, fügte Mahindan hinzu und strich Chithra über den Rücken. Solange unsere Region in den Händen der Tigers bleibt, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.
Aiyo, tut mir leid. Ruksala reichte Chithra über den Tisch die Hand. Chithra schniefte hörbar und wehrte Ruksalas Hand ab. Mrs. Ramamoorthy im Büro sagt, dass Männer rekrutiert werden.
Bauarbeiter, erklärte Mahindan, arbeitslose Kerle, die nichts Besseres zu tun haben.
Mahindan ärgerte sich über Chithras Chefin. Diese Frau stopfte ihr den Kopf mit unnötigen Ängsten voll. Während der ganzen Besatzungszeit, als die singhalesischen Soldaten die Straßen patrouillierten, war Chithra erhobenen Hauptes und mit ihrem bis zu den Hüften schaukelnden Zopf an ihren anzüglichen Blicken vorbei gegangen. Mahindan war jedes Mal erschrocken, wenn sie ihm erzählte, was ihr passiert war. Wie sie zum Beispiel einem Soldaten den Marsch geblasen hatte, als er einem alten Mann auf den Leib rücken wollte. Chithra sagte immer: Ich kann nicht in Angst leben.
Jetzt gab er ihr ihre Worte zurück. Angst bringt nichts, Chithra.
Besser hier bleiben als im Osten leben, fügte Ruksala hinzu. Unter der LTTE sind wir sicher, das muss man schon sagen. In Kilinochchi kann man sich frei und ohne Furcht bewegen, auch allein in der Dunkelheit. Aber im Osten, unter der Regierung? Frauen werden dort im eigenen Haus attackiert.
Ich weiß nicht. Chithras Augen wanderten zu einem Gecko, der mit dem Kopf nach unten an der Decke hing. Sie schob ihren Stuhl zurück, ohne die Hand zu rühren, die flach und fest auf ihrem leeren Teller lag.
Mahindan wusste, dass sie in Gedanken bei ihrem Termin im Krankenhaus war: als die Schwester endlich das Ultraschallgerät ins Zimmer brachte und der Schalter nicht anging, weil kein Diesel im Generator war.
Diese Embargos bringen uns noch um, sagte Chithra.
Sie standen vom Tisch auf und gingen hinters Haus, um sich an der Pumpe die Hände zu waschen und den Mund auszuspülen.
Wir haben schon mal mit Embargos gelebt, sagte Mahindan. Wir werden sie jetzt auch überleben. Er schüttelte das Wasser von den Händen und blinzelte in die Sonne.
Sie gingen wieder hinein. Apropos Embargos – eine komische Geschichte, sagte Rama und schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben. Vorige Woche bin ich auf dem Rückweg von Anuradhapura beinah auf der singhalesischen Seite steckengeblieben.
Bewegungsfreiheit war auch etwas, das sie seit dem Ende des Waffenstillstands verloren hatten. Die je von der Regierung und von der LTTE kontrollierten Gebiete waren jetzt durch Stacheldraht und einen meilenbreiten Streifen Niemandsland voneinander abgetrennt. Wer von der einen Seite auf die andere kommen wollte, musste die Kontrollposten der Armee und der Tigers passieren.
Und ob ihr’s glaubt oder nicht, sagte Rama, um sechs machen die Typen alles dicht und fahren für die Nacht nach Hause. Auf der A 9 musste ich Tempo zulegen und habe die ganze Strecke lang geschwitzt. Und nicht nur die Zeit lief mir aus, auch das Benzin. Er unterstrich das mit seitlicher Kopfbewegung und erzählte weiter: Bin gerade noch am Schlagbaum angekommen, und die Soldaten mussten sich natürlich das Motorrad anschauen, ob ich nicht irgendwas Verbotenes einschmuggeln wollte.
Chithra schnaufte.
Der Kerl hat mich schief angeglotzt und sich die Batterien aus meiner Taschenlampe rausgenommen.
Mahindan verschluckte sich an einem Stückchen Toffee. Nein, das gibt’s doch nicht!
Rama äffte den Soldaten mit drohendem Zeigefingerfinger nach: Die wollen wir doch nicht den Rebellen schenken.
Was für ein Unsinn, sagte Ruksala. Die Tigers beziehen ihre Munition und Raketenwerfer aus Nordkorea, trotz diesem sinnlosen Embargo. Und diese Dussel regen sich auf wegen ein paar AA-Batterien.
Rama lachte vor sich hin. Wenigstens hat der Typ halbwegs Tamil gesprochen. Das erste Mal, dass mir ein Soldat begegnet ist, der es wenigstens versucht hat.
Mahindan schaute auf die Uhr und sagte: Ah! Gehen wir zum Tempel?
Mahindan und Rama hatten gerade noch Zeit für eine Puja, ehe sie zur Arbeit zurückmussten. Die beiden Frauen, die sich den ganzen Tag freigenommen hatten, sagten, dass sie zu Hause bleiben und ein Nickerchen machen wollten. Danach wollten sie Tee trinken, alte Liebesromane verschlingen und zum Spaß die unzüchtigen Passagen laut rezitieren. Mahindan hoffte, dass ein Nachmittag mit ihrer besten Freundin Chithra aufheitern würde.
Als sie den Weg herunterradelten, sagte Rama: Ich wollte es Ruksala nicht erzählen, aber auf unserer Seite ist mir auch etwas Komisches passiert. Der Mann hat sich meinen Personalausweis angesehen und mich über meinen Beruf ausgefragt. Welches Fach ich unterrichte? Wie viele Jahre schon? An welcher Schule?
Mahindans Gesicht verdüsterte sich. Er musste manchmal auch durch die Kontrollpunkte, wenn er, was nicht oft geschah, zu den Großhändlern im Süden fuhr. Machst du dir Sorgen?, fragte er.
Gewöhnlich fragen einen die Singhalesen aus. Unsere Leute winken mich einfach durch, wenn sie sehen, dass ich Tamile bin.


